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Ausgabe:

1947 Nr. 5

Spalte:

271-274

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Zur eschatologischen Verkündigung Jesu 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 5

272

Zur eschatologischen

Von R. Bultmaii

Das eigentliche Thema dieser Schrift ist die Frage nach
dem Wesen der Enderwartung Jesu, und das zu dieser Frage
treibende Problem liegt in der Tatsache, daß Jesu Verkündigung
mit dem nahen Ende der Welt rechnet und daß sich
diese Erwartung als ein Irrtum erwiesen hat. Der Verf. grenzt
sich einerseits gegen die bekannte Anschauung Alb. Schweitzers
ab, wie sie von M. Werner und Fr. Buri vertreten wird, — von
letzterem besonders eindrucksvoll in dem Aufsatz „Das
Problem der ausgebliebenen Parusie", vor allem in Auseinandersetzung
mit K. Barth (Schweizer Theol. Umschau 16,
1946, S. 97—120); andererseits gegen die Bemühungen, die
futurische Eschatologie aus der Verkündigung Jesu zu eliminieren
, wie sie für die deutsch-christliche Theologie charakteristisch
waren, wie sie sich aber auch in der angelsächsischen
Forschung finden. Er bestimmt seine Aufgabe so: „einerseits
nach dem zeitlichen Vorstellungsgehalt der eschatologischen
Verkündigung Jesu zu fragen, andererseits den Sinn der in
diesen zeitlichen Begriffen ausgedrückten Verkündigung herauszustellen
, um so Zusammenhang und Abstand gegenüber
der jüdischen Apokalyptik abzuklären und der Enderwartung
ihren richtigen Platz innerhalb der Verkündigung Jesu anzuweisen
" (S. 8).

Der 1. Teil, „Die nahe Zukunft der Gottesherrschaft",
zeigt in sorgfältiger Untersuchung der in Frage kommenden
synoptischen Herrenworte und in ständiger Auseinandersetzung
mit der seitherigen Forschung, daß Jesus zweifellos
die Gottesherrschaft als eine zukünftige verstanden und ihr
Kommen und damit das Gericht und die eschatologische Vollendung
in naher Zeit erwartet hat, — wenngleich nicht in allernächster
Zeit, so doch zu Lebzeiten der gegenwärtigen Generation
. Da aber der künftige eschatologische Richter, der
Menschensohn, schon in seiner Person gegenwärtig ist, ist das
Eschaton mit der Gegenwart eigentümlich verknüpft und die
Gegenwart ist „selber schon eschatologische, endgültige Entscheidungszeit
" (S. 25). „Die Tatsache, daß die Gottesherr-
schaft und das mit ihr gegebene Heil von der Zukunft erwartet
werden, ist also für Jesus eng verbunden mit der Feststellung
, daß die Verheißung sich in irgendeiner Weise bereits
erfüllt Tiat, obwohl die verheißene Gabe in ihrer Zukünftigkeit
nicht angetastet wird" (S. 29). Daß ein gewisser Abstand
zwischen der Gegenwart und der Zukunft besteht, gehe zumal
daraus hervor, daß Jesus, „zum mindesten in der späteren Zeit
seiner Wirksamkeit, mit einem gewaltsamen Tode rechnete,
dem die Auferstehung folgen sollte "(S. 41). Jesus rechnet also
mit einer Zwischenzeit zwischen seinem Tode und seiner
Parusie, wofür z. B. Mk 2, 20; 14, 25. 28 als Beweis dienen
müssen, freilich nicht Mk 13, 10, ein Wort, das den Endtermin
weiter hinausschiebt als die (nach der Meinung des Verf.) alten
Herrenworte, das also als spätere Bildung gelten muß.

Der hier entwickelten Gesamtanschauung kann ich im
ganzen zustimmen, nämlich 1) darin, daß Jesus das Kommen
der Gottesherrschaft in naher Zeit erwartet hat; ich würde
freilich sagen: in nächster; denn die Worte, aus denen der
Verf. auf einen gewissen Zeitabstand schließt, scheinen mir
entweder Gemeinbildungen zu sein oder vom Verf. nicht
richtig interpretiert worden zu sein. 2) Darin, daß Jesus seine
Gegenwart als schon durch das bevorstehende Ende qualifiziert
, als eine Zeit eschatologischen Charakters, als „endgültige
Entscheidungszeit" ansieht.

