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Ausgabe:

1947

Spalte:

92-93

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

La critique de Kant 1947

Rezensent:

Liboron, Herbert

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Theologische Literaturzeituug 1947 Nr. 2

92

Verzerrtheit der Descarteschen Theorie von den zwei Welten
begreifen lernen: Mein Sehen-Können bezeugt, daß ich seins-
haft Anteil habe an der Anschauung, an dem gestalthaften
Zusichkommen des Alls.

Nachdem wir nun den wesentlichen Inhalt der fünf Vorträge
kurz besprochen haben, seien noch einige Bemerkungen
hinzugefügt über einzelne Punkte, in denen ein Physiker von
Fach nicht die Ansicht des Verfassers teilen kann, obwohl
dieser als Philosoph freilich erstaunlich tief in die moderne
Physik eingedrungen ist. Die englische Philosophie des Sensualismus
hat sicherlich auf die Geisteshaltung Europas, besonders
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen
großen Einfluß gehabt, aber doch nicht in besonderem Maße
gerade auf die Physik. Der „Positivismus" von E. Mach ist
sicherlich nichts weiter als eine Abart des Sensualismus. Aber
der Einfluß von E. Mach auf die physikalische Wissenschaft
ist doch nur sehr gering gewesen. Wie ganz anders hat
L. Boltzmann auf die Entwicklung der Wissenschaft eingewirkt
! Und Boltzmann war der ausgesprochene Gegner
von Mach. Auch der „Wiener Kreis", mit welchem der Verfasser
sich eingehend auseinandersetzt, hat auf die meisten
Physiker keinen Einfluß ausgeübt. Hierher gehört auch, daß
der Verfasser eines der wichtigsten Grundgesetze der heutigen
Physik, welches mit dem recht unglücklich gewählten Namen
des „Relativitätsprinzips" bezeichnet zu werden pflegt, —
offenbar wegen dieses Namens — als einen relativistischen Satz
auffaßt. Das sog. „Relativitätsprinzip" sagt aus, daß in denjenigen
mathematischen Gleichungen, welche die allen Naturerscheinungen
letzten Endes zugrunde liegenden Gesetze
wiedergeben, die Zeit in ganz ähnlicher Weise eintritt, wie die
drei räumlichen Koordinaten, so daß man die Zeit in gewisser
Weise sogar als „die vierte Dimension" bezeichnen kann, die
zu den drei Dimensionen des Raumes hinzutritt. Dieses eigenartige
Gesetz hat eine ganz besonders hohe Bedeutung deswegen
, weil es auf eine große Einheit der ganzen Natur hinweist
. Denn es kann nur dann wirklich erfüllt sein, wenn allen
Erscheinungen schließlich eine einzige einheitliche Weltsubstanz
zugrunde liegt, der „Äther", von weichein das, was wir
als „Materie" wahrnehmen, nur eine besondere Erscheinungsform
darstellt. Die Grundgleichungen der elektrischen Vorgänge
, die eben Vorgänge im Äther sind, zeigen in sehr auffallender
Weise die von dem „Relativitätsprinzip" vorgeschriebene
Form, und an ihnen ist das Prinzip schon vor
A. Einstein von dem großen holländischen Physiker H. A.
Lorentz entdeckt worden, dessen Priorität auch Einstein
immer anerkannt hat. Die Verwirrung der Vorstellungen vom
„Relativitätsprinzip" bei den Laien ist dann noch bedeutend
vergrößert, als A. Einstein eine Theorie der Gravitation aufgestellt
und sie mit dem Namen der „allgemeinen Relativitätstheorie
" bezeichnet hat.

