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Ausgabe:

1947

Spalte:

177-179

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Litt, Theodor

Titel/Untertitel:

Die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch J. G. Herder 1947

Rezensent:

Schuster, Hermann

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gefachten wurde. Das kurze Buch bearbeitet aber einen riesigen
Stoff und wird, als erste Systematisierung der theologischen
Literatur der ungarischen reformierten Orthodoxie auf die
weitere Forschung sehr befruchtend wirken können.

Berlin Bela Szent-Ivänyi

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Litt, Theodor: Die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch

J. G. Herder. Leipzig: E. A. Seemann 1942. 186 S. 8». RM 4.—.

Den Reichtum dieses schmalen Bandes in einer kurzen
Besprechung wiederzugeben, ist eine unmögliche Aufgabe. Ich
muß mich auf das Wichtigste beschränken, aber doch die
Grundlagen der ganzen Betrachtung knapp kennzeichnen.

Die Weltansicht, die sich dein denkenden Menschen zuerst aufdrängt,
gilt der Natur und ihrer festen unverbrüchlichen Ordnung: Kosmos. In ihr
ist für geschichtliches Denken kein Raum. Erst das Christentum als ein die
letzten Tiefen der Seele aufwühlendes Glaubenserlebnis stellt das Schicksal
des Menschen, des gefallenen Ebenbildes Gottes, in den Brennpunkt der
Betrachtung. Heil und Unheil des Menschen ist die alles beherrschende Frage.
Sie wird durch Gott beantwortet. Gottes Heil ist Sinn und Ziel der Geschichte.
Dieser Sinn ist 1. von unbedingter Geltung, 2. der Verwirklichung gewiß
, 3. dem Menschen bekannt und bewußt. Geschichte in unserem Sinne
entsteht dadurch freilich nicht. „War die Geschichte zunächst der Übermacht
der Natur zum Opfer gefallen, so droht sie jetzt vor dem Glanz der Übernatur
in Nichts zu zergehen."

Einen tiefen Wandel bewirkt die neue mathematische Naturwissenschaft
(Galilei, Kepler, Newton). Indem sie die der Natur innewohnende Gesetzlichkeit
entdeckt und dem Menschen dienstbar macht, weckt sie auch die Zuversicht
, erst recht die Gesetze der Menschenwclt ergründen und beherrschen zu
können. „Die Natur ist geschichtslos, weil sie in Ordnung ist. Die Menschenwelt
ist geschichtlich, weil sie nicht in Ordnung ist, aber von Ordnung weiß und
deshalb von der Unordnung zur Ordnung durchzudringen sich beauftragt
fühlt. Die Taten, die in Erfüllung dieses Auftrages verrichtet, die Leiden, die
in Verfehlung dieses Auftrages erduldet werden: sie sind es, die den Inhalt
der Geschichte ausmachen." Dieses Geschichtsbild stimmt mit der Vision des
christlichen Glaubens erstaunlich überein. Auch hier ein einiges Ziel von unbedingter
Geltung, ein Ziel, dessen Verwirklichung absolut sicher erscheint,
um das eine volle Sicherheit des Wissens dem Menschen gegeben ist. Der Gang
der Geschichte wird auf diese Weise zum hell bewußten, unaufhaltsamen Fortschreiten
auf ein sicher erkanntes herrliches Endziel. Von einem solchen Strom
sich getragen wissen, ist beruhigend; aber der Eigenwuchs des Lebendigen, der
Reiz der'wirklicheu Geschichte mit ihren Überraschungen und Erschütterungen
ist in diesem optimistischen Geschichtsbild der Aufklärung verloren gegangen.

