Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1948 Nr. 4

Spalte:

207-208

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stuebler, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die Religiosität des Livius 1948

Rezensent:

Köstermann, Erich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

207

Theologische Literaturzeitung 1948 Nr. 4

208

Hier dürfte darum der Punkt sein, wo man dem l'sal-
terium Gallicanum gerecht werden kann. Weder sind die im
Recht, welche die Vulgata durch dick und dünn verteidigen
wollten, aber auch jene verkennen die Lage, welche meinten,
Hieronymus sei auf halbem Wege in der ersten Entdeckerfreude
des Hebraisten stecken geblieben und habe daher eine
neue Version unternommen, das Psalterium iuxta Hebraeos.
Eine Übertragung auf Grund des Urtextes entsprach allein
seinen wissenschaftlichen Grundsätzen. Auf dem Psalterium
iuxta Hebräern beruht aber die hexaplarische Rezension. Es
ist hier nicht der Ort, unter diesem Gesichtspunkt die Analyse
der Texte vorzunehmen oder vorzulegen. Der Leser stelle aber
selber fest, wie häufig sich beide gegenüber allen bekannten

Altlateinern berühren. Noch bemerkenswerter ist, wie oft
auch das Psalterium hebraicum mit den Altlateinern zusammengeht
, während die Vulgata eigene Wege einschlägt,
die nur als Fortschritt befriedigend beurteilt werden können:
wie abusione (30, 19), scobebam (76, 7), sicut eremium aruerunt
(101,4), initiati sunt (105, 28).

Die Gedanken können nur angedeutet werden, wie sehr
die Beachtung der lebendigen Auswirkung des neuen römischen
Psalters das methodische Verständnis der Textgeschichte zu
fördern geeignet ist. Eigentlich Selbstverständlichkeiten, aber
für wieviele Selbstverständlichkeiten hat die Gegenwart schon
I das wissenschaftliche Auge geöffnet!

RELIGION S WISSEN SC HA FT

Stübler, Oerhard: Die Religiosität des Livius. Stuttgart: Kohlhammer
1941. XI, 218 S. gr. 8«. RM 13.50.

Das vorliegende, von O. Weinreich angeregte Buch hinterläßt
einen zwiespältigen Eindruck. Zweifellos enthält es eine
Fülle von guten Beobachtungen und bringt das Phänomen der
Erneuerung der römischen Religion unter Augustus, wie es im
Geschichtswerk des Livius seinen Niederschlag gefunden hat,
dem Verständnis näher. Aber diese Vorzüge werden aufgewogen
durch gewisse Urteile, bei denen sich der Verf. —
z. T. offenbar unter dem suggestiven Eindruck von Gedanken
W. Webers — einer eigensinnigen Verkehrtheit befleißigt. Das
gilt vor allem von der Stellung, die er den Kaiser Augustus
in der Geschichtsauffassung des Livius einnehmen läßt. Die
von St. gewählten Formulierungen klingen so bedenklich an
die großen Wahrheiten und Verkündungen des Christentums
an, daß sie, ohne geschichtliche Begründung wie sie sind, nicht
selten als Blasphemie erscheinen. Nach St. (S. 206) beherrschte
in der ausgehenden römischen Republik auf das stärkste das
Gefühl der „Sünde" die Gemüter, das Bewußtsein — das ich
für ganz unrömisch halte —, daß eine „regelrechte Erbsünde"
von den frühen Anfängen an auf Rom gelastet habe. „Der gesteigerten
Angst vor der Sünde entspringt eine ganz neue Vorstellung
von der Erlösung durch die Gnade des Himmels."
Diese Gnade des Himmels aber wurde der leidenden Menschheit
durch Augustus, „Gott, Gottes Sohn" (vgl. S. 25t.), vermittelt
, der sich, als ein neuer Decius, „selbst der Gottheit
zum Opfer weiht, um Rom von aller Sünde zu erlösen. Gott
hat seinen Sohn hingegeben, . . . um dem römischen Volk den
Frieden der unaufhörlichen Siege und des unvergänglichen
Ruhms zu senden" (S. 207, vgl. auch die Schlußworte S. 204).
So richtig die Bezogenheit des Augustus auf Romulus (S. 10
bis 15, vgl. auch S. 26) und Numa (S. 41t.) durch Livius von
St. gesehen worden ist, so aberwitzig erscheint die Nebeneinanderstellung
des Augustus mit Decius Mus. Diese Gleichsetzung
aber bildet die Voraussetzung für jene das Maß des
Erlaubten bei weitem übersteigenden Schlußfolgerungen. Wo
ließe sich für Augustus etwas der Devotion des Decius auch
nur entfernt Entsprechendes aufweisen ? Mit dieser negativen
Feststellung aber fällt das ganze Kartengehäuse der Spekulationen
St.s in sich zusammen.

