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Ausgabe:

1948 Nr. 4

Spalte:

218-219

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Bulst, Walther

Titel/Untertitel:

Über die mittlere Latinität des Abendlandes 1948

Rezensent:

Hofmann, Johann Baptist

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Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 4

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Presbyter Johannes, der sowohl von dem ephesinischen
Johannes wie von dem Zebedaiden zu unterscheiden sein
dürfte, das Evangelium nach dem Märtyrertode des letzteren
aus dessen Seele heraus geschrieben hat, nach einer bei
Ephraim noch leise nachklingenden Tradition wohl in Syrien.

Wenn also auch einstweilen vieles in der Schwebe bleibt,
so macht die Schrift St.s doch deutlich, wieviel in den letzten
Jahrzehnten am Johannesevangelium Erarbeitetes schon Gemeingut
der Forschung geworden ist.

Leipzig Albrecht Oepke

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Spicq, P.C., des Freres Precheurs dominicains du Saulchoir: Esquisse

d'une histoire de Pexe"gese latine au moyen-äge. Paris 1944. 403 s.

gr. 8» = Bibliotheque Thomiste XXVI.

Untersuchungen zur Geschichte der Exegese waren eine
Zeitlang sehr gepflegt und erwiesen sich als fruchtbar. Die Ergiebigkeit
lehrt z. B. die Geschichte des Alten Testaments in
der christlichen Kirche von L. Diestel (Jena 1869), sowie die
Studien von C. Siegfried über Philo von Alexandrien und vor
allem der Joel-Kommentar von A. Merx. Zur mittelalterlichen
Schriftauslegung hat in ganz anderem Zusammenhang ein
Historiker wie H. Denifle den Exegeten scharf ins Gewissen
geredet. Es ist auch in den letzten Jahrzehuten eine wahre
Begeisterung zur Erforschung der scholastischen Philosophie
und Theologie entstanden, hauptsächlich angeregt und geführt
von lt. Grabmann. Die Exegese hat daran geringen
Anteil gehabt, obwohl sich ergeben hat, daß gerade die
Häupter wie Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Bonaventura
von der Exegese ausgegangen und immer wieder zu
ihr zurückgekehrt sind. Diese Tatsache ist P. Spicq bekannt,
doch eröffnet seine Skizze, wie er bescheiden seüie umfangreiche
Arbeit nennt, mit dem Bekenntnis, unerforschtes Land
angetroffen zu haben; es gebe keine Studie, welche den Exegeten
Thomas mit ähnlicher Gründlichkeit behandle wie seine
Theologie und Philosophie. Der Plan greift weit aus. Sp. beginnt
mit dem 8. Jahrhundert, also mit den Anfängen eines
selbstständigen geistigen Lebens im Abendland nach den
Stürmen der Völkerwanderung in Tours, Lyon, Auxerre,
Saint-Mihiel, Luxeuil, Liege, Saint-Denys, Saint-Riquier,
Corbie, Laon, Fulda, Reichenau. Fügt man nur St. Gallen
hinzu, so erkennt der kundige Leser, daß hier grundlegende
Arbeit geleistet wurde; aber schon vor dem 8. Jahrhundert.
Spicq gliedert die exegetische Arbeit des lateinischen Mittelalters
in zwei scharf getrennte Epochen: 1. das 8.—11. (10.),
2. das 12.—14. Jahrhundert. Dazwischen liegen das 10. und
ii., die „eisernen" Jahrhunderte. Hervorgehoben werden:
Beda Venerabiiis, Ambrosius Autpertus, Paul Warnefried,
Wicbod (Wicbald), Smaragdus (Ambrosiaster), Claudius von
Turin, Agobard, Frecoux de Lisieux, Rabanus Maurus, Sedu-
lius Scotus, Florusvon Lyon, Radbertus, Prudentius, Johannes
Scotus Eriugena, Christianus (Druthmar) von Aquitanien,
Remigius von Auxerre.

