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Ausgabe:

1947 Nr. 4

Spalte:

231-236

Autor/Hrsg.:

Trillhaas, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Über den theologischen Sinn profaner Geschichtsbetrachtung 1947

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Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 4

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mation hat für beide Grundtöne ein empfindliches Gehör gehabt
und beiden die viva vox evangelii entgegengehalten:

dem Geist, der sich selbst Gesetz wird, die Bindung an
das ausdrückliche Wort biblischer und kirchlicher Verkündigung
und ebenso auch dem Gesetz der imitatio-Frömmigkeit.
Gott will, daß das „mündlich Wort" seiner Jünger mehr geehrt
werde als die humanitas Christi und die exenipla sanc-
torum. Exemplum Christi legem confirmat, idem enim docet,
quod lex (Luther, Disp. Drews, 390t.). Und die lex verhindert
die allein heilbringende fides Christi, d. h. die fides in
Christum et in verbum, cuiuscunque in quo ipse loquitur (Rom.
Vorl. Ficker II, 92, 13, vgl. dazu E. Wolf, Die Christusver-
kündiguug bei Luther - Beih. 2, z. Ev. Theol. 1936, S. lygil.).
Auch der Dienst der Heiligen steht nach CA. 21 (Apol. 21)
ausschließlich „unter dem Wort": quod memoria sauctorum
proponi potest, (1.) ut imitemur fidem (Korrelat zu verbum!)
eorum et (2.) bona opera iuxta vocationem (die allein
durchs Wort erfolgt).

Das Wort aber, das den Reformatoren in der vorliegenden
Frage entscheidend wird, ist Joh. 10, 12. Was Luther über
das geistliche Amt in seiner Funktion zu sagen hat, ist im
Grunde nichts anderes als Auslegung dieses Worts. Summarisch
wird sie in FC. Sol. Deel. Einl. 14 aufgenommen: „Dann
treue Hirten, wie Lutherus redet, sollen beides tun, die Schäf-
lein weiden und den Wolfen wehren . . ." Das zeigt die unauf-
löslicheVerbundenheit von Amt und Gemeinde, Gemeinde und
Amt. Damit ist in die Ausübung des Amtes die Aufgabe verantwortlicher
— dem Wort gegenüber verantwortlicher —
Entscheidungen sowohl im „Nähren" wie im „Wehren" eingeschlossen
, die als echte Entscheidungen zwar entsprechende
„Vorgänge" in der Geschichte der Kirche zu Rate ziehen
dürfen, sich aber nicht von ihnen gesetzlich abhängig machen
sollen. Wie nahe freilich immer wieder das Verlangen
kommt, gesetzliche, „eindeutige" Weisungen für die „Entscheidung
" zu suchen (Versuchung der „Konsequenz"!) und
gefällte Entscheidungen theologisch wieder in gesetzlicher
Weise zu legitimieren, aber auch unter Umständen den Entscheidungsaufschub
(„der Status confessionis ist noch nicht
gegeben!"), das lehrt der kritische Blick auf die „Beispiele"
aus der Geschichte der Alten Kirche ebenso wie die Grenzen

einer exemplarischen Auswertung dessen, was dabei vor Augen
kommt. 1603 ist in den Loci communes des Petrus Martyr
Vermigli in lateinischer Ubersetzung seine angesichts der Verfolgung
der Evangelischen in Italien und in Frankreich
italienisch abgefaßte theologische Untersuchung „De fuga in
persecutione" aufgenommen worden (S. 1073—1085). Vermigli
hat sich in ihr auch mit den Stimmen aus der Alten Kirche
auseinandergesetzt und zu Tertullian gel. scharfsichtig bemerkt
: „cuius ratioues, si quis diligentius expenderit, multo
plus elegautiae quam finnitudinis habere comperiet ..." Aber
zu einer klaren Lösung ohne das Eindringen kasuistischer Erwägungen
ist auch er»nicht gelangt. Immerhin ist das Bemühen
um eine sachgemäße Exegese der immer wieder herangezogenen
„Belegstellen" des NT (wobei hier wie zumeist auch
bei den altkirchlichen Erörterungen Joh. 10 kaum eine Rolle
spielt!) spürbar intensiviert, besonders gegenüber Matth.
10, 23.

Eine gewisse Hilfe, auf die auch Vermigli von ferne hindeutet
, mag in der Situation der Bedrängtheit durch die Frage
der Entscheidung wohl die jeweils ernst zu prüfende Erwägung
des Zeugnischarakters der im konkreten Fall geforderten Entscheidung
sein: ob sie zur Stärkung des Glaubens diene. So
etwa wie das Martyrium in der Passio Perpetuae (1, 4) unter
seine einzige Legitimierung gerückt wird: Zeugnis für Christus
von Christus in Christus, „non credentibus in testimonium,
credentibus in beneficium" (vgl. 1. Tim. 6, 13). Aber auch diese
Frage nach dem Zeugnischarakter oder der Zeugniswirkung
der Entscheidung bleibt bedroht von jener Einstellung, die
Isidor von Sevilla sehr deutlich dahin formuliert: „Das Martyrium
verlaugt Klugheit. Wenn von ihm Früchte zu erwarten
sind, soll man es ertragen, wenn nicht, es fliehen."
Ähnlich dachte schon Klemens von Alexandrien, ohne sich
dessen bewußt zu sein, was er damit dem Märtyrer an Verantwortung
auferlegte (vgl. H. v. Campenhauscu, Die Idee des
Martyriums in der Alten Kirche 1936, S. 121); während Tertullian
betont, daß das Martyrium nicht in das Ermessen und
die Wahl des Menschen gestellt sei, aber über der Hervorhebung
des unbedingt verpflichtenden Gebotes Gottes, den
Zeugnischarakter des Martyriums übersah (ib. 120) und seine
es qualifizierende Christusbezogenheit verkürzte.