Noch einen zweiten Einwand, der das eigentliche Anliegen
des Verfassers näher berührt, hat der Physiker zu machen. Es
wird in der kleinen Schrift oft sehr stark betont, das Verfahren
der physikalischen Forschung, das Anstellen von Experimenten
, sei nur dadurch möglich, daß es eindeutige und strenge
Naturgesetze gibt. Ganz so einfach liegt aber die Sache doch
wohl nicht! Einerseits herrscht offenbar in der Natur eine großartige
Einheitlichkeit. Allein, was geschieht, liegen sicherlich
Vorgänge zugrunde, die durch wenige wunderbar klare mathematische
Gesetze geregelt sind. Aber anderseits sind die Erscheinungen
selber doch höchst kompliziert. Man denke nur
daran, wie klein die einzelnen Moleküle sind und wie ungeheuer
groß ihre Zahl ist, auch in dem kleinsten eben noch wahrnehmbaren
Körper! Jeder Fachmann weiß, daß alle Größen, welche
wir wirklich messen, nur als Durchschnittswerte der Vorgänge
in den ungeheuer vielen Molekülen aufzufassen sind, und daß
demnach alle Gesetze, welche die „Makrophysik" beherrschen,
nur Gesetze dieser Durchschnittswerte sind, und das heißt:
Wahrscheinlichkeitsgesetze. Außerdem werden infolge der
komplizierten Vorgänge in der Welt der Moleküle die klaren
und einfachen mathematisch formulierten Naturgesetze niemals
ohne weiteres aus den Versuchen gefunden. Schon Galilei
hat das deutlich ausgesprochen, daß man zu diesen Gesetzen
immer nur durch eine Idealisierung der Versuchsbedingungen
kommen kann. In allen wirklichen Versuchen treten gewisse
„Fehlerquellen" auf, welche niemals ganz zu beseitigen sind,
und welche der Forscher nur so klein als irgend möglich zu
machen sucht, deren geringe Wirkung dann schließlich noch
durch eine kleine „Korrektionsrechnung" aus den Resultaten
ganz entfernt werden muß, um so schließlich zu den strengen
scharf mathematisch fonnulierbaren Naturgesetzen zu
kommen.

Freiburg i. Br. Gustav Mie

Marechal, Joseph, S. J.: Le Point de Depart de la Metaphysique. Lecons
sur Ie diveloppement historique et thiorique de la connalssance. II: Le Con-
flit du Rationalisme et de l'Empirisme dans la Philosophie moderne avant
Kant. — III: La Critique de Kant. — 2. ed. revue. — Bruxelles: L'ßdition
universelle. Paris: Desclee, de Brouwer <& Co. 1942. II: 264 S., III: 328 S.
gr.8°. — Museuni Lessianum — Section philos. 4 et 5. Fr.belg.42.-u.50.-.
Im Vorwort zur 2. Auflage des zweiten Heftes seines
Werkes über den Ausgangspunkt der Metaphysik zeigt der
Verfasser die mancherlei Schwierigkeiten auf, die der Herausgabe
dieser Bände durch die Kriegsverhältnisse entstanden
waren, und auch diese kurze, zusammenfassende Besprechung
kann infolge der Zeitunistände erst verspätet erfolgen.

In eüier Charakteristik seiner vorliegenden Arbeit will M.
sie verstanden wissen als eine logische Anreihung von Monographien
, die weniger die Geschichte der Systeme als vielmehr
die ihnen zugrunde liegende Dialektik betrifft. Die Verwendung
von zahlreichen, günstig gewählten Zitaten aus Texten
der Philosophen in der Ursprache wird man gewiß dankbar
begrüßen. An mehreren Stellen erfolgen ausführlichere Hinweise
auf die Stellung der Scholastik und des Thomisnius zu
den behandelten Problemen, die von allgemeinem Interesse
und wohl besonders für katholische Leser gedacht sind.