Ich muß das reizvolle Kapitel „Der Aufstand des Herzens", d. i. Rous-
seaus Protest gegen die Aufklärung und doch wieder seine Annäherung an ihre
Wege, leider übergehen. Auch von den „ungelösten Fragen" hebe ich nur die
wichtigste heraus: „Wenn die individuellen Träger der Geschichte im Verfehlen
, ja durch das Verfehlen des von ihnen erstrebten Sinnes einem nicht
erstrebten Sinn zum Dasein verhelfen, müssen wir dann nicht einen von ihnen
verschiedenen und ihnen überlegenen Urheber hinzudenken? Müssen wir nicht
eine überpersönliche Macht annehmen, die selbst das Scheitern des Individuums
zur Förderung ihrer Absichten einzusetzen weiß?" Hier knüpfen
Hamann und Herder an, und wieder muß Ich auf Hamann, den glaubensstarken
, unsystematischen Paten der Herderschen Ideen, verzichten und mich
Jetzt mit Litt dem Hauptthenia seines Buches zuwenden.

Erst in Herders Geschichtsphilosophie kommen die Keime
von Hamanns Menschhcitsvision zur rechten Entfaltung und
zugleich zur Wirkung in die Breite. Wer aber den Geschichts-
deuter Herder in seiner ganzen Originalität und Kühnheit
kennenlernen will, der muß sich an die Schriften seiner ersten
Lebenshälfte halten; also weniger an die bekannten und berühmten
„Ideen zur Philosophie der Geschichte" als vielmehr
an die frühere Abhandlung „Auch eine Philosophie der Geschichte
zur Bildung der Menschheit" sowie an ,,die älteste
Urkunde des Menschengeschlechts". Litt zieht freilich gelegentlich
auch spätere Äußerungen mit heran, und er entwirft
Herders Geschichtsphilosophie, indem er nicht nur verwertet,
was Herder als Geschichtsphilosoph methodisch sagt, sondern
auch was er als Geschichtsdeuter sachlich tut.

Auf der Spur Hamanns entwickelt Herder eine neue und
Weitere, an Joh. 5, 17 erinnernde Deutung des Begriffs der
Offenbarung. Der Weltlauf wird zur fortschreitenden Selbstaussprache
Gottes. Geschichte steigt damit zum Range der
..Anthropomorphose Gottes" empor. Herders ganze Geschichtsdeutung
muß gesehen werden unter dem Gesichtspunkt
des Protestes gegen die Aufklärung. Deshalb beurteilt
er den Menschen mit starker einseitiger Betonung als abhängig
von der Allwirksamkeit und alleinigen Wirksamkeit
Gottes, dessen uneingeschränkte Verfügungsgewalt schon für
Hamann das A und O seines Glaubens gewesen war. Der
Mensch ist also nur ein Instrument im Tun Gottes. Damit bekämpft
Herder die „Abgötterei gegen den menschlichen Geist".

Aber es ist ihm doch nicht ernst damit, den Menschen zum
blinden Werkzeug der Vorsehung herabzuwürdigen Er versucht
auf andere Weise das „Selbstsein", die Eigentätigkeit
und die Verantwortlichkeit des Menschen wiederzugewinnen
„In unmittelbarer Nachbarschaft der Stellen, die die Verleugnung
des Selbst predigen, finden sich die Auslassungen die beweisen
, wie unmöglich es ihm gewesen ist, in dem Menschen
nicht mehr als das Vollzugsorgan der Vorsehung zu erblicken "
Weil Herder an der Aufklärung wegen ihrer Überschätzung
des Verstandes Spuren der Altersschwäche zu bemerken
meint, betont er am Menschen die urwüchsigen Kräfte des
Lebens. Wendungen wie Kraft, Stärke, Trieb, Leidenschaft
Tätigkeit, Bewegung sollen den lebendigen Menschen schildern'

In Wirklichkeit weist er dem Menschen noch eine größere
Selbständigkeit und Wirksamkeit zu, als es die Aufklärung
vermochte. Gegenüber ihrem Menschenbild, das überall als
das gleiche, einheitliche Vernunftwesen erscheint, so daß der
Mensch eigentlich nur die Ausprägung und das Werkzeug der
allgemeinen Vernunft ist, betont Herder mit großer Energie
den Gedanken der Individuation des Menschen. Er ist gewiß
: Jede Person, jede Personengemeinschaft, jede Epoche lebt
aus einer ihr allein eigentümlichen, also aus einer besonderen
einmaligen, nie wiederholbaren Mitte heraus. So lautet Herders
Bekenntnis: „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit
in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!" Damit
protestiert er gegen die Meinung der Aufklärung, der Sinn der
Geschichte bestehe nur in der Verwirklichung eines Endzieles
und alle Epochen, alle Völker und Kulturen seien nur die
Stufen und der Unterbau für das Standbild des Endzieles
Herder schreibt: „Kein Ding im ganzen Reiche Gottes ist
allein Mittel, alles ist Mittel und Zweck zugleich." Wir fühlen
uns erinnert an Rankes berühmtes Wort, daß jede Epoche unmittelbar
zu Gott sei. Eine Welt von lauter einmaligen Gestalten
kann deshalb auch nicht an einem Normalmaß gemessen
werden, sondern jede Epoche muß an ihrer Aufgabe
beurteilt und gewertet werden.