Aus dem 10.—11. Jahrhundert erscheinen u. a. Odo von
Cluny, Bruno von Würzburg, Lanfranc. Dabei beschränkt
sich Spicq keineswegs auf die dürren Notizen bei Chevalier
und Manitius, sondern versucht die Werke auch von der literarischen
Form her zu würdigen. Diese bewegt sich anfangs
noch ganz in den patristischen Wegen (scholia, commentaria,
homiliae). Fürs hohe Mittelalter werden drei Hauptperioden
unterschieden: Im 12. Jahrhundert bildete sich unter der Führung
der Franzosen die Exegese als selbständige Disziplin,
wobei die Viktoriner hervorragen. Den Höhepunkt erreichte
diese Entwicklung im 13. Jahrhundert, während im 14. Jahrhundert
der Abstieg einsetzte. Die Theologie ist in dieser Zeit
geradezu gleichbedeutend tnit der Lehre von der sacra pagina,
ohne daß sie freilich von der Auslegung formell getrennt wäre.
Das erfolgte erst als Ergebnis einer notwendig gewordenen
Arbeitsteilung im 13. Jahrhundert, was in der Geschichte der
Sorbonne deutlich zu verfolgen ist. Die Anfänge der biblischen
Studien im Zeitalter der Glossae und Postillae, bei Petrus
Lombardus, den Viktorinern, Stephan Harding, Nicolaus von
Maniacoria, Joachim von Fiore, sind darum ungemein aufschlußreich
. Es ist auch das Zeitalter, wo sich die Vulgata
allgemein durchsetzte. Das Exemplar Parisiense wurde zur
Bibel des Mittelalters. Anfangs stand neben dem Cursor
biblicus noch der sententiurius und über ihnen die maior
glossatura. Die organisatorisch notwendige Spezialisierung
offenbarte bei ihrem Abschluß im 14. Jahrhundert bereits
deutlich nicht nur die Vorteile, sondern auch die Nachteile
der Arbeitsteilung. Interessant ist dabei die Einstellung zu

den sprachlichen Bedingungen der Schriftauslegung. Sie ist
keinesfalls einfach negativ. Aber bei Thomas von Aquin
spielte nicht einmal das Griechische eine Rolle, obwohl der
Fürst der Schule gerade auf klare und scharfe Begriffsbestimmung
ein ausgesprochenes Gewicht legte. In dem dritten
Hauptteil mit Thomas von Aquin erreicht das Buch den
Höhepunkt. Der vierte Teil über das 14. Jahrhundert widmet
dem Franziskaner Nikolaus von Lyra (f 1349) den meisten
Raum. Naturgemäß wird die Darstellung in den beiden letzten
Hauptteilen bei aller Ausführlichkeit auch wieder summarisch
. An die Ausleger schließt der Verf. ein Repertorium der
handschriftlichen Uberlieferung für die hauptsächlichsten
Exegeten. Den Wert dieser Beigabe wird jeder dankbar empfinden
, der selber hier wissenschaftlich arbeitet und den
Mangel zuverlässiger Hilfsquellen erfahren hat.

Zweifellos wäre es nicht schwierig, die Listen zu erweitern und
die mittelalterliche Literaturgeschichte schon so zu bereichern.

Mir erscheint ebenso wichtig, schon jetzt ins Einzelne
einzutreten, um die inneren Zusammenhänge zu erkennen und
den geistigen Fortschritt besser zu sehen. Einige Beispiele!
Von dem Franziskaner Johannes von Varzi (f 1278) liegt in
Paris, Nat. lat. 14259 und in Basel III 20 ein Kommentar zu
den Sapientielbüchern vor, der verschieden ist. Worin die
Unterschiede liegen und ob der Kommentar zum Hohen Lied
die nämlichen Eigentümlichkeiten aufweist.und wie er sich zu
Basel IV 21 und Troyes 667 verhält, vermag nur eine überlieferungsgeschichtliche
und exegetische Untersuchung zu ergeben
.

