Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1947

Spalte:

71-76

Autor/Hrsg.:

Eissfeldt, Otto

Titel/Untertitel:

Die Geschichtswerke im Alten Testament 1947

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

7)

Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 2

72

dabei, daß immer zwei Thesen aufgestellt werden müssen, um
das beiden entzogene Tertium auszudrücken. Es bedarf gleichsam
zweier geometrischer Oerter, um den gemeinten Punkt
zu bestimmen, den ein direktes und einfaches Aussprechen
und Ausdenken — so wie etwa ein mathematischer Lehrsatz
ausgesprochen und ausgedacht wird —■ nicht zu treffen vermag
. Aber auch diese Struktur des Denkens hat ihre säkularen
Parallelen, und man darf folglich aus ihrer Eigenart
nicht schließen, daß hier die einzigartige Sonderdialektik des
Glaubens gefunden sei. Auch diese Struktur bleibt ja nur ein
Zeichen dessen, daß menschliches Denken aus der Ferne und
aus den Abgründen, d.h. aus der Inadäquatheit heraus denkt,
daß es deshalb seiner ewigkeitsfremden Struktur treu bleiben
muß (peccatrix in re). Es gibt eben doch nicht jene analogia
entis, kraft deren die Vernunft auf die gratia eingespielt und
kraft deren sie ein transzendentes Zeugnis der Übernatur wäre.
Nein: das Subjekt des Glaubens samt seinem rationalen Bestandstück
ist nur ein punctum mathematicum. Es ist keine
Ebene, auf der sich deutlich ablesbare und in ihren Konturen
„überzeugende" Schatten abzeichneten. Nein: Wer den Gegenstand
nicht „hat" — wen der Herr nicht hat! — der kann
das Schattenspiel nicht enträtseln oder er macht es zu Chiffren
seiner eigenen Gedanken. Zu dem und nichts anderem wird
dann letztlich eine Interpretation autoritätsgebundenen Denkens
, wenn sie von der es autorisierenden Größe absieht. Nein:
der Glaube lebt von seinem Gegenstand, in den er „gekrochen"
ist, oder er lebt überhaupt nicht. Und die Interpretation des
Glaubens macht entweder dieses „Leben aus dem Gegenstande
" mit oder sie verliert ihre Vollmacht.

Der andere Grund, warum der Glaube keine eigene Dialektik
besitzt, sei nur angedeutet: Er hängt damit zusammen,

daß „das Wort Fleisch" wird, daß es eingeht in die Bedingtheiten
der sarkischeu Natur, sogar in das Schema der Sünde.
Um der Bruderschaft und der Solidarität mit dem Menschen
willen setzt es sich der Verwechselung mit dem Menschlichen
aus; es gibt sich in die völlige Wehrlosigkeit hinein, deren
Ende das Kreuz ist. Deshalb wohl vor allem hat Luther unter
dem Stichwort einer Theologia crucis die Andersheit des
Glaubens gegenüber der Vernunft entfaltet und zugleich die
Gefahr dargetan, daß um der Verwechselbarkeit des Logos
mit der Sarx willen wir die Initiative zu einer unerlaubten
Theologie der Glorie ergreifen und uns folglich auf dieselbe
Stufe mit Gott stellen könnten, daß wir also unter der Knechtschaft
der Inadäquatheit unseres Denkens die Ewigkeit vergessen
.

Das Denkgebäude, das ich etwa als Systematiker um den
Glauben errichte und das nach außen hin aussieht wie ein
anderes Haus, ist also auf Abbruch errichtet. Ich baue es wie
ein Kind mit seinem Steinbaukasten. Und abends kommt der
Vater und befiehlt, daß ich wieder einpacke. Dann merke ich,
daß es gar kein eigentliches Haus war und daß ich allem
Augenblickswähnen zum Trotz nicht darin wohnte.

Ich lebe, doch nun nicht ich, Christus lebt in mir.

Ich denke, doch nun nicht „ich" — ich bin ja eine neue
Kreatur — ich denke aus einer neuen mir geschenkten Existenz
heraus. Ich bin mit Christus dieser Welt „abgestorben"

samt ihrem Denken--wenigstens sofern es sich aus sich selbst

versteht und das heißt: sofern es sich vom Menschen her versteht
, der ja immer im perspektivischen Mittelpunkt seiner
Weltanschauungen, Mythen und Religionen steht.

