Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948 Nr. 1

Spalte:

21-30

Autor/Hrsg.:

Behm, Johannes

Titel/Untertitel:

Der gegenwärtige Stand der Erforschung des Johannesevangeliums 1948

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5

Download Scan:

PDF

21

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 1

22

Der gegenwärtige Stand der Erforschung des Johannesevangeliums 1

Von Johannes Behm, Berlin

I.

Neue Papyrusfunde lassen uns die Abfassungszeit des
Johannesevangeliums jetzt sicherer und genauer bestimmen
als zuvor. Da ist vor allem der Papyrusfetzen aus der John
Rylands Library in Manchester, $ 52, zu nennen, der Textbruchstücke
aus Job. 18 bietet (ed. Roberts, 1935). Dies
Papyrusblättchen wird von den Autoritäten der Papyrusforschung
in England und Deutschland bei vorsichtiger Beurteilung
des Schrifttypus auf spätestens 125 n. Chr. datiert
— mit Spielraum bis etwa zum Jahre 95 n. Chr. zurück. Es
ist die älteste neutestamentliche Handschrift, die bisher überhaupt
entdeckt worden ist. Bezeichnenderweise bietet sie ein
Stück aus der Passionsgeschichte. Der kleine Papyrus stammt
aus Mittelägypten. Bis dorthin ist also das Johannesevangelium
schon im ersten Viertel des 2. Jahrhunderts von seiner
Heimat, die bestimmt außerhalb Ägyptens lag, gedrungen. Das
Jahr 100 bezeichnet mit allergrößter Wahrscheinlichkeit den
terminus post quem non für die Zeit der Abfassung des
Johannesevangeliums.

So eindeutig lösbar wie das Problem der Zeit stellt sich
nun aber der Forschung kein anderes Problem der Entstehungsgeschichte
des Johannesevangeliums dar. Umstritten,
z. T. heiß umstritten sind die Fragen der Heimat, der Ursprache
, des literarischen Stils, der Komposition und Einheitlichkeit
, der schriftstellerischen Absicht und des ideellen
Zweckes des Evangeliums und der Person des Verfassers. Ich
deute nur in Stichworten den Stand der Probleme an. Heimat:
Kleinasien (wie noch durchweg die ältere deutsche Forschergeneration
bis S t r a t h m a n n und die Masse der englischen und amerikanischen
Gelehrten annimmt) oder Syrien (wie aus sprachlichen
und religionsgeschichtlichen Gründen Bauer, Bultmann
, Hirsch und manche jüngere Nachfolger meinen)?
Aber wo ist in Sprache und Inhalt des 4. Evangeliums das
Material, das einwandfrei speziell oder gar nur nach Syrien
wiese? Sprache: Ubersetzung einer aramäischen Urschrift
(Burney, Torrey, Schaeder, E. Seeberg, de Zwaan)
oder von Hause aus griechisch geschriebenes Werk eines
Palästinensers (Schlatter, Kittel, Stauffer) ? Stilkritik
und formgeschichtliche Analyse (zuletzt Bult mann, E.
Schweizer, Kundsin), wobei auch ein liturgisch-poetischer
Charakter der Reden behauptet (Raney: „Prosahymnen";
Stauffer: betont liturgische Stilgebung, Terminologie und
Bilderwelt) oder die Form des Dialogs hervorgehoben wird
(Goodspeed). Urteil über die literarische Gesamtleistung:
einerseits werden beträchtliche Mängel schriftstellerischen
Könnens festgestellt (Bauer), Unzulänglichkeit des unvollendeten
Entwurfs (Faure), Abgerissenheit der Darstellung
und stilistische Unbeholfenheit des Verfassers (Ed. Meyer),
greisenhafte Züge eines Altcrswerkes wie Versagen des Gedächtnisses
, Verlieren des Fadens oder umständliche Ausdrucksweise
(Albertz); andererseits findet man eine bemerkenswerte
Geschlossenheit des Aufbaues nach dem Gesetz
der Siebenheit (Lohmeyer, Hirsch, auch Rabeneck),
den Triumph höchster schriftstellerischer Kunst im Neuen
Testament voll dramatischer Kraft (Windisch, Hirsch,
St rathmann). Die Literarkritik am 4. Evangelium mit
Quellenscheidung und Umstellung von Abschnitten (s. noch
de Zwaan) blüht — quot capita tot sensus, kann man sagen.
Die letzten groß ausgeführten Theorien boten Hirsch und
Bultmann: Hirsch mit seiner Unterscheidung der „ursprünglichen
Gestalt" und der „kirchlichen Ausgabe" des
4. Evangeliums, von denen erstere, ein Evangelium ohne
Namen und Anspruch, nach einer durchgreifenden plan-