über den theologischen Sinn profaner Geschichtsbefrachtung

Von Wolfgang Trillhaas, Göttmgen

Der religiöse Mensch hat eine tiefsitzende Hemmung, sich
der profanen Betrachtung der Geschichte hinzugeben. Die Verehrung
macht seinen Blick gegenüber den heiligen Texten,
gegenüber der Heiligen Geschichte befangen. Das religiöse
1 lenken bemächtigt sich der Geschichte in Form der Geschichtstheologie
. Aber es ist das Schicksal der modernen
Menschheit, daß sie der profanen Geschichtsbetrachtung auf
die Dauer nicht ausweichen kann. Schon im alltäglichen Leben
finden wir uns in ganz profanen Erwägungen begriffen. Wir
fassen unsere gegenwärtige geschichtliche Lage als Wirkungen
bestimmbarer geschichtlicher Ursachen auf. Wir versuchen,
aus den uns bekannten Gegebenheiten die Diagnose für den
nächsten Geschichtsverlauf zu stellen. Wir meinen, der Geschichte
sei so etwas wie Berechenbarkeit sowohl nach rückwärts
wie nach vorwärts zu eigen. Wir nehmen wahr, daß
selbst öffentliche Mißstände, die wir zunächst moralisch beurteilen
möchten, wie etwa Schleichhandel und „Schwarzer
Markt", in Wahrheit auf ganz bestimmter wirtschaftlicher und
politischer Verursachung beruht und daß die „Moral" erst eine
Folge der Verteilung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln
darstellt. Wir alle denken profan.

Vier Tendenzen scheinen mir diese profane Betrachtung
der Geschichte, vorwiegend der heiligen Geschichte, zu kennzeichnen
:

1. Die profane Geschichtsbetrachtung legt die Grenzen
des Heiligen nieder. Alles wird als innerweltliches Ereignis
betrachtet. Wo die naive religiöse Einstellung Abgrenzungen
und Zäune wahrzunehmen glaubte, werden nun Übergänge
sichtbar, so von der Religionsgeschichte zur Bibel, von der
Staats- und Völkergeschiclite zur Kirchengeschichte.

2. Die profane Geschichtsbetrachtung kann sich in ihrer
Akzentsetzung an keine religiöse Tradition binden. Sie leuchtet
mit ihrem Interesse in dunkle Räume und nimmt den Nimbus
von den Heiligengestalten. Sie klammert alle dogmatisch
kirchlichen Bewertungen ein und versucht, die Dinge unvoreingenommen
zu betrachten.

3. Sie nimmt auf das eigene und fremde religiöse Gefühl
keine Rücksicht und ist bereit, eigene und fremde religiöse
Vorurteile zu zerstören.

4. Sie vermag auf Grund ihrer Voraussetzungen nur mit
natürlichen Zusammenhängen zu rechnen und muß zwangsläufig
alle vermeintlich übernatürlichen Verursachungen aus
ihrer Geschichtsbetrachtung ausscheiden.

Trotzdem wird eine solche Geschichtsbetrachtung niemals
zu einem eindeutigen Ergebnis führen. So wird der Bibel
gegenüber diese profane Geschichtsbetrachtung immer nach
einem Ergebnis verlangen, das mit dem Gehalt des Textes
mehr oder weniger im Widerspruch steht. Auch die profane
Betrachtung der Geschichte wird genötigt sein, sich in eigener
Verantwortung ein „Bild" zu machen, d. h. die Befunde zu
deuten. Aber alles Deuten ist unsicher.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die Theologie sich
beim Versuch dieser Deutung wieder zum Wort meldet und
von dem Versuch ihrer Geschiehtstheologie nicht lassen kann.
Es wird die Frage sein, wie weit sie mit diesem Verlangen
kommt. In der kirchlichen Praxis kommen überdies die Zweifel
nie zur Ruhe, ob eine profane Deutung etwa biblischer Texte
dem religiösen Bedürfnis, dem kirchlichen Bekenntnis, dem
Auftrag der christlichen Verkündigung Genüge tut. Immer
wieder hat sich die Praktische Theologie, vor allem auf dem
Gebiet der Homiletik, mit dem Versuch einer doppelten
Schriftauslegung auseinanderzusetzen. Man versucht, neben
die historisch-kritische Betrachtung des Textes, der Geschichte
eine religiöse, pneumatische, theologische, erbauliche
Betrachtung zu setzen. Die doppelte Wahrheit scheint gerade
unter dem Gesichtspunkt der Erfordernisse des kirchlichen
Amtes der Weisheit letzter Schluß zu sein. Man möchte in
Analogie zu der bekannten Wendung Sclileierinachers fragen,
ob der Knoten so auseinandergehen soll, daß die historische
Exaktheit mit dem Unglauben und der Glaube mit einem
herabgeminderten Wahrheitsbewußtsein Hand in Hand gehen
soll. Dieser Frage sollen die nachfolgenden anspruchslosen
Überlegungen gewidmet sein.