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Ausgabe:

1947 Nr. 3

Spalte:

167-168

Autor/Hrsg.:

Schniewind, Julius

Titel/Untertitel:

Der Verkündigungscharakter der theologischen Wissenschaft 1947

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167

Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 3

168

Väterglauben aber bringt viele in Versuchung, mit den überlieferten
Vorstellungen und Lehrsätzen auch das Genieinte,
mit der Schale den Kern wegzuwerfen. Mit der Ehrfurcht
steht, wie beim Verhältnis des Einzelnen zur Kirche die Liebe,
so bei theologischer Arbeit der Wille zur Wahrheit in Spannung.

4. Können katholische Christen zwar in der Bevorrechtung
der Kirche durcli Konstantin, aber nie in der Verkirch-
lichung des Christentums an sich schon ein Stück Sündenfall
des Christentums sehen, so empfinden Evangelische die Gefahren
alles Kirchentums stärker. Jeder Anspruch kirchlicher
Stelleu oder Einrichtungen auf Unfehlbarkeit gilt uns als unrecht
, weil unfehlbar zugleich unverbesserlich bedeutet.

5. Insbesondere erscheint dem Katholiken grundsätzlich
jeder Widerspruch gegen das Dogma, gegen kirchenamtlich
festgelegte theologische Sätze als Sünde (von Vorbehalten
milder gesinnter katholischer Theologen der Neuzeit abgesehen
). Dem Evangelischen muß, so ernst er die Gefahr
nehmen soll, daß das Christentum bei kritischer Theologie sich
auflöst, doch jede Fesselung des Forschens nach Wahrheit als
mit dem Sinne Jesu unvereinbar erscheinen. Insofern ist auch
das Dogma, das Mittel sein will, in der Welt die christliche
Wahrheit durchzusetzen, und das (als Dogma von Sünde und
Erlösung) ein wirksames Mittel im Kampf gegen die Sünde
gewesen ist, doch andrerseits ein Stück Sündenfall des Christentums
. Rechtes Christentum ist in allem bußfertig, aber
bewußt nie fertig, nach der Mahnung „erneuert euch, refor-
mamini, geht zurück auf das, was Jesus fordert".

Niederbobritzsch H. Mulert

Der Verkündigungscharakter der theologischen
Wissenschaft

L Theologie als Lehre

1. Jesus ist in seinem Erdenleben Lehrer. Aber in dieser
Lehre als dem Evangelium erscheint die königliche Vollmacht
des Menschensohns von Daniel 7, die Gegenwart der zukünftigen
Gottesherrschaft.

2. In der Armut Jesu des . Lehrers bekundet sich die Kon-
deszenz Gottes. Die Gegenwart Gottes, in Jesus erschienen,
wird nur von den „Armen" aufgenommen. Diesen Charakter
des Skaiidalon trägt auch die Lehre des erhöhten Christus
(2. Joh. 9, Rom. 6, 17, Eph. 4, 21), der als der Erhöhte der
Gekreuzigte bleibt.

3. Daher ist alle christliche Lehre in sich antithetisch
(Kampf gegen Nomisten wie Antinomisten schon im NT), ist
theologia crucis im Gegensatz zur theologia gloriae des Juden
wie des Heiden.

II. Theologie als Charisma

1. Die „Lehre" ist Entfaltung des Logos Gottes zur Faßlichkeit
und Behältlichkeit, zum Verstehn und Wissen. Sie
bleibt in aller Entfaltung „Kreuzes-Logos" und steht unter
der Regel von 1. Kor. 8, 1—3; sie ist Entfaltung des Logos
Gottes zum jeweils Notwendigen und Aufbauenden des
Kerygma.

2. Entsprechend ist das Charisma der Theologie innerhalb
der ecclesia perpetuo mansura zu bestimmen; die Theologie
entfaltet das Eine Kerygma für die jeweilige C.cncä.

3. Die Armut der Theologie liegt darin, daß ihr keine
securitas gegeben ist für biblische Formeln, Wörter, Wahrheiten
, Tatsachen: certitudo, nicht securitas.

4. Die Gefahr der Theologie ist durch 1. Kor. 8, iff. bezeichnet
. Die Gefahr wird aber nicht durch Flucht vor der
Theologie beseitigt. Die Flucht „aus der Lehre zum Leben",
die Flucht ins Ineffabile oder in die Orthodoxie ist immer nur
Flucht vor dem Kreuzes-Logos selber.

III. Theologie als Wissenschaft

1. Die christliche Lehre als Entfaltung des Kreuzes-Logos
vollzieht sich durch fortgesetztes geordnetes Fragen. Dies eben
ist der Begriff der Wissenschaft. (Der Begriff einer „voraussetzungslosen
" Wissenschaft ist nicht zu Ii alten; jede Thesis
neuer Voraussetzungen aber ist letztlich theologisch gedacht,
worüber von I, 3 her zu urteilen wäre.)

2. Aus dem Verkündigungscharakter der christlichen
Lehre ergibt sich die wissenschaftliche Arbeit der Theologie.

A. Alle Fragen der Arbeit am NT spiegeln die Kondeszendenz
Gottes in ihrer Einmaligkeit: das Problem der
Sprache, der Interpretation, der Jeweiligkeit (Gelegenheits-
schriften!), des Skandalon.

