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Ausgabe:

1947 Nr. 6

Spalte:

347-358

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Neuss, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Problem des Mittelalters 1947

Rezensent:

Wolf, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 6

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Folgen haben kann, oder vielleicht gar muß, die in der NS-
ärztlichen Ethik vertreten wurden.

II. Ärztliche Ethik vom Standpunkt des biologischen

Denkens

Der ärztliche Beruf fordert von seinen Vertretern im Verhalten
zum Kranken Entscheidungen, die nicht allein auf Erfahrungswissen
und klar begründeten Überlegungen aufgebaut
werden müssen, sondern auch solche, die eine sittliche Persönlichkeit
voraussetzen. Vom Arzt, der dem leidenden Mitmenschen
zu dienen berufen ist, erwartet man Mitgefühl, Einfühlungsvermögen
, Einsatzbereitschaft, Beherrschung eigener
Affekte, Verschwiegenheit und sonstige Eigenschaften, die das
Vertrauen des Patienten zum Arzt begründen können. In
diesem Sinne hat man die ärztliche Ethik als älter als die ärztliche
Wissenschaft bezeichnet.

Es ist verständlich, daß die Vorstellungen über ärztliche
Pflichten und über gut oder schlecht, über wertvoll und wertlos
im Bereich des ärztlichen Denkens im Wechsel der Zeiten
mit Änderung der herrschenden weltanschaulichen und religiösen
Lehren auch typische Änderungen eingingen. Ich will
heute aus dem Bereich der ärztlichen Ethik nur einige Teilfragen
herausgreifen, die gerade vom Standpunkt des biologischen
Denkens eine besondere Beurteilung erfahren haben
und in der Öffentlichkeit vielfach kritisch besprochen werden.

Da der Arzt nach allgemeiner Auffassung die Aufgabe
hat, dem Leidenden zu helfen, der Erhaltung des Lebens zu
dienen und dem Gesunden ein Berater gegen Gesundheitsgefährdungen
zu sein, so wird er sich auch gewisse Werturteile
über Krankheit und Tod bilden, die vielleicht oft
neben den sachlich-wissenschaftlichen Feststellungen sein
ärztliches Verhalten bestimmen können. Im Rahmen der
naturwissenschaftlichen Einstellung wird der Arzt Ursachen
und Erscheinungen der Krankheit studieren, d. h. die Diagnose
stellen, die gefundenen Krankheitsänderungen als Störungen
der Organfunktionen oder als aktive Gegenregulationen im
Sinne einer „Bedeutungsdiagnose" zu bewerten versuchen. Er
wird schließlich zur Prognose kommen und darüber urteilen,
ob ein Leiden zu heilen oder unheilbar ist. Dem etwaigen Versagen
und tödlichen Ende, das er vielleicht mit seinen therapeutischen
Möglichkeiten nur hinausschieben kann, steht der
moderne Arzt, der nur naturwissenschaftlich denkt, resigniert
gegenüber. Es ist ein Ende des Lebens, kein Ziel, kein Sinn —
es ist der Schritt ins Nichts oder ins All — die Auflösung des
Individuums. Ohne religiöse und metaphysische Bindung wird
der Arzt im Kranksein, Leiden und Sterben keinen ,,Sinn"
erkennen, nicht Schuld, nicht Schicksal, nur einen notwendigen
Ablauf im Rahmen der Naturgesetzlichkeit. Er wird kühl, oft
stumpf, allerdings auch bewußt und unerschrocken den Ablauf
des Leidens bis zum Tode verfolgen. Er wird nie dem
Zauber des Todes, wie Novalis und die Romantik, verfallen
oder im panischen Schrecken dem Todeserlebnis ausweichen
(wie Tolstoi), eher gelassen spöttisch wie Stendhal bleiben,
der nach seinem Schlaganfall seinen Freunden schrieb: „Ich
habe das Nichts gestreift."

Ein solcher nur biologisch denkender Arzt wird, wenn er
nicht von Natur eine starke sittliche Persönlichkeit ist und ein
mitempfindendes Herz besitzt, auch im Patienten wenig sittliche
Kräfte des Vertrauens, der Geduld und des Genesungswillens
wecken können. Wenn seine ärztlichen technischen
Möglichkeiten dem Tode gegenüber versagen, dann müßte er
seinen Platz, wenn er seine Grenzen nicht verkennen würde,
dem Seelsorger abtreten.

Bei anderen Leiden, die nicht lebensbedrohlich sind, bei
denen aber oft geringe Körperschäden durch seelische Vorstellungen
„überlagert" sind im Sinne einer Neurose, muß der
Arzt sich auch um den „Sinn der Krankheit", den solche
Leiden neben den naturwissenschaftlich bestimmbaren Störungen
wenigstens für den Kranken besitzen, bemühen, er
muß ihm helfen, seine Krankheiten in etwas Sinnvolles, vielleicht
auch etwas Segensreiches umzudeuten. Wie wenig Ärzte
besitzen aber solches seelisches Führungsvermögen, das nicht
lehrbuchmäßig zu lernen ist, sondern nur an Beispielen der
großen Lehrerpersönlichkeit. Dabei ist nicht zu vergessen, daß
solche ärztliche Haltung nicht allein bei schweren nervösen
Leiden, sondern auch im ärztlichen Alltag oft das wirksamste
Mittel für die kleinen Übel im menschlichen Leben ist.

