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Ausgabe:

1947 Nr. 3

Spalte:

133-140

Autor/Hrsg.:

Weiser, Artur

Titel/Untertitel:

Psalm 77 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 3

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gängig, das neue Gesetz zu veröffentlichen; in der Verborgenheit
eines Seitengemaches des Tempels vergessen, harrte es
der Auffindung durch den Priester Hilkia entgegen und wurde
Grundlage des feierlichen Bundesschlusses unter Josia im
Jahre 621. Indem Josia vor Jahwe den Mann von Juda und
den Bürger Jerusalems, um die'Formel der Baruch-Biographie
Jeremias zu gebrauchen, auf dieses Gesetzbuch verpflichtete,
erneuerte er den am Sinai-Horeb geschlossenen Bund, dessen
Wiederbelebung das Hauptanliegen jenes Gesetzbuches war.
Aber wenn seine Ratgeber ihm nahelegten, das 12.Kapitel des
Deuteronomiums, das von den Kultstätten handelte, im Sinne
eines uneingeschränkten Monopols des Jerusalemer Tempels
zu interpretieren, gab er damit der mit dem Davids-Bund eng
verschwisterten Lade- und Tempeltradition die Möglichkeit,
sich zu behaupten. Damit aber war die Verschmelzung beider
Ideenkreise, des im Sinaibund und des im Davidsbund verkörperten
, wesentlich gefördert. Zwar findet sich auch bei Ezechiel
ein Schwanken zwischen Sinaibund und Davids-Bund,
besonders in der Zukunftserwartung, und auch Deuterojesaia
glückt die Zusammenschau noch nicht ganz, wenngleich er es
war, der — am deutlichsten in Cap.48,1 ff. — Israel mit Juda
verselbigte. Aber neben die bei ihm häufig erwähnten Aus-
zugstradilionen treten doch nicht nur die Tempeltradition, sondern
auch in Cap.55 die „die Zeiten überdauernden Bundes-
erweise an David". Erst die nachexilische Zeit sollte vollenden
, was in vorexilischer Zeit angebahnt war. Aber wir
brechen mit der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung
ab und wenden uns noch kurz der theologischen Seite des

Problems zu. Wir haben oben die Frage aufgeworfen, ob hinter
der verschiedenen Verkündigung des Arnos und Hosea eine
oeconomia specialis Dei stünde und in jenem Zusammenhang
verneint. Es wird jetzt nötig, diese Frage erneut aufzunehmen,
aber nunmehr sie auf das ganze erörterte Problem auszudehnen
. Der Hebräerbrief sieht diese Frage, wenn er sagt, Gott
habe durch die Propheten noXvfieawe xal noi-vrpönmt viel-
teilig und vielgestaltig, zu den Vätern geredet. Wie vierteilig
und vielgestaltig, zeigt diese eben erörterte Frage nicht minder
wie jede eingehendere Beschäftigung mit dem Alten Testament.
Auch dieses macht sich darüber Gedanken; denn wenn z.B. zu
Salomos Zeiten der Jahwist in der Sintfluterzählung davon
berichtet, Jahwe habe vor dieser Heimsuchung erklärt, das
Dichten und Trachten des Menschen sei böse von Jugend auf,
und deshalb sei die Menschheit durch eine Flut zu vernichten!
und er dann nach der Flut J ahwe sagen läßt, er wolle hinfort
nicht mehr den Ackerboden um des Menschen willen verfluchen
, da das Gebilde des Menschenherzens von seiner Jugend
an böse sei, so steht unsere Frage im Hintergrund. Gelöst
wird sie nur durch das Wissen darum, daß der Gott der
Bibel weder ein summum ens noch ein summum bonum,
sondern der summus ens und summus bonus und damit der
lebendige Gott ist, der gleich mächtig in Natur und Geschichte
wirkt und der das Gottesvolk des alten Bundes durch die
vielteilige und vielgestaltige Offenbarung erzog zur Begegnung
mit Jesus Christus und das Gottesvolk des neuen Bundes
durch Jesus Christus und den von ihm verheißenen Parakleten
in alle Wahrheit leiten will.

Psalm 77

Ein Beilrag zur Frage nach dem Verhältnis von Kuli und Heilsgeschiehte

Von Artur Weiser, Tübingen

Psalm 77, den die Alten für die tristisshna omniuin ode
hielten, gilt der gattungsgeschichtlichen Forschung als ein
individuelles Klagelied, das in einen Hymnus ausmündet und
beschreibt, wie sein Dichter „mit den Jubelkläugen des Hymnus
die schmerzlichen Klagen seiner Seele übertönt" (Gunkel,
Stärk). Allerdings unterscheidet sich der Psalm inhaltlich von
den meisten Klagepsalmen dadurch, daß nicht körperliches
Leid oder Verfolgung den Gegenstand der „Klage" bilden,
sondern die innere Not, die dein nachdenklichen Dichter aus
der Betrachtung des Unterschieds von Einst und Jetzt in der
Geschichte seines Volkes erwächst, so daß er an Gottes Gnade
und Treue irre wird. Leider sind wir nicht in der Lage zu erkennen
, was für Verhältnisse seiner Gegenwart der Psalmist
im Auge hat, aus denen er den Schluß zieht, daß Gott sein
Volk „für immer verstoßen habe", v 8. Daß der Psalm v 16
das Volk die „Söhne Jakobs und Josefs" nennt, könnte ähnlich
wie Ps 80, 2; 81, 5L auf nordisraelitische Herkunft aus
vorexilischer Zeit deuten; mehr gibt der Psalm für die Rekonstruktion
seines äußeren Rahmens nicht her.

