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Ausgabe:

1947

Spalte:

163-164

Autor/Hrsg.:

Stephan, Horst

Titel/Untertitel:

Theologie und Kirche 1947

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163

Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. ;

logie Freiheit und Raum lassen, die sie als rechte und notwendige
Theologie anzuerkennen vermag. Und sofern sie selbst
in ihrem Handeln eine theologische Linie einhalten muß — und
das wird sie immer müssen —, muß sie versuchen, sich an dasjenige
zu halten, was aller rechten Theologie der Zeit gemeinsam
ist. In Notzeiten wird es jedoch ihre Pflicht sein, die jeweils
notwendige Theologie zu vertreten, den Widerspruch der unerlaubten
Theologie herauszufordern und diesem Widerspruch
dann mit geistlichen Mitteln zu begegnen.

Unrechte Theologie soll die Kirchenleitung nicht unterdrücken
, sondern soll helfen, sie zu überwinden. Dies allein
entspriclit den Gesinnungen des Gottesreichs. Von lebensge-
führdender Irrlehre soll sie sich scheiden. Aber auch diese
Scheidung muß, wie alle Dinge in der Kirche, in der Liebe geschehen
.

XVI.

Es ist Aufgabe der Kirchenleitung, sich ein klares Urteil
darüber zu verschaffen und zu erhalten, wie es jeweils um die
Kirche bestellt ist und welche Lebeusfunktiou im gegebenen
Augenblick eine besondere Aufgabe hat. Sie hat nicht das
Recht, einer dieser Funktionen ein für allemal den Primat zuzuerkennen
und andere Funktionen für weniger wichtig zu
erklären. Sie muß im Gegenteil dann, wenn eine dieser Funktionen
infolge einer besonderen Zeitströmung die andern in
den Hintergrund drängt, diesen anderen Raum für ihre Wirksamkeit
schaffen. Dabei wird sie sich zu dem Gesamtbewußtsein
der Kircheuglieder und der Kirchengemeinden oft genug
in Widerspruch setzen. Aber eben dies ist ihre Pflicht. Eine
Kirchenleitung, der nicht innerhalb der Kirche ebenso wie
außerhalb widersprochen wird, ist keine echte Kirchenleitung.

XVII.

Insbesondere hat die Kirchenleitung die Pflicht, bei der
Ausbildung der Diener am Wort alle Lebensfunktiouen der
Kirche zu voller Auswirkung zu bringen. Lehranstalten der
Kirche müssen /.war zunächst der Theologie dienen, weil rechte
Theologie die Voraussetzung für eine rechte Verkündigung ist
und weil rechte Theologie sich nicht von selbst einstellt, sondern
gelehrt werden muß, und zwar von solchen, die sich selber
mit Ernst darum gemüht haben. Aber keine Lehranstalt für
die Diener am Wort darf der Pflege der übrigen Lebensfunktionen
der Kirche entraten. In ihnen allen muß der Wille zu
missionarischer Durchdringung alles Lebens, zur Bewährung
der Liebe und zu einem echten Gebetsleben gepflegt werden
— auch um der Theologie willen, weil für diese die Gesamthaltung
des Menschen grundlegend ist. Missionarischer Wille,
Liebe und Gebet können nicht gelehrt, wohl aber geweckt,
gepflegt und geheiligt werden. Und eben dies ist die Aufgabe
jeder rechten Ausbildung im Dienst am Wort.

Umgekehrt können auch die Ausbildungsstätten für den
diakonischen Dienst der theologischen Belehrung nicht entraten
. Der Dienst in der blauen Schürze von Bethel dispensiert
nicht von der Bemühung um eine rechte Theologie.

XVIII.

Die Theologen sind zu lehren, daß das Leben der Kirche
nicht allein von der Theologie abhängt. Die Gemeinden sind zu
lehren, daß ohne den Dienst der Theologie ein echtes christliches
Leben weder für den Einzelnen, noch für die Gemeinde,
noch für die Gesamtkirche möglich ist. Gott aber ist täglich
zu bitten, daß er alle Lebensfunktionen der Kirche in dem
Einen erhalte, wodurch allein sie geheiligt werden können.
Dies eine ist die Demut.

Theologie und Kirche

Von den beiden Hauptspauuungen der Theologie aus gesehen

1. Die Theologie als die wissenschaftliche Selbstbesinnung
des auf Gottes Offenbarung bezogenen Glaubens
(über seinen Ursprung, seinen Inhalt, seine Geschichte,
seine je gegenwärtigen Aufgaben und Wirkungsmittel)
empfängt ihre Bewegungskräfte aus zwei grundverschiedenen
Dimensionen.

2. Sie wird durch die Grundverschiedenheit von Wissenschaft
und Glauben selbst sowie durch die Unberechenbarkeit und
Unregulierbarkeit ihres Verhältnisses beständig in gefährliche
Spannungen verstrickt.

