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Ausgabe:

1948 Nr. 5

Spalte:

259-266

Autor/Hrsg.:

Fendt, Leonhard

Titel/Untertitel:

Exegese und Verkündigung 1948

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259

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 5

260

Exegese und Verkündigung

Von Leonhard Fendt, Wertingen

Der klassische Philologe W. den Boer hat im Februaiheft
der Nederlandsch Theologisch Tijdschrift (1. Jahrgang 1947,
S. 129 ff.) darauf hingewiesen, daß sich in der klassischen
Philologie der Gegenwart seit langem dieselbe Erregtheit bemerkbar
mache, die in der Theologie nach einem neuen, kongenialeren
Zugang zur Bibel suchen und die sog. pneumatische
, theologische, höhere, tiefere, existentiellere Exegese
finden ließ. Den Boer bringt das Ganze auf die Formel: „Subjektivismus
als Methode" und bezieht dies ausdrücklich auch
auf die Theologen der neuen Erregtheit. Und zwar ist nach
den Boer der „Subjektivismus als Methode" weithin zu verstehen
als ein Gegenschlag gegen die Diktatur der textkritischen
Periode und hat darum etwas Berechtigtes in sich;
dennoch bleibt für den Boer der „Subjektivismus als Methode"
das große Minus an rationaler Norm; denn nicht der Exeget
und seine Zeit soll ausgelegt werden, sondern das Schriftwerk,
sein Verfasser, seine Zeit, und es gilt für die Bibelexegese
genau so wie für die klassische Philologie, was A. Debrunner
1930 schrieb: Philologie ist „die literarisch-geisteswissenschaftliche
Gesamterfassung eines Schriftwerkes, eines Schriftstellers
, einer ganzen Epoche" (Indog. Forsch. 48). Ausdrücklich
betont den Boer in einem späteren Aufsatze (Nederlandsch
Theologisch Tijdschrift, Februarheft 1948, S. 138 ff.), daß er
dem Exegeten nicht die Subjektivität verbiete, da ja die
Geisteswissenschaft ohne Subjektivität nicht arbeiten könne,
aber der Exeget hat keine Methode aus seiner Subjektivität
zu machen, sondern sie bleibt immer ein Corrigendum von den
Quellen her. Für die Theologie, also für die Bibelexegese,
dürfte die Sache dadurch ein noch gefährlicheres Gesicht bekommen
, daß hier der „Subjektivismus" nichts Geringeres
ist als die radikale Ausgeliefertheit an den Glauben! Wer aber
möchte solchen „Subjektivismus" nicht höher stellen als
„literarisch-geisteswissenschaftliche Bemühungen"? Wer
möchte nicht hoffen, auf dem Boden von 1. Kor. 12, 8—10 in
der Erkenntnis der Hl. Schrift weiter zu kommen als mit
„literarisch-geisteswissenschaftlicher Arbeit"? Hier tritt ja
der „Subjektivismus" als der sachlichste „Objektivismus"
auf, weil es sich schlechthin um den Glauben handelt. Dennoch
liegt ein Rechnungsfehler vor und die Warnung des klassischen
Philologen hat Bibelwert. Der Glaube kommt vom Hl. Geist,
aber durch die Verkündigung; die Verkündigung ergeht im
Hl. Geist, aber aus dem Hören auf Gott; das Hören auf Gott
geschieht aber nicht auf dem Wege des „Einraunens", sondern
auf dem Wege über die Bibel; für die Bibel nun hat der Hl.
Geist weder eine neue Sprache noch eine neue Schrift, noch
übermenschliche Autoren, noch überweltliche Zeitumstände
für gut erachtet, sondern mit den gewöhnlichen proprietates
literales (ja nach Hamann u. a. sogar mit einer „Knechtsgestalt
") tat der Hl. Geist sein Bibelwirken. Darin liegt also
die Notwendigkeit der literarisch-geisteswissenschaftlichen
Bemühungen auch für die Bibelexegese begründet. Der
Niederländer C. J. Bleeker nennt die Theologie „die merkwürdige
Kombination von religiöser Ergriffenheit und wissenschaftlicher
Besinnung" (Nederlandsch Theologisch Tijdschrift
1947, S. 258). Jedenfalls darf der Bibelexeget seine
„religiöse Ergriffenheit" als ein wohlberechtigtes Gebaren
mit in die exegetische Arbeit hineinnehmen, aber er darf keine
exegetische Methode daraus machen. Der Glaube ist dieses
Gebaren, diese Haltung des Bibelexegeten, aber seine Methode
bleibt die literarisch-geisteswissenschaftliche — und soviel die
Glaubenshaltung dem Bibelexegeten im Zugang zu seinem
„Autor" nützen kann, so sehr muß er sich hüten zu vergessen:
der Glaube kommt aus dem Hören expresse auf das, was
Gott wirklich durch das Buch uns zuruft, dem Text gemäß.
Nachweisbar hat mancher „höhere" Bibelexeget, dessen Glaubenshaltung
nur Lob verdient (sit venia verbo), aus lauter
Interpretation dieses seines Glaubensstandes es versäumt, die
für ihn neuen, von ihm bisher nicht erreichten Stufen im
Glaubensstand durch Hören auf den ihm annoch „fremden"
Gehalt des Textes zu gewinnen. Die Bibel steht heute ernsthaft
in der Gefahr, nur mehr den von den Verkündern, Gemeinden
, Erbauungskreisen, Zeitumständen, Zukunftserwartungen
gehegten christlichen Lebenskreis widerspiegeln zu
dürfen, gewiß oft machtvoll und segensreich, aber cum damno
Creatoris, Salvatoris, Sanctificatoris. Mag die Philologie, speziell
die in der klassischen Philologie beheimatete, von den
Käufern und Verkäufern im Tempelvorhof noch so mißachtet
werden — in der Kirche der Bibel ist und bleibt sie eine hoch-
ehrwürdige und zur Familie gehörende Walterin. Das wären