Aus dein Prinzip der Individuation folgt ganz von selbst
das überaus fruchtbare Prinzip der Negation. Individuation
ist immer auch Verzicht oder wie Herder sagt „Privation".
Wer das Eine ist, kann nicht das Andere sein. Man erinnert sich
an das berühmte Sprichwort: „Nur in der Beschränkung zeigt
sich der Meister". Diese Negation besagt aber noch mehr. Die
Geschichte zeigt mit immer neuen Beispielen, daß ein Positives
oft durch Zusammensein mit einem Negativen verwirklicht
werden kann. Dies Negative ist das „Vehiculuin", 11111
das Positive zur Wirkung kommen zu lassen. So protestiert er
gegen die „sanften Philosophen", die an den großen Wandlungen
und Umschwüngen der Geschichte ihren leidenschaftlich
-explosiven Charakter auszusetzen haben und diesem
„Sturm des Handelns" einen „stillen Gang" der Geschichte
vorgezogen hätten. Er verdeutlicht das am Thema der Reformation
: „Habe immer der Reformator auch Leidenschaften
gehabt, die die Sache selbst nicht forderte, die Einführung der
Sache forderte sie, und eben daß er sie hatte, eben das ist
Kreditiv seines Berufs." (Also Luther hat recht gegen Erasmus
.) So lesen wir bei Herder schon vor Hegel den grimmigen
Satz: „Der Gang der Vorsehung geht auch über Millionen
Leichname zum Ziel". Herder weiß: „Mensch bleibt immer
Mensch". Er bleibt „Hieroglyphe des Guten und des Bösen";
in ihm ist ebensogut „Engel- wie Teufelsgestalt". In der „Geschichte
" gibt dieses verborgene Doppelgeschöpf von sich die
vollständigste Kunde.

Wenn wir nun nach dem Sinn der Geschichte fragen, wie
Herder ihn beschreibt, so finden wir bei ihm beinah schwärmerische
Hoffnungen: „Geschichte der Menschheit im edelsten
Verstände — du wirst werden!" Aber es kann nicht wie bei
der Aufklärung ein einheitlicher einziger Sinn sein, den man
auf eine knappe präzise Formel bringen könnte. Jede Epoche
hat ja ihre eigene Aufgabe und ihren eigenen Sinn. Freilich
fügen diese Epochen sich fugenlos zusammen und bilden einen
großen Zug der Begebenheiten. Was Herder in der Gestalt
der Welt vor sich sieht, ist „die tausendgestaltige Fabel voll
eines großen Sinnes". So befindet sich Herders Geschichtsdeutung
in einer gewissen Schwebelage zwischen der Betrachtung
, die jeder Epoche ihren eigenen Sinn zuschreibt, und der
Suche nach einem einheitlichen Sinn des Geschichtszusammen-
hangs aller Epochen. Und Herder bleibt nur seiner eigenen
Grundhaltung treu, wenn er gar nicht den Versuch unternimmt
, die Sinneinheit des geschichtlichen Ganzen in eine Formel
zusammenzupressen, die sogar den Sinngehalt der Zukunft
in sich schlösse. Man könnte vielleicht sagen: Er entdeckt den
Sinn der einzelnen Epochen und der einzelnen Völker und Kulturen
und glaubt an einen Sinn des Ganzen. Den beschreibt
er gern mit Bildern, etwa dem Wachstum eines Baumes aus