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Ausgabe:

1948 Nr. 4

Spalte:

215-217

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Strathmann, Hermann

Titel/Untertitel:

Geist und Gestalt des vierten Evangeliums 1948

Rezensent:

Oepke, Albrecht

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216

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 4

L>16

Auf eindeutige Auslegung wird gelegentlich bewußt verzichtet (zu 6, 6). Die
vorschnelle Wertung des „tapferen Paulus und des feigen Petrus" im Apostelstreit
2, 11 ff., das rasche Herauspflücken vertrauter Kernsprüche wie 3,24;
3, 26. 28 aus einem sonst schwierigen Zusammenhang (40ff ), das schnelle Ein-
spuren auf die gewohnten Antithesen des Idealismus falsch-wahr, häßlichschön
, böse-gut beim Lesen der Lastertafel und Tugendtafel 5, 16ff. werden
als verlockende Wege genannt, aber ihr Betreten dem Leser mit Ernst verwehrt
, um von dem Stutzen und Sich-wundern vor solchem Verbot her ihn
in ein tiefdringenderes Verstehen hineinzuführen.

Immer drängt die Auslegung auf das Ganze des Zusammenhanges
, des Briefes, der Schrift, der Heilsgeschichte:
„kein Eigenstandpunkt ist möglich, nur der Standpunkt
Gottes" (99). In überzeugend klarer Disponierung erfolgt eine
Führung durch den Brief, die der Verf. selber erlebt hat als
ein ,,Sich-hindurchreißen-Lassen" (5). Und dabei wird doch
der Leser zu einem ganz hingegebenen Hineinhorchen in das
einzelne Wort angeleitet, das vor dem Hineintragen eigener
Konzeption bewahrt.

Begriffe werden sorgfältig untersucht (ncuSaycoyd^ 487, Kindschaft, Erbe
57 ff.). Den Verschiedenheiten des Ausdrucks wird nachgespürt, bis z. B. aus
dem wechselnden Gebrauch des Numerus und Tempus in den Mahnungen
5, 1 ff. bald die gebietende Stimme des Gemeindegründers, bald die Vollmacht
des Apostels, bald die werbende Liebe des Seelsorgers vernommen wird. Die
geraffte Ordnung der Tugendtafel und die bis in die Schwankungen der Textüberlieferung
sich auswirkende Ungeordnetheit der Lastertafel 5, 16 ff. sind
nicht Zufälligkeiten, sondern der tief begründete Widerschein von zwei Welten,
zwei Fronten; „der Mensch des Fleisches wird umgetrieben von .. . Dämonon,
die sein Leben zerreißen und sein ganzes Sein in eine nicht übersehbare Vielheit
von Einzelheiten zerspalten, während über der gehaltenen und der verhaltenen
Tugendtafel der Friede Gottes schwebt" (89).

Auch der schlichte Laie unter den Lesern wird sogar ermuntert
, sich nicht daran genügen zu lassen, daß er seinem Bildungsschatz
längst Vokabeln wie Nirwana.Karma.Tao undTabu
eingefügt hat, sondern sich mit unübersetzbaren Worten der
biblischen Ursprachen vertraut zu machen. Kosmos, dynamis,
hagiotes sollten dem Bibelleser in ihrem Eigenklang vertraut
sein. In die Tiefe der Botschaft gerade des Galaterbriefes
führt der Ursinn des griechischen Wortes pistis als Treue,
Festigkeit mit der Abzielung auf Gehorsam und der Verwurzelung
in dem hebräischen 'emünä (103).