Aber gerade dadurch habe ich es neu von Christus empfangen
.

Die Geschichtswerke

Von Otto Eißfe

Der I.Band von Noths „Überlieferungsgeschichtlichen
Studien", die sich die Untersuchung der geschichtlichen Überlieferung
aus der Welt des Alten Orients überhaupt zum Ziel
gesetzt haben, behandelt „die sammelnden und bearbeitenden
Geschichtswerke im Alten Testament". Drei solcher Sammelwerke
liegen im AT vor: der Pentateuch, das in Dtn 1—2. Reg
25 steckende deuteronomistische Geschichtswerk (Dtr), dessen
Anfang sich mit dem Ende des Pentateuch überschneidet,
und das chronistische Geschichtswerk (dir), also die beiden
Chronikbücher samt Esra- und Nehemiabuch. Da aber der
Pentateuch weniger ein Geschichtswerk als vielmehr eine
„Darstellung der Grundlagen des Glaubens und des Lebens"
sei, scheidet Noth diesen aus seiner Untersuchung aus und beschränkt
sich auf die Behandlung von Dtr und Chr, so jedoch,
daß er einige mit der Analyse von Dtr zusammenhängende
pentateuchkritische Fragen wie die nach dem Umfang des
Priesterkodex (P) und nach der Redaktion des Pentateuch
anhangsweise am Schluß des Buches berücksichtigt. Überall
werden die überkommenen Vorstellungen von den literarischen
Komplexen, um die es geht, einer scharfen Prüfung unterzogen
und weithin durch neue ersetzt. Am meisten ist das bei den
Dtr, P und die Redaktion des Pentateuch angehenden Fragen
der Fall, wo die Aufstellungen des Buches geradezu revolutionierend
wirken. So muß von diesen etwas ausführlicher die
Rede sein, während über den Chr geltenden Teil des Buches
nur kurz berichtet werden kann.

In der Beurteilung von Chr — um damit zu beginnen — weicht Noth
von der gangbaren Auffassung zunächst darin ab, daß er 1. Ch 1, die listenartige
Überleitung von Adam auf die zwölf Jakobsöhne, zwar auf Chr zurückführt
, von 2—9 aber nur ganz kurze, aus Num 26 (Gen 4G) stammende Angaben
für ursprünglich hält, die Hauptmasse dagegen als spätere Wucherungen
betrachtet. Sodann schränkt er die dem Chr für die Zeit von Saul bis
zum Untergang Jerusalems 586v.Chr. zur Verfügung stehenden Quellen
fast ganz auf unsere Samuelis- und Königsbücher ein, nimmt neben ihnen
nur für verhältnismäßig wenig Angaben andere Vorlagen an und vergrößert
um so mehr den Anteil, der unmittelbar auf Chr selbst zurückgeht. So bestreitet
er — drittens — auch die Existenz einer von Chr benutzten Darstellung
über Esra und vollends einer von diesem herrührenden Denkschrift
und schreibt die hier in Betracht kommenden Abschnitte (Esr 7—10; Neh
8—10) vielmehr Chr selbst zu. Viertens drückt er die Abfassungszeit von Chr
weiter herunter, als es gemeinhin üblich ist, nämlich ins 3. Jahrhundertv.Chr.
Schließlich bestreitet er mit Entschiedenheit, daß die Geltendmachung der
levitischen Ansprüche auf bestimmte neue und wichtige Funktionen im
Tempelkult Hauptanliegen des Chr sei, und behauptet demgegenüber, daß
Chr vielmehr vor allem die Legitimität des davidischen Königshauses und
des Jerusalemcr Tempels dartun und damit die Jerusalenier Kultgemeinde |

im Alten Testament1

ldt, Halle/Saale

als echte Nachfolgerin des alten legitimen Israel, den Kultus der Samarita-
. nischen Gemeinde auf dem Garizim aber als illegitim nachweisen wolle.