3. Wissenschaf t ist nicht identisch mit der im Neuen Testament
abgelehnten Vernunft. Ihr oberster Leitstern ist das

Suchen nach Wahrheit um der Wahrheit willen. Dafür
nimmt sie alle menschlichen Kräfte in ihren Dienst.

4. Die Unbedingtheit ihres Wahrheitsstrebens gibt ihr einen
religiösen Zug und erlaubt es, sie nicht als dämonisch,
sondern als Gott-gewollt und Gottes-dieust zu werten So
wird sie für den christlichen Glauben assimilieruugsfähig,
und die — bleibende — Spannung verwandelt sich aus
einer zerstörenden in eine bauende Macht.

5. Die Wissenschaftlichkeit leistet der — an sich schon verwissenschaftlichen
— Selbstbesinnung des christlichen
Glaubens wertvollste Hilfe, indem sie

a) ihm die tödlichen Gefahren der Selbstgenügsamkeit und
Selbstsicherheit, der eudämonistischen Erweichung des
Heilsmotivs, der traditionalistischen Erstarrung der
Offenbaruugsgewißheit bekämpfen hilft,

b) das Denken schärft und zur methodischen Strenge
erzieht,

c) das Bild der gegebenen Wirklichkeit erweitert und verstehen
lehrt,

d) unentbehrliches Rüstzeug für die Auswirkung des christlichen
Glaubens, vor allem auch für die geistige Auseinandersetzungen
mit der jeweiligen Gegenwart, darbietet
,

6. Ihren spezifischen Inhalt empfängt die christliche Theologie
aus der Begründung des Glaubens auf die geschichtliche
Off enbarung Gottes und auf deren freie Neubelebung
in der christlichen, Kirche. Das ist der tiefste Sinn des
beständigen Rückgriffs auf das biblische Zeugnis und auf
die immer neue religiöse wie wissenschaftliche Begegnung
mit ihm.

7. Der eigentliche Träger der Theologie ist daher grundsätzlich
weder der individuelle Glaube noch der einer'Einzelkirche
noch der einer besonderen Zeit oder Bewegungsrichtung
, sondern der christliche Glaube mit der ganzen
Fülle seines Inhalts und seiner Sendung, d.h. die Christenheit
als Ganzes.

8. Auch ihr Dienst gilt der Gesamtkirche. Sie ist, obgleich
von den Eiuzelkirchen gepflegt, doch Besinnung des christlichen
Glaubens auf die Gesamtheit seiner Aufgaben, und
zwar nicht nur seiner Bewahrungs-, sondern auch seiner
Entfaltungsaufgaben, trägt also im weiten Sinn ökumenische
Züge.

9. Da die gesamtkirchliche Bezogenheit des Glaubens sich
stets durch einzelkirchliche vermittelt, erwächst der Theologie
im besonderen die Aufgabe, die gesamtkirchliche und
die einzelkirchliche Besinnung wechselseitig aneinander
zu prüfen.

10. Die Hauptschwierigkeit für die Theologie liegt hierbei
darin, daß die Gegensätze, die durch das Verhältnis des
Teils zum Ganzen und der Teile untereinander entstehen,
von dem Gegensatz des Wahren zum Falschen mannigfach
durchkreuzt werden.

*

11. Die starken Spannungen, die aus alle dem für die theologische
Arbeit erwachsen, geben dieser eine besondere Stellung
im konkreten kirchlichen Leben. Sie ist einerseits
notwendige Funktion des Glaubens und Bildnerin
der zukünftigen Amtsträger, also höchst positiv mit ihm
verbunden, anderseits vor allem durch ihre historische
und Sachkritik eine beständige Beunruhigung des empirisch
-kirchlichen Zustandes. Sie ist daher stets von der
Kirche her durch mißtrauische und unbußfertige, von der'
Theologie her durch verantwortungslose Haltung ihrer
Vertreter bedroht.

12. Ihr kirchlicher Charakter wird nicht durch äußere Bindungen
irgendwelcher Art verbürgt, sondern allein durch
innere aber unkontrollierbare Gebundenheit an dieselbe
Offenbarung Gottes, von der die ganze Kirche lebt, und
durch das Bewußtsein der Verantwortung auch gegenüber
der Einzelkirche, innerhalb der ihre Vertreter stehen und
wirken. Sie bedarf der äußeren Freiheit, um sachgemäß
dienen zu können. Ihr Dienst wird in dem Grade fruchtbar
sein, in dem er, einschl. seiner kritischen Seite, als kirchliche
Funktion sowohl geübt wie anerkannt und verwertet
wird1.

Leipzig Horst Stephan

') Vgl. meinen Artikel „Evangelische Theologie" ROO 5,1116—24,
und meinen Aufsatz „Historische Schriftbetrachtung als kirchlicher Dienst",
Theoi. Blätter 1941, Nr. 5.