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Ausgabe:

1947 Nr. 1

Spalte:

23-28

Autor/Hrsg.:

Bornkamm, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Vorlagen zu Luthers Übersetzung des Neuen Testaments 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 1

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Syrien habe „für jedes der drei großen Bauländer, Deutschland
, Italien und Frankreich, eine Reihe von Urformen bereitgehalten
, die von diesen aufgenommen und im romanischen
Stil verarbeitet werden konnten". Bereits Vogüe, der um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts die reich entwickelte alt-
christlich-f rühbyzantinische kirchliche Hausteinarchitektur der
Ruinenstädte Syriens für die Kunstgeschichte neu entdeckte,
hatte festgestellt, daß sich von hieraus eine neue, die Wurzeln
der romanischen Baukunst des Abendlandes beleuchtende Erkenntnis
anbahne (Melchior de Vogüe, Syrie centrale, Paris
1865—77, Textband S.24). Die spätere Forschung hat dies bi stätigt
(zusammengefaßt in H.W. Beyer, Der syrische Kirchen-
bau, Berlin 1925; außerdem H.C.Butler and E. Baldwin
Smith, Early Churches in Syria, Princeton 1929). Während
die altchristlichen Basiiiken des Abendlandes Ziegelbauten sind
und in Konstantinopel ein Mauerverband bevorzugt wird, der
aus regelmäßig abwechselnden Schichten von Ziegeln und Haustein
besteht, entwickelte sich in Kleinasien und in Syrien
eine massive Hausteinarchitektur von großer Eigenart. Im
^ Zusammenhang mit sehr alten einheimischen (hettitischen)
Bauformen kommen hier an den Kirchen Fassaden zustande,

flankiert werden und tritt eine eigenartige machtvoll gebildete
Bauplastik auf, besonders au den Fassaden und an den Apsiden
, mit stark betonten Sockeln und Gesimsen, Halbsäulen-
stellungen vor den Wänden und die Flächen teilenden Wulstbändern
. Die Gliederung des Außeubaues der Apsiden in
Sockel, mit Halbsäuleu belegte Fensterwand und abschließendes
Gesims, wie sie an der Kirche von Kalb-Luzeh (6. Jahrh.)
vorhanden ist, wirkt nach bis zu den Apsiden von Bamberg.
Der romanische Rundbogenfries entstand aus Formen, wie sie
in den Muschelnischen an den Dachgesimsen der Apsiden von
Kalat-Siman zutage treten (2.Hälfte des 5. Jahrh.). Die Zwei-
turmfassade mit breiter Portalnische au Stelle des Atriums
ist durch Turmauin vertreten. Die doppelchörigen Grundrisse,
die Motive der Zwerggalerie, der mit Halbsäulen belegten
Pfeiler, der mehrteiligen Rundbogenfenster, das Motiv des
Stützenwechsels kommen aus dem christlichen Osten. Über
Ravenna (Theodorichgrabmal), Mailand, die Gallia Christians
hat sich dieser Übergang vollzogen; der Diokletianspalast in
Spalato bezeichnet eine von den vielfachen sonstigen Etappen.
Aus dem Osten kam auch der Zentralbau mit Umgang und die
Hallenkirche (über diese: G.Millet, L'^cole greque dans l'ar-

denen breite Portalnischen von zwei massiven Türmen ! chitecture byzantine, Paris 1916, S. j6).

Die Vorlagen zu Luthers Übersetzung des Neuen Testaments

Von Hein rieh Bornkamm, Leipzig

1.

Griechischer Text und lateinische Übersetzungen
Es darf heute als erwiesen gelten, daß Luther bei seiner
Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg — auf
diese Zeit beschränken wir liier die Frage — den von Erasmus
herausgegebenen griechischen Text in der 2. Ausgabe von [519
benutzt hat. Die zahlreichen Berührungen mit der beigefügten
Übersetzung und den Anmerkungen des Erasmus, die jetzt
insbesondere in WA Dt. Bibel 6 und 7 zusammengestellt sind,
sprechen eine unwiderlegliche Sprache. Wilh.Walther hatte
dagegen den Einwand erhoben, Luther könne diesen Text
nicht benutzt haben, da er sieh an einer Reihe von Stellen
hilfreiche Hinweise des Erasmus zur richtigeren Erfassung des
Textes habe entgehen lassen'. Das ist an sich richtig, vermag
aber die Fülle der nachweislichen Benutzungen nicht
zu entkräften. Man kann daraus nur ersehen, daß Luther bei
der großen Eile, mit der er in rund 11 Wochen das ganze
Neue Testament neben der Arbeit an der Adventspostille
fertigstellte, nicht immer die Übersetzung und vor allem die
Annotationen des Erasmus eingesehen hat. Er hatte ja auch
seit Jahren den Wortlaut der Vulgata so fest im Kopfe, daß
er ihm oft genug von selbst in die Feder floß. Die zuerst 15 16
erschienene Edition des Erasmus war ihm scholl seit der
Römerbriefvorlesung ein so vertrautes Hilfsmittel, daß es unbegreiflich
wäre, wenn Luther bei der schwierigen Übersetzungsarbeit
auf sie verzichtet hätte. Er wird sie allerdings
nicht von Anfang an auf der Wartburg zur Hand gehabt
haben, sondern zunächst nur Gerbeis Nachdruck des griechischen
Erasmustextes (ohne Übersetzung und Annotationen)
von 1521, den er als Geschenk des Herausgebers wohl schon
am 12. Mai 1521 auf der Wartburg erhalten hatte2. Wann er
die Ausgabe des Erasmus erhielt, ist nicht mit Sicherheit feststellbar
, aber von untergeordneter Bedeutung. Daß sie ihm
bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments vorlag, ist
jedenfalls nicht zu bezweifeln3.