') Für den Festgruß an Walter Bauer zum 8. August 1947 hatte ich eine
kleine Studie zum Hirten des Hermas vorgesehen, bei der ungedruckte Aufzeichnungen
von A. Harnack verwertet werden sollten. Der Plan ließ sich aber
wegen zeitbedingter technischer Schwierigkeiten nicht ausführen. So greife ich
zurück auf einen Forschungsbericht zur johanneischen Frage, den ich unlängst
in einer ökumenischen Arbeitsgemeinschaft zu erstatten hatte. In ihm kommen
die Fragen der äußeren Kritik nur andeutungsweise zur Sprache. Das Augenmerk
ist vor allem auf Religion und Theologie des Johannesevangeliums gerichtet
. Und der gegenwärtige Stand der Forschung wird aus solchen Arbeiten
der letzten Jahrzehnte abgelesen, von denen ich meine, daß sie entscheidende,
noch heute fruchtbare und wirksame Erkenntnisse geliefert haben. Der Bericht
vermißt sich nicht, dem Jubilar Neues darzubieten auf einem Hauptfelde
seiner Lebensarbeit. Doch bezeugt er ihm vielleicht etwas von der Gemeinschaft
des Ringens um die Wahrheit, in der ihm bei dem Bemühen um
die johanneischen Probleme über allen Dissensus hinweg viele dankbar verbunden
sind.