schlechte Theologen und kümmerliche Bibelchristen, die
wegen der unleugbaren Versündigungen der literarisch-geisteswissenschaftlichen
Methoden in der Vergangenheit nun zur
Autarkie ihrer wenn auch noch so pneumatischen Subjektivität
abfielen; denn der Hl. Geist selbst hat, laut der Bibel,
die Philologie für das Hören und Verkündigen angesetzt, eben
durch die Tatsache „Bibel". Die Autarkie des Glaubens aber
kommt aus dem Hören, das Hören selbst aber dauert das
ganze Leben.

Die Warnung vor der „Subjektivität als Methode" trifft
nun auch jene Kreise und einzelnen, welche die Botschaft der
Bibel so aufnehmen wollen, wie sie ohne Philologie und literarisch
-geisteswissenschaftliche Behinderung auf sie zukommt,
sie anfaßt, sie angreift. Hat nicht Jesus für einfache Leute gesprochen
, die ihn bald verstanden, bald mißverstanden ?
Haben nicht die neutestamentlichen Schriftsteller für „das
Volk" geschrieben? „Hoc quid ad nie? Hoc quid ad nos?"

— darauf kommt alles an. Wir können diese Methode die der
heiligen Simplizität nennen. Kein Zweifel, auf diese Weise
kamen und kommen Ströme von Kraft und Garben von Licht
auf das Leben solcher Verkündiger, Hörer und Leser. Es wäre
ein Verbrechen, diese heilige Simplizität zu verspotten oder
herabzusetzen. Nein, Friede über Israel! Aber um der Bibel
willen muß man doch einwerfen: Im „Hoc quid ad me ? und
Hoc quid ad nos ?" erforscht eben die literarisch-geisteswissenschaftliche
Exegese das Hoc des Textes, auf das doch beim
Worte Gottes alles ankommen muß! Die Leute der heiligen
Simplizität haben mit Vorzug ein reiches christliches Gut,
haben es aus der Bibel — aber unmerklich bleiben sie dabei
stellen und lesen immer nur dies ihr Gut aus der Bibel heraus
—, so wird ein neuer Fall von Tradition aktuell, die stärker gilt
als der eigentliche Inhalt der Bibel! Gerade dies ist ja der Weg
der Tradition, sich als einzig gläubige Auslegung der Bibel zu
etablieren. Nun braucht man über die Leute der heiligen Simplizität
(zu denen auch studierte Verkündiger sich mit Absicht
gesellen) nicht Weh und Ach zu rufen, aber man muß es unumwunden
aussprechen: Ein ganzes Hören auf die Bibel ist
bei ihnen trotz allem nicht vorhanden, solange sie nicht die
Arbeit der literarisch-geisteswissenschaftlichen Exegese an der
Bibel benützen. Sich auf das „Prophezeien" von 1. Kor. 14
zu berufen, hindert nicht, daß die Propheten „direkt von Gott
her" verkündigten, während die Verkündiger heute „direkt
von der Bibel her" zu verkündigen haben. Und man kann
nie sagen: „Jetzt bin ich genug biblisch, nun kann ich es
.direkt von Gott her', an der Hand der Bibel" — das Hören
und Verkündigen bleibt immer „direkt von der Bibel her".
Darum kann die literarisch-geisteswissenschaftliche Exegese
nie ausgeschaltet werden. (Das hat aber ernste Konsequenzen
gerade auch für die Exegeten selbst, besonders im Hinblick
auf die Leute der heiligen Simplizität).

Nimmt man mit solchen Prinzipien die Johannes-Predigten
von Walter Lüthi1 in die Hand, so empfindet man,
daß eine saubere Theorie vor solcher Praxis in etwa versagt.
Das sind auf jeden Fall Predigten erster Ordnung, Predigten
über den Johannes-Text, Auslegung, und Anwendung auf die
Gegenwart, und zwar eine Anwendung, die ihresgleichen sucht.
Ob Lüthi erst die bedeutendsten Johannes-Kommentare um
die literarisch-geisteswissenschaftliche Grundlage befragt hat ?
Es scheint: Nein; denn sonst wäre über das Johannesevangelium
zu predigen ein viel schwierigeres Unternehmen. Lüthi
nimmt vielmehr das Johannesevangelium auf der gleichen
Ebene mit den Synoptikern vor: So war Jesus — so sprach er

— so handelte er — Johannes bezeugt es. Auf dieser Ebene
nimmt er als guter Theologe und reformatorischer Christ die
Exegese in eigene Regie; er ist es, der der Perikope den Skopus
gibt, freilich aus dem Textmaterial im ganzen, aber deutlich
im Hinblick auf die beabsichtigte Anwendung. Diese Anwendung
aber ist Lüthis Hauptstärke. So hat man das Empfinden
: 1. Lüthis Predigt packt und ändert um; 2. so möchte
man auch predigen können; 3. so möchte man auch „anwenden
" und die Gemeinde erbauen können; aber nicht: So
möchte man „auslegen" können — in der Auslegung gibt es
noch höhere Stufen! —

') Lüthi, Walter: Johannes. Das vierte Evangelium ausgelegt für
die Gemeinde. 4. Aufl. Basel: Reinhardt [1942]. 375 S. 8°. Schw. Fr. 7.—;
geb. 9.50.