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Ausgabe:

1947 Nr. 6

Spalte:

345-354

Autor/Hrsg.:

Lendle, Ludwig

Titel/Untertitel:

Biologischs Denken und ärztliche Ethik 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 6

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etc., als ob sie Götter wären und die Vollmacht hätten, alle
Werte umzuwerten und eine neue Wertordnung aufzurichten.
Jene irdischen Werte werden dadurch „dämonisiert" (Paul
Tillich), sie werden absolut gesetzt, es wird an sie „geglaubt".
Aus solcher Dämonisierung entsprang im Nationalsozialismus
auch der Versuch, das über die zehn Gebote („Du sollst nicht
töten") vom Christentum her geprägte und in Jahrtausenden
bewährte Ethos des ärztlichen Standes umzustoßen. So allein
erklärt sich auch die sonst nicht aufhellbare Tatsache, daß in
sonst, im Privatleben, durchaus moralisch denkenden und handelnden
Menschen der mit staatlichem Anspruch auftretenden
Brutalität gegenüber das Gewissen völlig gelähmt war. Das
Gewissen ist eben irrtumsfähig und nur jeweilen die Stimme
des Gottes, an den einer glaubt. Nun zeigt sich, daß es Urge-
setze gibt, die vom sittlichen Bewußtsein und auch vom Gewissen
des Menschen unabhängig, sich nicht erfinden, aus-

Biologisches Denken

Von L. Len

Die Ausbildung unserer jungen Mediziner gründet sich in
den ersten Semestern ihres Studienganges auf naturwissenschaftliche
Fächer. Auch im weiteren Verlauf der Studien,
wenn sie mit den physiologischen und pathologischen Bedingungen
des menschlichen Organismus vertraut gemacht
werden, wenn sie den Ablauf von krankhaften Störungen und
deren Behandlungsmöglichkeiten kennenlernen, wird ihnen all
dieses Wissen als ein mit naturwissenschaftlichen Methoden
gewonnenes Erfahrungsmaterial vorgeführt, welches kausal-
analytisch ausgewertet wurde. Der junge Mediziner lernt so
die moderne Medizin kennen als eine angewandte
Naturwissenschaft.

Wenn er tieferen Einblick in die einzelnen Fachgebiete
gewinnt, erkennt er, wie bewußt diese Forschung als reine
Naturwissenschaft getrieben wird, auch in rein ärztlichen Bereichen
oft von biologischen Chemikern oder Physikern, also
von Nichtärzten. Gerade solche Forscher können auf diesen
Grenzgebieten des Lebens wissenschaftlich Bedeutendes leisten
, wie der vor wenigen Wochen verstorbene englische Physiologe
Barcroft. Die heutige Medizin darf mit Stolz auf die
große theoretische Forschungsleistung und die praktischen
Heilerfolge verweisen, die sie seit 100 Jahren, nach dem Abklingen
der romantischen Medizin, der Einführung naturwissenschaftlicher
Forschungsmethoden verdankt. Die naturwissenschaftlich
begründete Medizin hat, unerschüttert durch
die sog. „Krise in der Medizin", in den letzten 2—3 Jahrzehnten
ihren Forschungsgang mit überraschenden neuen Erfolgen
fortgesetzt, sie befindet sich in keiner Sackgasse 1

Freilich sind für die praktische Medizin im Zeitalter der
fortschreitenden Technisierung und Spezialisierung mit der
Aufgabe der Massenversorgung und mit der zunehmend unnatürlicher
werdenden Lebensweise viele schwere, oft kaum
lösbare Aufgaben entstanden, so daß auch das Vertrauen in
ihre Wirkungsmöglichkeiten in weiten Volkskreisen beeinträchtigt
werden konnte. Dieser Anteil an der Krise in der
Medizin, die schon einmal vor 20 Jahren drohend schien,
dürfte vor allem auch durch eine Schwäche in der sittlichen
Haltung vieler Ärzte selbst verstärkt worden sein, weil diese
in der politischen Entwicklung der vergangenen Jahre keine
genügende Widerstandskraft besaßen, keinen Halt in weltanschaulicher
und religiöser Bindung, keine Kritik gegenüber
dem anbrandenden Meer von Propaganda, welche sich einer
biologisch aufgezogenen Rassenlehre bediente und gerade dem
Arzt wichtige Aufgaben im Staat zuerteilte.

I. Biologismus in Medizin und Geschichtsdeutung
Mancher Arzt, dessen Ausbildung ihm nur eine biologisch-
materialistische, vielfach sogar mechanistische Auffassung vom
Menschen vermittelt hat, fand in diesen Zielen einer naturalistischen
, politischen Parteidoktrin nichts Verwerfliches, besonders
da sie sich noch idealistisch zu tarnen wußte. Das Menschenbild
seiner biologischen Weltauffassung besaß keine
höhere Würde als nur Material zu sein für eine um Macht
kämpfende Lebensgemeinschaft.

Mit diesem Hinweis ist schon angedeutet, daß die nur biologisch
denkenden Arzte der Verführung ausgesetzt waren,
auch in ihrer Geschichtsauffassung einer naturalistischen,
machtpolitischen Deutung zu huldigen und damit auch ihre

') Vortrag, vor der studentischen Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger
", Leipzig, am 14. Juni 1947 gehalten.

schalten oder umwerten lassen, sondern die — von Propheten
offenbart—nur immer wieder neu entdeckt, reiner erkannt und
treuer befolgt werden können.