Im Einzelnen erscheint mir freilich manches als zweifelhaft und anfechtbar
. Für Gemeindebildungen halte ich z. B. Mk 9,1; 10,35-40; Mt 19,28par.;
Lk 17, 25, Worte, in denen der Verf. echte Jesustradition finden will. Was die
Exegese betrifft, so frage ich: wie kann man aus dem ävaotrjaovrai... futd
1 iji yeveär rairrjs (Mt 12, 41 f.) schließen, daß Jesus voraussetze, daß viele
seiner Zeitgenossen vor dem Gericht sterben werden, selbst wenn man das
dvaar. nicht vom Auftreten vor Gericht, sondern von der Auferstehung verstehen
will? Will man den Wortlaut so pressen, dann muß man schon konsequent
sein und folgern, daß die ganze Generation der Zeitgenossen gestorben
sein wird, um für das Gericht wieder auferweckt zu werden! Und darf man
aus dem (tvrdg i/iöiv) lariv (Lk 17,21) schließen, daß der Satz präsentisch
verstanden werden müsse, nur weil ein zu ergänzendes „plötzlich" durch nichts
im Texte angedeutet sei? Als ob die Antithese diese Ergänzung nicht forderei
Zum mindesten hat der Verf. keinen „zwingenden" Beweis geliefert, wie er
einen iolchen von seinen Gegnern zu fordern pflegt.

Aber mit den „zwingenden" Beweisen ist es auf dem Felde der histo-

') Kümmel, Werner Georg, Dr. theol., ao. Prof. an der Universität Zürich:
Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung
Jesu. Basel: Hclnr. Majer 1945. 99 S. 8* ■ Abhandl. zur Theologie
des Alten und Neuen Testaments, hrsg. von W. Elchrodt u, O. Cullmann. Nr. 6.

Verkündigung Jesu1

n, Marburg/Lahn

rischen Interpretation eine zweifelhafte Sache. Der Verf. scheint zu übersehen,
daß unvermeidlich eine Wechselwirkung zwischen der Elnzelintcrpretatlon (in
der seine Stärke liegt) und dem auf Orund einer gewissen Intuition bzw. kombinatorischen
Phantasie geschauten Gesamtbilde besteht. Ich kann gewiß
nicht „zwingend" beweisen, daß Lk 17,25 eine sekundäre Kombination
palästinischer und hellenistischer Gedanken vorliegt; aber wie kann man daraus
folgern, daß sich der Vers „doch als zuverlässige alte Überlieferung erweisen
dürfte" (S. 40)? Und wie kann der Verf. die Tatsache bagatellisieren, daß in
der synoptischen Tradition zwei verschiedene Typen von Vaticinla vorliegen:
1) Parusie-Welssagungen, 2) Weissagungen des Todes und der Auferstehung
Jesu? Und wie dann verkennen, daß diese Typen den verschiedenen Auffassungen
der palästinischen und der hellenistischen Gemeinde entsprechen? —
Gewiß „zwingt" nichts dazu, Mt 23, 37—39, „einem mythischen Wesen in den
Mund zu legen" (S. 47); aber ebensowenig ist die Argumentation des Verf.
„zwingend", daß „die Wahrscheinlichkeit durchaus gegeben sei, daß es sich
in Mt 23, 37—39 um ein selbständiges Jesuswort der ältesten Überlieferung
handelt". — Und wie steht es mit der Behauptung, daß die Worte Jesu vom
kommenden Menschensohn (ihre Ursprünglichkclt vorausgesetzt) zwar nicht
andeuten, daß Jesus selbst dieser Menschensohn sei, daß das aber nicht zu
der Annahme berechtige, daß sich Jesus vom kommenden Menschensolm unterschieden
habe? Wem fällt denn hier eigentlich die Beweislast zu, wenn man
nicht die Auffassung der Evangelisten ohne weiteres als zutreffend gelten lassen
darf? Ich denke: dem Verf.l Seine Begründung aber: „denn das Reden vom
Menschensohn, das die Beziehung dieser Gestalt zu Jesus selbst Im Verborgenen
läßt, entspricht ja der sonstigen Haltung Jesu (vgl. Mk 8, 38)" (S. 22), ist
I) eine bare Behauptung und beweist 2) gar nichts.