mäßigen Bearbeitung durch einen Mann der nächsten Generation
als Evangelium des Lieblingsjüngers Johannes in den
kirchlichen Gebrauch eingeführt worden sei, und Bultmann,
der das Johannesevangelium im wesentlichen entstanden
denkt als erweiternde Bearbeitung zweier Quellen: einer erzählenden
Tradition (der orj/teta- Quelle) und der „Offenbarungsreden
", einer Redenquelle, die gnostische Gedanken
in christlichem Gewände verbreitete (zu dieser zweiten Quelle
gehört auch der Kern des Prologs, in poetischem Rhythmus
gehalten); außerdem erfordern nach Bultmann schwere Störungen
der ursprünglichen Folge und Fassung der Abschnitte
und eine Anzahl redaktioneller Glossen starke Eingriffe in den
überlieferten johanneischen Text, um das eigentliche Werk des
Evangelisten wiederherzustellen. Indessen mit der Fülle und
Schärfe der quellen- oder formkritischen Beobachtungen am
4. Evangelium ist auch die Skepsis gegenüber den Methoden,
die bei der Erforschung der synbptischenEvangelien mit Erfolg
angewandt werden, gewachsen. Man hat mit Recht darauf
hingewiesen, daß der johanneische Stoff wenig oder gar nicht
auf anonymes Sammelgut deutet, das sich traditions- und
gattungsgeschichtlich zergliedern ließe; daß keiner der am
Formalen haftenden Versuche, Quellen oder Einschübe aller
möglichen Art in dem überlieferten Bestände des Evangeliums
nachzuweisen, bis zu Bultmanns durchgeführter literar-
kritischer Theorie, der Prüfung auf historische Wahrscheinlichkeit
standhält. Aber auch bei den weit auseinandergehenden
Hypothesen, die wie Hirschs Annahme zweier
Ausgaben eine Grundschrift oder Urschicht und spätere Zusätze
oder Auflagerungen unterscheiden, wird verkannt, wie
einheitlich in Sprech- und Denkweise das Johannesevangelium
gehalten ist („monumental einheitlich" nennt Gaugier,
der Berner altkatholische Theologe, das Ganze des Johannesevangeliums
), und wie stark das ganze Buch auf Augenzeugenschaft
Anspruch macht. Der Prolog z. B. gehört offenbar (das
zeigt wiederum Kirsopp Lakes Introduction in kurzer treffender
Herausstellung der Problematik) auf Grund seiner Sprache
und religiösen Terminologie zum ursprünglichen Bestände des
Evangeliums, und dafür, daß es in der überlieferten Gestalt
eine Einheit bildet, spricht auch die Gleichmäßigkeit seines
Aufbaues nach den Regeln orientalischer Hymnendichtung.
Selbst Quellenkritiker wie Well hausen, Bousset und
Hirsch haben sich des Eindruckes nicht erwehren können,
daß der Geist der verschiedenen Stücke, aus denen das Evangelium
besteht, kein grundverschiedener, sondern wesentlich
der gleiche ist. Hat der Verf. wirklich übernommenes Material
verarbeitet, so hat er es mit seinem Stil und Geist selbständig
geprägt — darin werden E. Schweizer und Joach. Jeremias
recht behalten. Und was die Umstellungsversuche anlangt, mit
denen nach englischen und amerikanischen Vorgängern in weitestem
Umfange Bultmann, in engeren Grenzen auch Hirsch
Aporien im überlieferten Johannestext abhelfen möchten, so
gelingt es vielleicht in einzelnen Fällen, durch die Annahme
einer Blattvertauschung Schäden im Text zu heilen; viflfach
entsteht aber erst durch die Umstellung wirkliche Konfusion,
weil die auszutauschenden Blätter einander nach Raum und
Inhalt nicht entsprechen oder neue Störungen in Anlage und
Aufbau des Evangeliums hervorgerufen werden. — Ganz divergent
sind bis auf diesen Tag die Ansichten über den Verfasser
des 4. Evangliums. Gegenüber der bis zu Büchsei, Stauffer,
Moe, Lester-Garland, Strathmann, Michaelis usw.
mit Entschiedenheit erneuerten These, daß als Autor oder
Gewährsmann hinter dem Bericht und Zeugnis des Evangeliums
doch irgendwie der Apostel Johannes, der Zebedäus-
sohn, steht, behaupten sich mit zähem Widerspruch die
Presbyter-Hypothese und Fiktions- oder Verwechslungstheorien
verschiedenster Art. Man scheidet die Lieblings-
jungerstücke aus dem ursprünglichen Bestände des Evangeliums
aus oder erklärt den Lid linggjünger für „eine Idealgestalt
, die mit keinem der historischen Jünger identifiziert
werden kann" (so Bultmann). Aber die Lieblings jüngerstucke
verlieren ihre Pointe, wenn sie sich um eine bloß erdachte
, fingierte Größe drehen sollen. Und als geschichtliche
Figur hinter ihnen statt Johannes Lazarus von Bethanien zu
vermuten, wie Rud. Steiner oder Eisler tun, ist phantastisch
Ich sehe nicht, daß neue Argumente zur Klärung
des Verfasserproblems, um das der Streit der Meinungen seit
50 Jahren stereotyp und unergiebig geworden ist, in jüngster
Zeit beigebracht worden wären. — Uber allen Streitfragen der
äußeren Kritik, die zuweilen überhaupt für unlösbar erklärt
werden (z. B. von A. Schweitzer oder E. Seeberg), stellt,