Die Frucht solcher gründlichen Arbeit ist, daß an den
Höhepunkten eine Eindringlichkeit des Zeugnisses erreicht
wird, die dem bloßen Echauffement nie zugänglich ist, sondern
nur da geschenkt wird, wo aus wirklichem Hören heraus geredet
wird. So wird zu 3, 15 ff. der Theologe, der Gottesgelehrte
gezeichnet als einer, der denkt und lehrt und schreibt
nicht von sich aus, sondern von Gott aus (42). So wird gezeigt
, wie auch der bekehrte und sittlich strebende Christ auf
die Lasterseite gehören kann, wenn er der Sünde der „Selbstsetzung
" verfällt. So wird 4, 4 als die knappste und zugleich
gefüllteste Bekenntnisaussage über Jesus Christus gedeutet,
indem zwischen den Zeilen gelesen wird „ein für alle Male"(54).
Der beste Dank für die Gabe dieses Buches wäre es, wenn viele
zum Dienst der Verkündigung gerufene Theologen es studierten
und auswerteten als eine Anleitung zur Hebung der
Schätze, die die exegetische Wissenschaft beispielsweise im
ThWBNT. erschlossen hat, als Wegweisung zu einem Hören
auf das Wort der Schrift im Sinne von Rom. 10, 17: fya fj

Kiel Heinrich Rendtorff

Strathmann, Hermann, Prof. D.: Geist und Gestalt des vierten Evangeliums
. Fünf Lehrbriefe zur Einführung. Göttingen: Vandenhoek &• Ruprecht
1946. 40 S. 8». RM 1.—.

Die Nachkriegsverhältnisse haben das Bedürfnis nach
kurzen, auf der Höhe der Forschung stehenden Ubersichten
vordringlich gemacht. Die Bedeutung solcher Arbeiten ist
nicht zu unterschätzen. Die vorliegende wurde für Internierte
und Kriegsgefangene, in erster Linie Theologen, geschrieben.
Sie behandelt das zweite „Rätselbuch" im NT (neben Apk)
pädagogisch geschickt mit meisterhaft prägnanter Stellungnahme
zu den offenen Fragen. Inhalt und Form des vierten
Evangeliums in ihrer organischen Verbundenheit theologisch
zu durchdringen, ist, wie der Titel schon verrät, das Hauptanliegen
.

Gleich der erste Brief, der Joh mit den Synoptikern konfrontiert
, weist viele glückliche Formulierungen auf. Die
Schreibweise des Evangelisten ist so, „als zeigte er einen
Kristall, den er bewegt und zwischen den Fingern glitzern
läßt". Schildern die Synpt vordergründig, als Maler, so er
hintergründig, als Zeichner. Er setzt die synpt Tradition und
ihre Kenntnis voraus, korrigiert sie aber, ohne sie deshalb verdrängen
zu wollen. Ob der joh Aufriß durch allerlei Angaben

der Synpt selbst als richtig bestätigt wird, ist mir allerdings
fraglich. Es steht in Spannung mit dem anderen: „Historische
Wahrheit ist etwas anderes als historische Buchstäblichkeit
". Aber daß Joh ganz „Prediger und Deuter" ist, ist
zweifellos richtig.

Als Literaturwerk weist das Ev bekanntlich, bei aller Einheitlichkeit
in Sprache und Begriffswelt, Christusbild und
geistiger Haltung mancherlei „Aporien" auf. Sie aus der Verarbeitung
von Quellen und nachträglicher Verunstaltung, also
etwa im Sinne Bultmanns, zu erklären, lehnt St. ab, verweist
vielmehr auf das Alter des Schreibenden und das Fehlen seiner
Sehlußredaktion, die die Herausgeber von sich aus nachzuholen
nicht gewagt hätten. Recht überzeugend ist das nicht.
Uber die allgemeinen Voraussetzungen ist noch zu reden. Ob
die Schwierigkeiten durch Umstellungen zu heilen sind ? Ob
sie überhaupt so schwer wiegen ? Vielleicht gehört eine gewisse
redaktionelle Sorglosigkeit zum Wesen dieser Produktion
. Der Eindruck der Einheitlichkeit und Planmäßigkeit des
Ganzen überwiegt jedenfalls.