Sein Hauptproblem liegt auf der Innenseite, auf dem,
was in der Seele des Beters vor sich gegangen ist. Die Schwierigkeit
des Psalms, die in dieser Hinsicht noch weiterer
Klärung bedarf, ist der scheinbar unvermittelte Gegensatz
zwischen dem I. und II. Teil nach Stimmung und Gehalt, der
Duhm, Briggs u. a. zu dem radikalsten Ausweg einer literar-
kritischen Trennung von Klage und Hymnus und ihrer Zuweisung
an verschiedene Verfasser veranlaßt hat. Da, wie
'loch zu zeigen sein wird, am Schluß des Psalms eine Rück-
he/.iehung auf die Frage des I. Teils erkennbar ist, wird mau
Ule Einheit des Lieds nicht vorschnell aufgeben dürfen und
der Frage des Ubergangs von der verzweifelten „Klage" zum
begeisterten Hymnus docli nähere Beachtung schenken
■aussen. Die für andere Klagepsalmen gebotene Erklärung,
''aß ein priesterliches Orakel den Stimmungsumschwung veranlaßt
habe1, kommt bei Ps 77 mangels jeglicher direkter und
'"direkter Andeutung nicht in Frage, so daß die meisten Aus-
Ieger den Wandel der Gedanken und Stimmung im Innern
des Dichters suchen und sich damit abfinden, diesen merkwürdigen
Vorgang mehr oder weniger psychologisch verständ-
'eh zu machen. Der Psalm selbst gibt — begreiflicherweise —
keine Anleitung zu einer solchen psychologischen Analyse; und
s° ist es zu verstehen, daß die Erklärungen an diesem Punkt
auseinander gehen. Sie sind zwar darin einig, daß der Um-
S(,hwung der Stimmung beim Beter dadurch erfolgt, daß er
•■an die großen Taten Gottes in der Vergangenheit denke"

') Vgl. Giinkel-Bcgrlch, Einleitung in die Psalmen, S. 246f.

Otto Eißfeldt zum 60. Geburtstag

(H. Schmidt), also durch die Flucht aus der traurigen Gegenwart
in lichtvollere Erinnerungen an vergangene Zeiten seine
Verzweiflung überwunden habe. Dem steht aber die Aussage
von v6 entgegen, nach der das Uberdenken der „Vorzeit"1
den Dichter eben nicht zur befreienden Erkenntnis, sondern
zum Zweifel an Gott geführt hat. Da sich die Seelenkämpfe
des Dichters, wie die Verbaltempora, die man nicht ohne
Schaden vernachlässigen darf, ausweisen, offenbar über einen
längeren Zeitraum erstreckt und bis in die Gegenwart nachgewirkt
haben, so ist nicht zu begreifen, warum der Psahnist
in v 6 nicht auch schon der grundlegenden Heilstaten Jahwes
bei der Rettung aus Ägypten gedacht haben sollte8
und wieso er mit einem Mal von seiner Erinnerung aus alle
seine Zweifel zu überwinden imstande ist. Wenn Gunkel
meint, der Dichter habe „im stillen schon" seine Zweifelsfragen
v 8—10 mit einem „unmöglich" beantwortet, so nimmt
er der eindrücklichen „Klage" das Gewicht ihres Ernstes und
sieht sich gezwungen, v 11 ganz gegen die Stilforni der vorausgehenden
Fragen ebenfalls in eine Frage abzuändern: „kann
sie mattgewordeu sein, ist verwandelt des Höchsten Rechte ?",
obwohl er mit Nowack daran festhält, daß das we'amarti v 11
den Eintritt der neuen Erkenntnis anzeige. Der Umschwung
der Stimmung wird durch diese nicht unbedenkliche Nivellierung
keineswegs erklärt, sondern nur erschwert. Sowohl der
ganze I.Teil v 2—10 als auch v 11, dessen Textbestand zu
ändern kein Grund vorliegt, zeigen klar, daß der Dichter durch
alles Beten v 2f. und grübelnde Nachdenken 4ff. nicht Herr
wird über seine Zweifel an Gott. Das Rätsel des Psalms, wie
sein Verfasser trotzdem von den Qualen seiner Anfechtung
zum jubelnden Hymnus gelaugt, bleibt nach wie vor in voller
Schärfe bestehen. Auch auf rein inuerpsychologischem Wege
ist es nicht zu lösen.

Ks fragt sich demnach, ob nicht von einem anderen Gesichtspunkt
her der Weg des Dichters von der „Klage" zum
Hymnus und damit das Verständnis des ganzen Psalms geklärt
werden kann. Genau gesehen ist der I. Teil trotz der
Verwendung der Formen des Klagelieds keine eigentliche
Klage, sondern ein Bekenntnis, das, worauf Kittel, Gunkel
und II. Schmidt mit Recht verweisen, mit Ps 3g, 2ff.; 73,
r3—J7 eine gewisse Verwandtschaft aufweist. Auch wenn man
die einzige Anrede an Gott v 5 nicht mit Duhm und Gunkel,
die '«husot statt 'ahasta lesen, zu ändern geneigt ist, fällt das

') Beachte den gleichen Ausdruck In v 6 u. 12.

') Stärk und Kittel denken bei v 6 an die Verheißungen für David und
die Heilsweissagungen der Propheten und erst bei v 12 an die Mosezeit, eine
Unterscheidung, die Im Text keinerlei Anhalt hat.