B. Zum AT: 1. Das AT als Bibel Jesu; 2. die Einmaligkeit
der Wege Gottes im AT; 3. die Christusbezogenheit des

AT; 4. das AT als „Schrift". Uberall ergibt die Frage der
christlichen Lehre den Auftrag zum wissenschaftlichen Fragen.

C. Nur aus der Verkündigung des dritten Glaubensartikels
ergibt sich die Aufgabe, Kirchengeschichte zu treiben :
es gilt die Stimme der perpetuo mansura zu vernehmen; dem
dient auch die Fähigkeit der „historischen Kunst".

I). Die Systematik, als die eigentliche Theologie, gibt die
Botschaft der Apostel in ein jeweiliges Geschlecht der perpetuo
mansura (II, 1 und 2) mit seinen jeweiligen Antithesen (I, 3).

Von da aus wäre (E) Aufgabe der Praktischen Theologie,
das Lehren zu lehren. Die wissenschaftliche Bemühung in all
ihrer Armut wäre auch hier wieder ein Ausdruck für den Verkündigungscharakter
der Theologie.

Halle/S. J. Schniewind

Kirche und theologische Wissenschaft

1. Die Kirche kann ohne die theologische Wissenschaft
nicht stiii.

Die theologische Wissenschaft kann ohne die Kirche nicht
sein.

2. Isoliert sich die Kirche von der theologischen Wissenschaft
, dann wird sie sich in ihrem Leben und Arbeiten rein
emotional oder voluntaristisch einstellen und das Wichtigste,
die Wahrheitsfrage, übersehen.

Isoliert sich die theologische Wissenschaft von der Kirche,
dann wird sie rein philologisch, historisch, philosophisch oder
religiös arbeiten und wird dabei der Idee verfallen, als ließe
sich die Wahrheitsfrage abgesehen vom (Mauben beantworten.

3. Daraus ergibt sich: Die theologische Wissenschaft ist
zwar eine Wissenschaft wie andere, sie arbeitet mit den
gleichen Mitteln wie die anderen Wissenschaften. Aber sie
arbeitet unter einer Voraussetzung, die für die anderen Wissenschaften
nicht gegeben ist, die die anderen Wissenschaften
möglicherweise nicht verstehen, jedenfalls oftmals nicht verstanden
haben.

Deswegen sieht die Kirche die theologische Wissenschaft
doch als volle Wissenschaft an; sie erklärt, daß sie gerade
diese Wissenschaft zu ihrem Leben und Arbeiten benötigt.

4. Die Kirche wird der theologischen Wissenschaft in
ihren Arbeitsmethoden völlige Freiheit lassen.

Die theologische Wissenschaft wird der Kirche völlige
Frdheit in ihrer Verkündigung und in ihrer Arbeitsweise
lassen.

5. Dennoch wird die Kirche das von der theologischen
Wissenschaft Erarbeitete immer mit der Gesamtbotschaft der
Heiligen Schrift und mit den Bekenntnissen der Kirche konfrontieren
.

Die theologische Wissenschaft wiederum wird die Verkündigung
und die Arbeitsweise der Kirche mit den Ergebnissen
ihrer Arbeit konfrontieren.

6. Kirche und theologische Wissenschaft werden also miteinander
stets ins Gespräch eintreten, werden aufeinander
hören und sich gegenseitig zur Sache rufen.

Hören sie nicht aufeinander, dann ist die Isolierung eingetreten
, die für beide Seiten nur unheilvoll sein kann.

7. Die Sache, um die es beiden letztlich geht und darum
insbesondere in ihrer Beziehung zueinander geht, kann nur
die glaubende Erkenntnis dessen sein, was die Heilige Schrift
unter dem dreieinigen Gott verstellt. Dieser Sache dient in
stringenter Beziehung die Forschungsarbeit der theologischen
Wissenschaft, dient ebenso die denkende und erkennende Arbeit
der Kirche, dient aber ebenso das Erkennen jedes glaubenden
Gemeindegliedes.

8. Geraten Forschungsarbeit der theologischen Wissenschaft
einerseits, Erkennen der Kirche und Erkennen des
glaubenden Gemeindegliedes andererseits in Widerstreit, so
kann die Lösung des Konflikts nur dann zustande kommen,
wenn beide Seiten sich dem Zentrum der Heiligen Schrift
stellen.

Nicht aber tritt eine unverfälschte Lösung des Konflikts
dadurch ein, daß sich die theologische Wissenschaft nach der
sogenannten Gemeinde-Theologie ausrichtet, oder dadurch, daß
die Theologie des Einzelnen und der Gemeinde sich nach der
theologischen Wissenschaft ausrichtet.

9. Was rechte und falsche Theologie ist, muß immer neu
erarbeitet werden.

Jede Zeit hat ihre besondere theologische Fragestellung,
da von der Welt her immer neue Fronten aufbrechen.

So verschieden daher die theologische Antwort sein mag,
die zu ihrer Zeit, und zwar sowohl von der theologischen
Wissenschaft als auch von der Kirche gegeben wird, so wird
sich doch die Antwort immer streng an das Zeugnis der ersten
Zeugen zu halten haben.