Was Dtr angeht, so hat sein um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr.
anzusetzender und wohl in der Gegend von Bethel oder Mizpa beheimateter
Verfasser als erster die über die Zeit von dem Aufenthalt Israels am Sinai
bis zur Begnadigung König Jojachins 562v.Chr. vorliegenden Überlieferungen
und Erinnerungen zu einer geschlossenen Darstellung zusammengefaßt, also
den Komplex Dtn 1—2. Reg 25 oder doch seinen Grundbestand geschaffen,
wobei er die von ihm fertig übernommenen literarischen Gebilde durch Ein-,
Über- und Ausleitungen zu einem einheitlichen Ganzen verband. Im einzelnen
verteilen sich übernommenes und eigenes Gut in dieser Weise: Dtn I—3,29
(die hier und im folgenden für die jeweiligen Abschnitte genannten Kapitel-
uncl Verszahlen geben vielfach nur ihren etwa zutreffenden Umfang an, lassen
also die Möglichkeit offen, daß einige Verse und Versteile nicht zu ihnen gehören
): dem Mose in den Mund gelegter Rückblick auf den zwischen Israels
Aufenthalt am Sinai und der Verkündigung des deuteronomischen Gesetzes
Im Ostjordanland verstrichenen Zeitraum, von Dtr; 4,1—28: Überleitung
zum deuteronomischen Gesetz, von Dtr; 4,44—30,20: das deuteronomische
Gesetz, übernommen; 31,1—13. 24—26; 34,1—6: letzte Anweisungen Moses
und sein Tod, Dtr; Jos 1,1—18: Jahwes Befehl an Josua, den Jordan zu
überschreiten, und Vorbereitungen dazu, Dtr; 2—11: Landnahme der israelitischen
Stämme im Westjordanland, übernommen; 12: Liste der eroberten
Gebiete und der besiegten Könige, Dtr; 23: Abschiedsrede Josuas, Dtr;
Jdc2,fj—3,6: Tod Josuas. Vorausblick auf die Richterzeit, Dtr; 3,7—12,15:
zwei sich in Jephthah überschneidende Überlieferungskomplexe, nämlich
die Erzählungen von den Stammeshelden (Othniel, Ehud, Debora und Barak,
Gideon und Abimelech, Jephthah) einerseits und die Liste der kleinen Richter
Thola, Jair, Jephthah, Ibzan, Elon und Abdon anderseits, die Dtr unter
Hinzufügung von 3,7—11. 12—15a. 30b; 4,1a. 2. 3a. 4b; 5,31 b; 6,1. 6b—10;
8,27b. 28. 30—35; 10,6—16 zusammengearbeitet hat; 13,1: Preisgabe der
Israeliten an die Philister, Dtr; l.Sam 1—4, la: Jugendgeschichte Samuels,
von Dtr übernommen und um 2,25b. 34. 35 vermehrt; 4,1b—12,25: Anfang
der Saul-David-Überlieferung, von Dtr übernommen und durch Hinzufügung
von 7,2—8,22; 10,17—27a (21b«—27a ein älteres Überlieferungsfragment
); 12,1—25 im Sinne abgünstiger Beurteilung des Königtums interpretiert
; l.Sam 13—2.Sam 20; l.Reg 1—2: Fortsetzung der Saul-David-
Überlieferung, von Dtr übernommen und um l.Sam 13,1; 2.Sam 2,10a. II ;
5,4—5; 7,1b. 7a. IIa. 12b. 13a. 22—24; 8,1a. 14b; l.Reg 2,2—4. 27b vermehrt
; l.Reg 3—11: die Geschichte Salomos, von Dtr aus dem 11,41 zitierten
Buch der Salomo-Geschichten sowie anekdotischem und listenartigem
Einzelmaterial unter Hinzufügung von 3,3. 14. 15b; 4,1—5,8 (hier hat Dtr
wertvolles altes Gut benutzt); 5,15—32; 6,1. 19b; 7,47-—51; 8,1b. 2a. 4b.

') Noth,Martin: ÜberlieferungsgeschichtlicheStudien I. Hallea.s.:

Max Niemeyer 1943. 266 S. 4" Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft
, 18, 2. RAI 18.—. ,n