Zum religionsgeschichtlichen Ort wird richtig ausgeführt,
daß der Gegensatz gegen die „Juden" mit Antisemitismus
nichts zu tun hat. Es handelt sich um den offenbarungs-
immanenten Gegensatz von Glauben und Unglauben. Die
antirabbinischen Untertöne schon des Prologs werden aufgefangen
, missionarische Absichten gegenüber den „Israeliten
ohne Falsch" registriert, aber möglicherweise noch unterschätzt
. Die Fronten gegen die Täuferjünger und gegen die
Gnosis treten heraus. Die Anliegen der letzteren haben für
Joh, so gewiß dessen antisynkretistische Haltung mit Recht
konstatiert wird, vielleicht eine noch positivere Bedeutung.
Eine Frontstellung gegen Dionysos (2, 1 ff.), Heilgötter und Inkubation
(5, iff.), Mysterienfrömmigkeit (12, 24ff. ?) scheint
St. nicht zu empfinden. Müßte nicht noch stärker herauskommen
, daß Joh in umfassender Schau alle religiösen Lichter
seiner Umwelt in dem Brennpunkt Jesus konzentriert ?

Besonders weitgehend kann man dem vierten Brief, der
den kirchlichen Ort des vierten Evangeliums zu fixieren
sucht, zustimmen. Obwohl ohne Paulus nicht verständlich,
ist es doch eine auf dem Boden des durch die Gestalt Jesu
geweckten urchristlichen Glaubens entstandene eigenwüchsige
Schöpfung. Die Eschatologie tritt zurück, ohne doch als „erfüllt
" praktisch aufgegeben zu werden. In der Geistanschauung
verschwindet neben dem charismatisch-enthusiastischen auch
das sittliche Moment fast ganz. Der Geist ist eher die Frucht
des Gehorsams als dessen Voraussetzung. Die Aufgabe des
Parakleten ist die vollendete Durchführung der in Jesu gegebenen
Offenbarung. Fragen der kirchlichen Organisation
spielen, außer etwaiger Abwehr petrinischer Primatsansprüche,
keine Rolle. Uber die Absicht des Joh, die Kirche selbst zu
einem höheren Christusbild und zu einer kirchlichen Gnosis
weiterzuführen, hätte man gern noch ein Wort gehört.

Wenn zuletzt erst die Frage nach dem Ursprung des
Evangeliums aufgeworfen wird, so zeigt dies, wie stark das
Gewicht dieser Frage sich verlagert hat. Ob sie nur noch eine
historische, keine theologische Frage mehr ist, läßt sich allerdings
bezweifeln. Aber die Unbefangenheit historisch-kritischer
Fragestellung gegenüber ist zu begrüßen. Sachlich muß ich
hier mehr als ein Fragezeichen setzen. Ist auf die kirchliche
Uberlieferung, die erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
wirklich greifbar wird, vorher aber von manchen
Unklarheiten bedrückt wird, so viel zu geben ? Ist nicht die
notorische Verwechslung des Evangelisten Philippus mit dem
gleichnamigen Gliede des Zwölferkreises ein bedrohliches Pendant
? Daß das vierte Evangelium irgendwie auf den Lieblingsjünger
, der nach dem Anhang eine historische Person und
dann doch wohl der Zebedaide Johannes sein wird, zurückgehen
will, bleibt zwar überwiegend wahrscheinlich. Kann
aber die Apk auf den gleichen Verf. und überhaupt auf einen
Apostel zurückgeführt werden ? Diese Frage hätte bei aller
Knappheit des Raumes nicht ganz unerörtert bleiben dürfen.
Kommt man hier zu einem anderen Ergebnis, so bleibt für
den greisen Zebedaiden in Ephesus kein Platz. Manches
spricht ferner dafür, daß der Nachtrag Kap. 21 von der
gleichen Hand verfaßt ist wie das Evangelium. Dann ist
21,24 m einem weiteren Sinn zu verstehen (vgl. 19, igff.). Von
da aus erklärt sich dann auch der schillernde Charakter der
Augenzeugenstellen wie 19, 35. Vielleicht ist doch auch das
souveräne Schalten mit der Überlieferung, besonders mit den
Jesusreden, auf das St. selbst aufmerksam macht, bei einem
Mann der zweiten Generation leichter verständlich. Die au
sich vortreffliche Formel „kerygmatische Stilisierung" erklärt
sonst schwerlich alles. Unter Würdigung aller dieser Umstände
und Mitheranziehung auch der drei Johannesbriefe erscheint
es mir in der Tat überwiegend wahrscheinlich, daß der