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Ausgabe:

1947 Nr. 6

Spalte:

341-346

Autor/Hrsg.:

Müller, Alfred Dedo

Titel/Untertitel:

Das Ethos des Arztes 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 6

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Doch ist zu bemerken, daß nur 1,2% der Landbevölkerung
aus der Kirche ausgetreten sind, während der Prozentsatz in
den Städten 4°/0 beträgt.

Bei den Dienstreisen in meinem Stift ist es mein Bestreben
, möglichst immer die Fabriken in den größeren Industrieorten
während der Arbeitszeit zu besuchen. In den
allermeisten Fällen wird mir dies gewährt. Dabei war es erfreulich
zu beobachten, mit welch sichtlichem Interesse die
Arbeiter meinen Ausführungen zuhörten. Und wenn ich mich
nach dem Vortrag an die Ausgangstür stelle, um noch durch
einen Handschlag meine Botschaft zu bekräftigen, geschieht
es nicht selten, daß die vorübergehenden Zuhörer durch ein
freundliches Wort dem Bischof Gottes Segen wünschen.

Trotz der vielen Stimmen, die sich gegen unseren gemeinsamen
christlichen Glauben erheben, ist die Lage doch
relativ günstig für die Kirche. Es ist z. B. erfreulich festzustellen
, daß wir im Rundfunk fortlaufend regelmäßig Gottesdienste
und Andachtsstunden senden dürfen. Auch für religiöse
Debatten hat sich der Rundfunk interessiert, und man konnte
dabei keinerlei Berechnung oder Parteilichkeit beobachten.

Das Christentum spielt im Volksleben eine sehr große
Rolle. Und zwar nicht nur auf dem Lande, wo die alte kirchliche
Tradition stark und ungebrochen weiterlebt, sondern
auch in den Städten' und unter den Gebildeten überhaupt
können wir von einer christlichen Renaissance sprechen. Das
erfreulichste Zeichen dafür war das Interesse, das verschiedene
Berufsgruppen an den Tag legten, um in den eigenen Reihen
neue religiöse Aktivität zu wecken. Man wollte eine religiöse
Verantwortung für seinen Nächsten im Beruf auf sich nehmen.
In den verschiedensten Kreisen hat sich neues Leben gezeigt.
So haben z. B. Offiziere und Unteroffiziere, Ärzte, Forstbeamte
und Techniker große religiöse Treffen innerhalb ihrer

Berufskreise veranstaltet; ebenso hatten Juristen ihre eigenen
Versammlungen, Industrieleute und Lehrer die ihren usw.
Die christliche Studenteubewegung hat ihre Arbeit auf die
höheren Schulen ausgedehnt, in denen eine starke religiöse
Aktivität spürbar ist. Es ist z. B. vorgekommen, daß eine
wichtige Prüfung mit einem gemeinsamen Gebet der Klasse
begonnen wurde. — Das Neuste in diesem Zusammenhang
ist ein Bibelkreis der Taxi-Chauffeure in einer kleineren Stadt.
Er versammelt sich sonntags um 3 Uhr nachmittags; um diese
Zeit soll es vollkommen unmöglich sein, in der ganzen Stadt
auch nur ein Mietsauto aufzutreiben.

Jeder, der unsere Kirche eingehender kennen lernen
möchte und Schwedisch lesen kann, findet im kürzlich erschienenen
Buch von Prof. G. O. Rosenqvist „Finlands kyrka
under det senaste halvseklcts brytningstider" (Die Kirche
Finnlands in den Unibruchszeiten der letzten 50 Jahre) eine
außerordentlich günstige Gelegenheit dazu.

Der Kontakt zwischen Schweden und Finnland ist auch
auf kirchlichem Gebiet während der Kriegs- und Nachkriegszeit
besonders innig gewesen. Wir haben kaum eine einzige
größere Versammlung oder eine bedeutendere Konferenz gehabt
, bei der nicht wertvolle und geschätzte Vortragende und
Redner aus Schweden unter uns waren.

Der Herr der Kirche hat bis jetzt in wunderbarer Weise
seine Hand schützend über der Kirche Finnlands gehalten.
Der Druck der Zeit, der immer noch schwer auf unserem
Lande liegt, hat das Bewußtsein vertieft, daß wir einer
inneren Sammlung um das Zentralste in unserem Glauben
bedürfen. Nur auf diese Weise können wir den Druck tragen
und die schweren religiösen Aufgaben der Gegenwart erfüllen
.

DAS GESPRÄCH: MEDIZINER UND THEOLOGE ÜBER DAS ÄRZTLICHE ETHOS

Das Ethos des Arztes

Von Dedo Müller, Leipzig

Das tiefe Erschrecken, mit dem man die bisher allein
zur Verfügung stehenden Berichte über den Nürnberger
Ärzteprozeß nur lesen kann, bringt die kategorische Notwendigkeit
einer Aufgabe grell zum Bewußtsein, die tief mit
der Gesamtnot zusammenhängt, in der wir stehen, und die
darum von repräsentativer Bedeutung ist für ihre Überwindung.
Das ist ein neues Ethos des Arztes. Freilich, auch hier wird
sich die Zukunft nicht gewinnen lassen ohne gründliche Bereinigung
der Vergangenheit. Und diese Aufräuinungsarbeit
ist unsere eigenste Angelegenheit; sie kann nur tief eindringender
Selbsterkenntnis gelingen und deshalb unmöglich
den Anklägern überlassen bleiben. Nur wer versteht, was hier
geschah, kann sagen, was in Zukunft geschehen soll.