In Cahier II wird zunächst als Überleitung zur modernen
vorkantischen Philosophie Nikolaus Cusanus eingehender betrachtet
und auf seine Docta ignorantia, die coincidentia oppo-
sitorum in Gott und seine oft mathematische Denkweise näher
eingegangen. Mehr gestreift werden die italienischen, spanischen
und französischen Philosophen der Renaissance zwischen
Nikolaus und Descartes. Das eigentliche Thema des Buches
ist die Auseinandersetzung mit dem vorkantischen Rationalismus
und Empirismus in ihrer Stellung zur Metaphysik. Descartes
kommt hierbei für den Rationalismus eine entscheidende
Bedeutung zu nicht nur hinsichtlich seines Ausgangspunktes
im „Cogito ergo sum" und seiner methodologischen
Prinzipien, sondern auch wegen der ungewöhnlichen Reichweite
der Wirkung seines Denkens auf die folgenden philosophischen
Systeme. Geht Descartes, wie der Verfasser sagt,
den Weg des metaphysischen Idealismus, so gelangt Spinoza
zu einem Monismus der Substanz, die uns in den Attributen
drs 1 »enkcns und der Ausdehnung entgegen! ritt. I Her wird vor
allem das in Kap. IV 83b S. H3ff. Gesagte über: „Dieu et
le monde dans leur rapport avec la connaissance humaine"
unser besonderes Interesse beanspruchen. Von Malebranche
wird hervorgehoben sein Ontologismus mit dein „voir en
Dieu" und sein Occasionalismus, während die Auffassungen
von Leibniz und Wolff als scholastischer Cartesianismus gewertet
werden. Die Philosophie von Leibniz wird übrigens
dabei im Unterschied zu Descartes und Spinoza auf die beiden
Formeln gebracht Dynamisnius der Vernunft und Pluralität
der Substanzen. In einem besonderen Anhang zum 2. Buch
ist der Bedeutung der mathematischen Verhältnisse und Funktionen
im Denken Descartes' und seiner Nachfolger eine eigene
Untersuchung gewidmet. Das 3. Buch wendet sich schließlich
dem Empirismus zu, der ja vor allem von den Engländern
vertreten wurde, während der rationalistische Ontologismus
mehr kontinental geblieben ist. Der Empirismus läßt wesentlich
nur die Sinneswahrnehmung gelten und gelangt von der
gemäßigteren Vorstufe bei Bacon über Newton zu Locke, den'
der Verfasser charakterisiert als „dogmatiste rationaliste qui
s'ignore, un cartesieu qui repousse lcs idees innres . . . les prin-
cipaux traits de sa philosophie: un semi-enipirisme double" d'un
semi-rationalisme" (S. 183). Uber den Spiritualismus Berkeleys
wird schließlich die Linie zu Hume geführt, von dem es
heißt: „c'est un empiriste consöquant jusqu'au bout" (S. 208);
er will die Methode, die Newton auf die Naturwissenschaften
anwandte, auch auf die Geisteswissenschaften angewandt
sehen. Während der Rationalismus eine durchaus positive Einstellung
gegenüber der Metaphysik einnimmt, ist das im Empirismus
, so bei Hume, nicht der Fall. Kant hatte sich mit beiden
Richtungen auseinanderzusetzen und wurde dabei zu einer
Synthese zwischen Rationalismus und Empirismus geführt.

Der Verf. ist in Cahier III bestrebt zu zeigen, wie Kant
in seiner allmählichen Loslösung vom Rationalismus von Leibniz
-Wolff und später vom skeptischen Empirismus Humes zum
mittleren Wege des Kritizismus gelangt. Dieser Weg wird
durch die verschiedenen Etappen hindurch von der vor-
kritischen Zeit der Verselbständigung von Wolff her bis zu
den drei Kritiken aufgezeigt und diese selbst einer eingehenden
Untersuchung unterzogen. Das gilt insbesondere von der Kritik
der reinen Vernunft, in der Kant nach einem Fundament
für die Metaphysik sucht, das etwa an Sicherheit den Grundlagen
der Logik und der experimentellen Wissenschaften entspräche
. Dabei wird die Bedeutung der synthetischen Urteile
a priori erörtert. Nach Untersuchung der Begriffe Raum und