Einer exegetischen Untersuchung bedarf es auch, ob
Nikolaus Lyranus mit der reichsgeschichtlichen Auslegung der
4 Wesen in der Ezechielvision c. 1 (Doppeladler!) allein steht
oder einer franziskanischen Tradition folgt. Nur wenn das
Gelände exegetisch durchgearbeitet ist, wird man hoffen
können, über Namen und Werke hinaus zu dem lebendigen
Bild von Persönlichkeiten und Leistungen gelangen zu dürfen,
dem die Dogmenhistoriker allmählich nähergekommen sind.

Noch zwei Punkte seien schließlich berührt. Was die Cor-
rektorien betrifft, so erweckt auch Spicq die Vorstellung, als
ob die Correktorien etwas Ahnliches erstrebten, wie etwa die
Kommissionen Caraffas, als es um die Vorbereitung der Six-
tina ging. Dabei ist schon auffällig, daß es von Hugo von
St. Viktor kein Correctorium zu den Psalmen gibt und trotz
aller Correktorien nirgends, vor allem nicht bei Thomas von
Aquin, über Unsicherheit des Bibeltextes geklagt wird. Die
Frage ist eng mit dem Verständnis der Aussagen von Roger
Baco verknüpft. Sie müßte ebenfalls einmal von Buch zu
Buch und nach exegetischen Gesichtspunkten geprüft werden.

Der Exeget verdient schließlich auch gehört zu werden
zu Florus von Lyon (45t.), Odo von Cambray (86), Honorius
von Autun (87) u. a., welche das Problem der biblischen Text-
rezensiou mit so beachtenswerter Schärfe auf werfen. Denn
Odo von Cambray steht mit seinem 4 spaltigen Psalter am
Ende einer Reihe von methodisch sehr beachtenswerten
Textausgaben, die in Corbie ins 8. Jahrhundert, auf der
Reichenau bis an den Anfang des 9. Jahrhunderts, in Bamberg
, Köln und Essen bis ins 10. Jahrhundert, aber auch in
Valenciennes (Cod. St. Amand!) nachweisbar sind, überdies
ist die Tatsache der mehrspaltigen Psalmenbücher für das
exegetische Denken des frühen Mittelalters in hohem Maße
aufschlußreich. Auch der Psalter von Monte Casino, den
A. Amelli an der Spitze der Collectanea biblica veröffentlicht
hat, gehört hier erwähnt. Bis an die Schwelle des Mittelalters
führt eine Analyse des lateinischen Psalmentextes. Man muß,
wie L. Traube in der Deutschen Literaturzeitung 25 (1904),
133—136, schon vor Jahren nahegelegt hat, einen kritischen
Apparat nur auch historisch lesen können.

Freiburg/Br. Arthur Allgeier

Bulst, Waither: Über die mittlere Latinität des Abendlandes. Heidelberg
: Lambert Schneider 1946. 22 S. gr. 8°. RM1—.

Der Verf., durch jahrelange Mitarbeit an den Monumenta
Germaniae Historica wie kaum ein zweiter für das Thema gerüstet
, gibt in vorliegender, aus einem Vortrag herausgewachsener
Schrift kurz, aber eindrucksvoll eine Charakteristik
dessen, was wir „Mittellatein" zu nennen gewohnt sind.
Dabei wird mit Recht der Nachdruck auf die Kontinuität der
Entwicklung gelegt: das Latein des Mittelalters ist dieselbe
Sprachstufe wie die des Altertums; was wir in der zur Entstehung
der romanischen Sprachen führenden Periode an
vulgärlateinischen Texten besitzen, ist nur teilweise Anpassung
an die niedere Sprache, zum Teil ist es bloßes Unvermögen
, entsprungen aus mangelhafter Kenntnis der klassischen
Grammatik. Daß das Latein nicht vor den neu entstehenden
romanischen Sprachen das Feld räumte, verdankt es lediglich