Das, was geschah, ist ja nun freilich so ungeheuerlich, daß
dafür zunächst die Begriffe fehlen. Die Nürnberger Angeklagten
begingen, nach den Zeitungsberichten, im Zusammenhang
mit gewissen „Experimenten", (z.B. Höhen- oder Kälteversuchen
, um menschliche Widerstandskraft in extremen
Höhen oder in Eiswasser zu ermitteln oder Immunisierungsversuchen
gegen Malaria, Streptokokken, Fleckfieber, Gas-
gangräne und Starrkrampf), ,,Morde", „Brutalitäten", „Grausamkeiten
", „Folterungen", „Greueltaten" in einem Ausmaß,
in dem das bisher in der menschlichen Sittengeschichte, und
nun zumal durch Ärzte, noch nicht vorgekommen ist. Sie
werden beschuldigt, ca. 10000 polnische Staatsangehörige als
unheilbar tuberkulös und etwa hunderttausend Menschen als
Vollstrecker des nazistischen Euthanasieprogramms getötet
zu haben. Wie war das möglich ?

Zwei Ursachen haben sich sichtlich zu furchtbarer Doppelwirkung
verkoppelt. Einmal ist hier der medizinische
Positivisinus, der etwa seit der Romantik das medizinische
Denken weithin beherrscht hat, unter Preisgabe all der geistigsittlichen
Traditionen, in die er bislang immer noch eingebettet
war, mit unbegreiflichem Zynismus in seine letzten Konsequenzen
ausgewalzt worden. Wir wissen uns dabei mit führenden
deutschen Ärzten unserer Zeit eins. So stellt z. B. der bekannte
Freiburger Pathologe, Prof. Franz Büchner, fest, daß „die
Medizin der letzten hundert Jahre von der Naturphilosophie
enttäuscht, sich zu einseitig als Naturwissenschaft entwickelt
JatfWDaS lleiüt sclbstvti"ständlich nicht, geringschätzig von
der Übertragung naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden
auf die Medizin denken. Es soll hier kein Schritt hinter die
naturwissenschaftliche Medizin zurückgetan und kein Ertrag

dieser Forschungs- und Heilmethode herabgesetzt oder preis-

fegeben werden. Es muß nur die Grenze und auch die Ge-
ahr dieser naturwissenschaftlichen Orientierung gesehen
werden. Sie liegt aber darin, daß man mit naturwissenschaft-
lich-positivistischen Erkenntnismethoden an das eigentliche
Wesen des Menschen nicht herankommt. Rein naturwissenschaftliches
Denken muß zur „Verdinglichung des Menschen"
(Büchner) führen. Das kann so lauge verborgen oder unschädlich
bleiben, als andere, aus religiös-sittlichen oder geistigen
Traditionen genährte Auffassungen des Menschen noch nachwirken
. Es muß gefährlich werden, wenn nur noch naturwissenschaftlich
gedacht und der Mensch überhaupt nicht mehr
als Vernunftwesen (homo sapiens), sondern nur noch als Lebewesen
(homo vivens) betrachtet wird, wie dies im absoluten
Biologismus des Nationalsozialismus der Fall war.

Die angeklagten Ärzte stellen sich in dieser Hinsicht als
die hemmungslosen Vollstrecker einer Tendenz dar, die auf
die Einebnung des eigentlich Menschlichen im Menschen hinauslief
. Der Arzt hat hier aufgehört, der „Helfer des bedrohten
Menschenleibes" zu sein, er ist zum „ Strafrichter im Namen
des Bios" (Büchner) geworden. Das zeigt sich namentlich
in der Anwendung des Experiments. Es galt als unausgesprochenes
Grundgesetz alles ärztlichen Ethos, daß am lebendigen
menschlichen Körper nicht experimentiert werden darf. Soweit
das Experiment für die Forschung als unentbehrlich angesehen
wurde, war es auf das Tierexperimeut beschränkt. Dem Forschungstrieb
war hier eine Grenze gesetzt, die nicht naturwissenschaftlich
, sondern nur religiös-sittlich und metaphysisch
begründbar war und als selbstverständlich galt. Der
Nationalsozialismus räumte mit diesen Hemmungen der Ehrfurcht
vor dem Menschen auf. Die Nürnberger Angeklagten
erscheinen als Vertreter eines Biologismus, für den es den
Unterschied zwischen Tier und Mensch in irgendeinem wesentlichen
Sinn des Wortes nicht gibt und für die demgemäß das
„natürliche" Empfinden für menschliches Leid jede bestimmende
Macht verloren hat.

Mit diesem positivistischen Biologismus verbanden sich
bei den Nürnberger Angeklagten aber gewisse ideologische
M o t i v e, die offenbar jene Einebnung des qualitativen
Unterschiedes zwischen Tier und Mensch bewußtseinsmäßig
und seelisch erst möglich gemacht haben. Alle Angeklagten
haben nicht im eigenen Interesse, sondern, wie es immer wieder
heißt, „im Interesse" der Wehrmacht oder der Marine oder der