Fehlanalysen der geschilderten Art stehen in dem Buche nicht vereinzelt
da. Eine der bedenklichsten nach meiner Überzeugung ist die vom Verf. vertretene
Auffassung, daß Livius in der Darstellung des zweiten punischen
KrlegesThukydides zu Rate gezogen habe. Darin zeige sich die Zuwendung
der Augusteer zu den klassischen griechischen Vorbildern. Was aber Livius
von Thukydides, ebenso wie Vergil von Homer, unterscheide, sei „der Glaube
an die göttliche Verheißung, die Rom zuteil geworden ist", als ob sich mit
diesem Hinweis auf Inkommensurables die Unterschiede auch nur entfernt
erschöpfen ließen. In typisch hyperbolischer Überspitzung gelangt St. alsdann
zu dem Schluß, es zeuge ,,von einer gewaltigen Geisteskraft, daß Livius es
verstanden habe, mit der tiefen Kenntnis der menschlichen Natur, wie sie
Thukydides eigen ist" — besaß Livius diese Kenntnis wirklich? — „seinen
eigenen Glauben an die göttliche Offenbarung zu verbinden und dadurch die
wahrhaft schöpferische Spannung zu erzeugen, die seinem Werke erst das
innere Leben gegeben hat" (S. 6). Mit den letzteren Worten hat St. eine Eigenart
des livianischen Geschichtswerkes nicht übel erfaßt, fehl am Platze aber ist
die Beziehung auf Thukydides. Wohin die gewaltsame Einbeziehung des großen
griechischen Historikers unter die Vorbilder des Livius zu führen vermag, zeigt
sich, nachdem bereits cap. IV B 6 in wenig überzeugender Weise „die Darstellung
der inneren Krise nach dem Vorbilde des Thukydides" behandelt
worden war, auf das augenfälligste in cap. IV C 7, einem Kapitel, das die Auseinandersetzung
des Livius „mit Thukydides und Polybios" zu seinem Gegenstande
hat. Die Reden des Fabius Maximus und des Scipio (Liv. XXVIII, 40

bis 44) „entsprechen" nach Stübler S. 157 „bis Ins einzelne denen des Nlkias
und Alkibiades vor dem Zuge gegen Sizilien" (vgl. Thuk. VI, 9—18). Dabei
sei Fabius „im großen und ganzen das Ebenbild des Nikias", während Scipio,
wie St. Immerhin einschränkend feststellt, „trotz mancher Ähnlichkeit nicht
einfach Alkibiades gleichgesetzt" werden könne. In Fabius habe „Livius das
Muster eines Thukydideischen Feldherrn gezeichnet" (vgl. S. 116), während
er Ihm in Scipio „sein eigenes, römisches Ideal" gegenüberstellte (S. 158).
Zweifellos wird man aber auch Fabius nicht gerecht, wenn man Ihn mit Nlkias
auch nur entfernt auf eine Stufe stellt. Die Wirklichkeit des livianischen
Werkes sperrt sich mit Entschiedenheit gegen die unglücklichen Hypothesen,
die St. hier hereingetragen hat.