Damit ist zugleich entschieden, daß Luther neben der
Vulgata, deren Benutzung auf der Wartburg vielfach feststellbar
ist, noch eine zweite lateinische Übersetzung des
Neuen Testaments, die des Erasmus, bei seiner Arbeit zur
Hand hatte. Allein schon die Tatsache, daß sie als Parallel-
kolumne neben dem griechischen Text gedruckt ist, macht
es selbstverständlich, daß Luthers Auge dauernd darauf geruht
hat. Außerdem aber hat Hermann Dibbelt in einem wertvollen
Aufsatz4 nachgewiesen, daß die Übersetzung und die sie
vielfach begründenden Annotationen des Erasmus Luther
ebenso wie die Vulgata unentbehrliche Dienste leisteten. Es
heißt Luthers griechische Kenntnisse überschätzen, wenn man

') Luthers deutsche Bibel 1917 S.58f.
•) WA Br.2; 337,4.

*) Dibbelt (ARG 38. 1941, S. 322f.) vermutet, daß Luther sie schon im
Sommer 1521 bei der Arbeit an der Kirchenpostille benutzt hat. Das ist möglich
, aber nicht schlüssig zu erweisen.

') Arch.f. Ref.gesch. 38. 1941, S. 300—330.

ihm zutraut, daß er, zumal in dem unglaublich kurzen Zeitraum
, das Neue Testament mit all den Schwierigkeiten des
hellenistischen Griechisch ohne die Hilfe anderer Übertragungen
übersezten konnte. Er war ja scholastisch, nicht humanistisch
gebildet, und trotz seiner griechischen Studien ist
ihm die lateinische Bibel zeitlebens sicherer und natürlicher
im Gedächtnis geblieben als die griechische. Dibbelt ist der
Entwicklung seiner griechisch en Sprachkenntnisse bis 1521 sorgfältig
nachgegangen und hat gezeigt, daß Luther trotz der
starken Anregungen durch Melanehthon die volle Souveränität
im Griechischen wie die philologisch gebildeten Zeitgenossen
nie erreicht hat. So war für ihn die ständige Benutzung
der beiden lateinischen Übersetzungen, die er vor Augen oder,
wie die Vulgata, großenteils im Kopfe hatte, natürlich und
notwendig.

In den Erläuterungen zu WADt. Bibel 6 und 7 sind zahlreiche
Berührungen von Luthers Septembertestament mit
beiden lateinischen Vorlagen zusammengestellt1. Leider hat
sich Dibbelt — im Gegensatz zu seinen für die früheren
Schriften Luthers selbständig durchgeführten Untersuchungen
— beim Neuen Testament auf eine Auswahl aus den Listen
der WA beschränkt. Daraus ist aber nur zu ersehen, daß und
nicht wie Luther seine Vorlagen benutzt hat. Davon kann
man nur einen Eindruck bekommen, wenn man einmal einen
Abschnitt aus Luthers Übersetzung im Zusammenhang Wort
für Wort mit seinen Vorgängern vergleicht. Mit der Methode
der Stichproben, welche für die beiden Vorlagen gesondert
gesammelt werden, kann man — wenn ich es einmal karikieren
darf — einem Schüler den unerlaubten Gebrauch einer Übersetzung
nachweisen. Aber man kann nicht in den lebendigen
Vorgang des Übersetzens selbst eindringen. Verfolgt man dagegen
Luthers Übersetzung in einer neutestamentlichen
Schrift, etwa im Römerbrief, Satz um Satz, so sieht man,
wie beweglich er in immer wechselnden Einzelentscheidungen
mit seinen Vorlagen umgeht. Längst nicht alle diese Entscheidungen
sind für uns ganz erklärbar; oft muß man damit
rechnen, daß ihm der vertraute Vulgatawortlaut einfach in
die Feder floß oder daß er in der Eile der Arbeit die Annotationen
des Erasmus nicht nachschlug. Aber es lassen sich
deutlich 8 Möglichkeiten beobachten, die ich hier nur mit
einigen Beispielen belegen kann:

1. Luther übersetzt den griechischen Text mit der Vulgata
(V.), z.B.: Rom.2,7 (MiUverständnis des gr. Textes nach V., gedeckt
durch die von Erasm. in den Ann. angeführte Übersetzung von Ambrosius
und Rtifin; eine Anregung durch die Zainerblbel, wie Freitag WA Dt. Bibel
7,554 behauptet, liegt nicht vor, gr. Text und V. genügen als Vorlagen). 3, 13
(V. dolose agebant). 5, 17 (V.: regnabunt, Erasm.: regnant) 5, 19 (V.: constitutl
sunt, Erasm.: fuimus). 7, 3 (V.: fuerit cum allo viro. . .fuerit, Erasm.: coeperit
alio viro iungi...iuneta fuerit). 7, 13 (V.: supra modum peccans, Erasm.:
maiorem in modum peccaminosuin). 8,3 (V.: filiuin suinn, Erasm.: proprio
filio misso). 9,24 (V.: voeavit > nos). 9,27 (V.: pro Israel, gegen Erasm.
Annot.) 10, 15 (V.: mittantur, Erasm.: missi fuerint). 10, 16 (V.: obediunt,
Erasm.: obedierunt, in Annot. begründet). 11,3 (V.: suffoderunt Erasm.:

') Vgl. auch den statistischen Index Dt. B. 7, 655ff.