Der 2. Teil, „Eschatologische Verheißung, nicht apokalyptische
Belehrung", grenzt Jesu Predigt gegen die spät-
jüdische Apokalyptik ab. Jesus bringt nicht Offeubarungen
über künftige Vorgänge und Zustände, sondern nur eschatologische
Verheißung, indem er die Auferstehung, das Weltgericht
und die Welterneuerung verheißt ohne irgendwelche
apokalyptische Ausmalung. Speziell untersucht der Verf. dabei
Mk 13. Die Weissagung der Tempelzerstörung, die er für ein
echtes Jesuswort hält, habe streng eschatologischen Sinn: „es
wird von der eschatologischen Zerstörung des Tempels nur
geredet, um damit die Verworfenheit des gegenwärtigen
jüdischen Religionsbetriebes und die Gewißheit einer Gottes
Willen entsprechenden eschatologischen Gottesverehrung auszusprechen
' (S. 60), — womit nun freilich (offenbar unter dem
Einfluß von Joh 2, 12 ff.) mehr ausgesagt ist, als im Texte zu
finden ist. Im übrigen unterscheidet der Verf. in Mk 13 als
Gemeindebildungen solche Worte, „die in ihrer heutigen Form
die Erfahrung der christlichen Gemeinde widerspiegeln", und
solche, die in der Weise der Apokalyptik von irdischen und
kosmischen Vorzeichen und Katastrophen reden, von solchen,
die mutmaßlich echte Jesusworte sind. Und „so ergibt sich
endgültig, daß Jesu eschatologische Verkündigung durchaus
im Gegensatz zur Weltanschauung der Apokalyptik steht"
(S. 60—62).

Diese Ausführungen dürften — von Einzelheiten abgesehen
— im wesentlichen Zustimmung finden. Aber ist nicht
deutlich, daß den Verf. bei seiner Kritik und Interpretation
auch ein Gesamtbild leitet ?

Der 3. Teil, „Die Gegenwart der Gottesherrschaft" will die
Antwort auf die entscheidende Frage geben, „was mit dieser
Erwartung Jesu sachlich gemeint sei" (S. 63). Das Eschaton
zeige sich in Jesu Person schon in der Gegenwart wirksam, so
daß in der Stellungnahme zu ihm „für das zukünftige eschatologische
Urteil bereits in der Gegenwart Jesu die grundlegende
Voraussetzung geschaffen wurde" (S. 63). Daher könne
Jesus sagen: „die Gottesherrschaft ist zu euch gekommen"
(Mt 12, 28). Der Vers beweise „deutlich die Überzeugung Jesu,
daß die zukünftige Gottesherrschaft in seinem Wirken bereits
begonnen habe" (S. 65). In solchem Sinne meint der Verf. das
t<pO-aoiv von dem fyytxr.v Mk 1, 15 unterscheiden zu können.
Demgegenüber glaube ich, daß diejenigen Forscher Recht
haben, die ffrdvnv und iyyi&iv für Synonyma halten, deren
Sinn in gleicher Weise der ist: „nahe (und zwar in die nächste
Nähe) kommen". Ilm den Sinn neutestamentlicher Wörter,
die ja zumeist im Sinne der volkstümlichen Koine gebraucht
werden, zu bestimmen, ist es oft nützlich, sich am Neugriechischen
zu orientieren; so auch hier. Im Neugriechischen hat
lyyi^ni> in der Umgangssprache seineu zeitlichen Sinn verloren
und heißt einfach „berühren", während yVävetv den zeitlichen
Sinn behalten hat; und zwar bedeutet es „ankommen"
und wird z. B. von dem einlaufenden Zuge gebraucht. Man
sieht: beide Verben bezeichnen in gleicher Weise das Phänomen
des Gerade-dran-seins, nur daß heute iyy. auf die räumliche
Bedeutung (in der Umgangssprache)eingesehränkt wor-