Es ist Pflicht des Rezensenten, über den kritischen Ausstellungen
, deren Zahl sich leicht vermehren ließe, auch die
positiven Seiten des Buches nicht zu übersehen. Unzweifelhaft
ist es St. geglückt, das Wesen der altrömischen Religion,
wie es sich im Werke des Livius wiederspiegelt, in wichtigen
Punkten richtig zu bestimmen. Mit Recht betont er S. 39,
daß bei den Römern, deren Furcht vor den Göttern „auf der
Willkür, Regellosigkeit und Unberechenbarkeit ihres numen"
beruhe (S. 81), die Religion den Vorrang gegenüber der Sittlichkeit
einnehme. Nach der Auffassung des Livius, die der
römischen überhaupt entspricht, sei entscheidend, daß der
Mensch den Göttern den ihnen schuldigen Gehorsam entgegenbringe
(S. 77). Wenn er den ihm kundgegebenen Willen
der Götter befolge, sich ihren Schicksalssprüchen, den fata
— das Fatum ist somit abhängig vom Willen der Götter, den
es bekundet, während Fortuna (griech. Ti'tfi) scharf davon geschieden
ist; das ist der ursprüngliche, für Livius gültige Sinn
des Wort es — unterwerfe und „alles mit Verstand und Uber-
legung ausführe, besitze er gewissermaßen Macht über das
Schicksal" (S. 58). Wichtigste Aufgabe des Römers war es
also, das Wesen der fata richtig zu bestimmen, und das Ideal
der religiösen Persönlichkeit ist demzufolge der vates, der
zu dieser Interpretation wie kein anderer berufen ist und
dessen Wesen Horaz am schärfsten erfaßt hat. Männer wie
Camillus und vor allem Scipio (S. 145) kommen diesem Ideal
am nächsten. Je nachdem der Mensen alsdann sich nach den
fata richtet oder sie geringschätzig beiseiteschiebt, bringen
sie ihm Glück oder Ungemach (S. 55). So richtete Flaminius
sich und den Staat durch seine temeritas, seine Gleichgültigkeit
gegenüber dem Willen der Götter, zugrunde
(S. 105t.), das Gleichgewicht aber wurde wiederhergestellt, als
sich die Römer erneut auf ihre religiösen Bindungen und Verpflichtungen
besannen. Einen breiten Raum nehmen in dem
Buche die Betrachtungen über das Verhältnis zwischen
fatum, virtus und fortuna ein, das in meist ansprechender
und glücklicher Weise behandelt worden ist. Zwar erscheint
auch bei den Römern die Fortuna neben der menschlichen
virtus und den Göttern als der wichtigste Faktor in der Geschichte
(S. 109). Aber römische Geschichte war „Tatengeschichte
", nicht „Schicksalsgeschichte" (S. 110): das Schicksal
konnte nur gemeistert werden, wenn der echte Mann im
Einklang mit dem Willen der Götter sich voll einsetzte und
alsdann „das Schicksal machte" (S. 113: Cato). Schwächliche
Schicksalsergebenheit entspricht nicht römischem Denken und
Handeln, umgekehrt erscheint es als Herausforderung der
Götter, die sich alsogleich rächt, den Lockungen der Fortuna
unbedacht und vertrauensvoll zu folgen (Verblendung Hanni-
bals S. 96 und 166). Die einzige positive Ausnahme, so argumentiert
St. S. 156 in nicht völlig überzeugender Beweisführung
, bilde Scipio, der sich im Bewußtsein seines gesicherten
Verhältnisses zu den Göttern „nicht scheut, der
Fortuna zu folgen, wenn sie ihm eine günstige Gelegenheit
bietet; er braucht sie nur nach dem Verstand zu lenken und
die Zügel in der Hand zu behalten".

Kiel Erich Koestermann