Und das Verhältnis zur Wissenschaft ? Es ist nicht zufällig
, daß Prof. Franz Büchner in seinem Vortrag über „Das
Menschenbild der modernen Medizin" (1946) diese Frage mit
einem Wort von Ampere beantwortet, das dieser, „einer der
größten Naturforscher des 19. Jahrhunderts" zweiundzwanzig-
jährig, „also nicht erst als Greis" niedergeschrieben hat: „Studiere
die Dinge dieser Welt, es ist die Pflicht deines Berufes;
aber schau sie nvir mit einem Auge an, dein anderes Auge sei
beständig auf das ewige Licht gerichtet! Höre auf die Gelehrten
, aber nur mit einem Ohre! ... Schreibe nur mit einer Hand,
mit der andern halte dich am Gewand Gottes, wie ein Kind
sich am Gewand seines Vaters hält! Ohne diese Vorsicht würdest
du unfehlbar dem Haupt an einem Fels zerschmettern."

und ärztliche Ethik1

die, Leipzig

ärztlichen Aufgaben in Richtungen zu suchen, die allem
wahren Arzttum vergangener Zeiten fremd waren.

Es wäre reizvoll, in größerem Rahmen zu zeigen, wie die
großen Erfolge der naturwissenschaftlichen Denkweise und der
technischen Leistungen einen neuen Wirklichkeitssinn seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts anregten, wie alle Metaphysik beiseite
geschoben wurde und das Absolute als im Physischen
immanent betrachtet wurde. Seit der Jahrhundertwende wurde
der Einbruch des biologischen Denkens auch in dem Bereich
der eigentlichen Geisteswissenschaften immer tiefer. Eine
naturalistische Geschichtsauffassung mit entsprechend politischen
Folgerungen war ein solcher besonders gefahrvoller
„Irrweg der menschlichen Selbstdeutung", wie es Litt am
Beispiel Spenglers vor wenigen Monaten in einem Vortrag
besonders deutlich klarlegte. Die Geschichte erschien dem
modernen Menschen nur als ein „Naturereignis", in dem es
keine sittliche Schuld gibt, sondern nur den Fehler, daß ein
Politiker nicht den Gesetzen der Natur folgte und daher Mißerfolge
ernten muß. Dedo Müller hat diese Anschauung
immer wieder kritisch beleuchtet.

Es ist wohl verständlich, daß in einer so sehr dem Biologismus
verfallenen Zeit neben Spenglers Lehre Schriftsteller
wie Hamsun, Jack London u. a. besonderen Anklang fanden
, bei denen harte Urgesetze des Lebens verherrlicht werden,
nach welchen das Individuum nichts gilt, sondern nur die
Rasse, wo Liebe nur der Erhaltung der Art dient und der Tod
das selbstverständliche Ende des ausgekosteten Lebens ist.
In der gleichen Richtung, wenn auch geistig durchdachter,
lagen die Gedanken von Ernst Jüngers „Heroischem Realismus
" aus seiner früheren Periode. Solche Gedanken haben
unsere Jugend bezaubert — nicht nur in Deutschland! Und
nicht nur in dem letzten Jahrzehnt. Schon Hebbel sprach das
harte Wort „Alles Leben ist Raub", und der Gedanke des
„Homo homini lupus" stammt aus längst vergangenem Jahrhundert
.

Wir haben das Ende solcher ohne Hemmungen befolgter
Lehren in der Wirklichkeit erlebt. Hitler selbst hat in seiner
letzten öffentlichen Rede am 24. II. 1945 noch einmal diese
Lehre verkündet: „Die Vorsehung kennt keine Barmherzigkeit
dem Schwachen gegenüber, sondern nur die Anerkennung
des Rechtes des Lebens für den Gesunden und Starken." Die
„Vorsehung" ist hier also das kalte Naturgesetz des Kampfes
ums Dasein.

Daß solche harte Lebensgesetze nicht nur in der Ordnung
der Natur, sondern auch im Raum der Geschichte allgemeine
Gültigkeit besitzen, dürfte in weiten Kreisen, nicht nur von
Ärzten und Naturwissenschaftlern, Anerkennung gefunden
haben — ich betone wieder: nicht nur in Deutschland! Ich
selbst bin mir der Bedeutung dieser Tatsache für unsere jungen
Mediziner 1946 besonders klar bewußt geworden, als ich die
Doktorarbeit eines jungen Kollegen zu referieren hatte, die
sich in der Einleitung in etwas philosophierender Betrachtung
darüber erging, daß die Gesetze der Natur zweckfrei seien,
daß alle Lebewesen mit Eigenschaften ausgestattet seien, die
das Spiel der Kräfte im Gleichgewicht halten, daß es für die
Natur keine Wertskala in der Schöpfimg gebe — kurz, daß der
Mensch keine Sonderstellung in der Natur einnimmt. Ich
glaube, wenn ich heute eine Rundfrage unter unseren Ärzten
anstellen würde, wäre die überwältigende Mehrheit der gleichen
Ansicht, ohne sich freilich darüber klar zu sein, daß diese
nur biologische Auffassung auch für das ärztliche Handeln