Der moderne Arzt ist durch das systematische Studium
der Naturwissenschaften wohl kritischer geworden als am
Ende des vergangenen Jährhunderts und will heute seine
Kenntnisse und technischen Fähigkeiten auch nur noch einsetzen
, um die Heilung im Rahmen der naturgegebenen Möglichkeiten
zu erzielen. Ja, er hat gerade in den jüngst vergangenen
Jahrzehnten sich gerühmt, wieder „naturgemäße"

Heilmethoden mehr als bisher zu pflegen. Diese Gedanken,
denen auch ein hohes Vertrauen auf die natürliche Selbstheilkraft
des Organismus zugrunde liegt, führten aber in ihrer
systematischen Auswirkung auch zu einer Anschauung, die
vom ärztlich-ethischen Standpunkt aus nicht ohne Gefahr ist,
weil der Sinn des Sterbens und Krankseins so ganz vom gesunden
Leben her gesehen ist, daß um des Gesunden willen
alles „gefährdet und verloren" Erscheinende schon an Wert
verliert.

Wenn man das Verhalten der Natur als Vorbild der ärztlichen
Aufgaben betrachtet, wenn man den Menschen eben
nur als Naturobjekt ansieht, dann ist es nur folgerichtig, daß
man die ärztlichen Aufgaben als die eines Gärtners
und Züchters betrachtet. Wie in der Natur die Erhaltung
der Arten als „Uberleben" des Starken und Gesunden aus
einer Uberfülle von Individuen zu verstehen ist, so müßte ein
Diener der Natur diesem Prinzip dienen und alles Kranke und
Schwache dem Absterben verfallen lassen um des Starken
willen, das sich durchsetzen will. Der Arzt würde also naturgemäß
dem Kampf ums Dasein nicht entgegentreten.

Gewiß haben moderne biologisch denkende Ärzte sich wohl
kaum je so eindeutig ausgesprochen und das Verzichten auf
Hilfeleistung für das Schwache nur dann als fehl am Platze
erklärt, wenn es sich um unheilbare Kranke handelte. Auch
Nietzsche hat diesen Gedanken ausgesprochen: „Am Unheilbaren
soll man nicht Arzt sein wollen." Seine „Moral für
Ärzte", die auch den Naturwert des Egoismus besonders klar
anerkennt (vgl. Götzendämmerung), kann jedem Arzt wegen
der Folgerichtigkeit seiner Forderungen nur dringend zum
Studium empfohlen werden.

Wie grundsätzlich steht jener naturalistischen ärztlichen
Ethik gegenüber die Pflicht, die sich aus der christlichen
Nächstenliebe ableitet und die selbst in der alttestamentlichen
Auffassung, z.B. bei Jesaja, eine Begründung finden könnte,
wo gesagt wird, daß der Knecht Gottes das zerstoßene Rohr
nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen
wird.

Man kann hier freilich entgegenhalten, daß auchllippo-
krates in seinem vielgerühmten Eid den Rat gegeben habe,
die Behandlung unheilbarer Leiden nicht zu übernehmen. Es
ist jedoch vor einer falschen Deutung zu warnen. Hippokrates
sieht die Aufgabe des Arztes allein darin, den Leidenden zu
helfen und alle Schäden zu vermeiden. Jede Behandlung eines
unheilbaren Leidens kann nichts mehr nutzen und wird oft
neues Leiden auslösen. Es kann dem Ruf des Arztes, der ja
auch für seine Wirkung am Kranken bedeutsam ist, abträglich
sein, wenn seine Hilfe versagte. So sind es also ganz andere
Erwägungen als die vorausgehend besprochenen, die diesem
Eid zugrunde liegen. Im übrigen dürfte heute die ärztliche
Ethik auch einen anderen Standpunkt vertreten.

Ein Arzt, der den Menschen nicht nur als Naturobjekt
betrachtet, sondern als ein geistbegabtes und sittlich autonomes
Naturwesen, dessen Bestimmung über die Erfüllung
naturgegebener Aufgaben hinausgeht, wird mehr als ein sklavischer
Diener der Natur sein wollen. Es soll übrigens der
modernen Naturheilkunde diese problematische Haltving auch
gar nicht allgemein als Denknotwendigkeit untergeschoben
werden. Sie vertritt meist lediglich den Standpunkt, daß der
lebende Organismus keine Maschine oder Automat ist, sondern
vitale Eigenkräfte entwickelt, die bei Erkrankungen als
Gegenkräfte der Abwehr und Selbstheilung wirksam werden
können. Diese Kräfte in allen Fällen zu fördern oder anzuregen
, ist die erste Aufgabe des uaturheilerischen Arztes. Im
übrigen natürlich auch jedes wirklich guten Arztes seit Hippokrates
überhaupt.

Rein biologisches Denken, d. h. die Auffassung, für die
der Mensch nur ein tierischer Organismus ist, der sich ausleben
will und der unterliegt, wenn er durch Krankheit und Alter
im Lebenskampf zu schwach geworden ist, wird selbstverständlich
in einem leidenden Organismus keine Werte mehr
sehen. Er wird verleugnen, daß oft in schwachen Organismen
höchste schöpferische, seelische Kräfte entbunden werden. Er
wird also in Erscheinungen wie Paulus, Pascal, Kant,
Hölderlin, Kierkegaard und auch Nietzsche nur Scheinblüten
, Dekadenzerscheinungen, keine Lebenswerte sehen. Für
ihn sind solche „Fälle" höchstens Anlaß zur Diskussion, ob
Genie und Irrsinn Parallelerscheinungen oder kausal bezogene
Zustände sind. Unter praktischer Auswertung wird er fragen,
ob solche Krankheitszustände, auch wenn sich gelegentlich in
seltenen Fällen einmal eine geniale Leistung darauf bauen
kann, auszumerzen sind nach dem Gesetz der natürlichen Auslese
. Solches biologisches Denken ist ohne Ehrfurcht vor dem
Eigengesetz des Geistes und ohne sittliches Gefühl dem leidenden
Nächsten gegenüber. Es empfängt seine Richtlinien nicht