Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1947 Nr. 4

Spalte:

201-204

Autor/Hrsg.:

Fascher, Erich

Titel/Untertitel:

Das Weib des Pilatus 1947

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

201

Theologische Literaturzeitung 1947 Nr. 4

202

gehört 1. das faktische nouiv t& rov v6pov, das auch bei Heiden
vorkommt, 2. das Gewissensphänomen. Falls man die fiera$v
äXlri).o)v xatijyoQovpres fj xal aTtoAoyovftcroi loyiopoi nicht als Beschreibung
des Gewissensphänomens, sondern als die Diskussion
über moralische Fragen in der heidnischen Gesellschaft
verstehen will, was ich für sehr fragwürdig halte, käme dazu
noch 3. eben diese Diskussion. In jedem Falle aber wird der
Beweis durch den Hinweis auf unbestreitbare Tatsachen der
Gegenwart geführt.

Steht es aber so, daß V. 15 von der Gegenwart und V. 16
von der Zukunft redet, so bleibt nur noch die Möglichkeit,
zwischen V. 15 und V. 16 einen Zwischengedanken zu ergänzen
: „das wird sich zeigen an jenem Tage . . ." (Jülicher,
Althaus). Aber ist diese Ergänzung wirklich so einfach und
leicht zu vollziehen ? Und beseitigt sie wirklich den Anstoß ?
Welchen Sinn soll es denn haben, von einem jedermann sichtbaren
Phänomen der Gegenwart zu sagen, daß er sich am
Tage des Gerichtes offenbaren werde ?!

Alle solche Bemühungen zeigen nur, daß V. 16 ein Fremdkörper
im Text ist, und das wird endlich durch die auffallende
Wendung x«r« r<) ivayyth.6v fiov bestätigt, die durch nichts
begründet ist, und die im Munde des Paulus hier schlechterdings
unpassend wäre, da der Satz vom Gericht Gottes über
das Verborgene der Menschen gar kein spezifisch paulinischer
Satz ist. Im Satz eines Glossators ist die Wendung verständlich
; denn hier ist sie eine einfache Erinnerung an i.Kr 4, 5
und hat weiter keine Bedeutung, als daß sie (im Sinne des
Glossators formuliert) sagt: „wie ja auch Paulus sonst —
nämlich 1. Kr 4, 5 — gesagt hat".

2. Der klare antithetische Satz 6, 17:

%d(>is Se Tw &ecö Sri %re Sovloi rfji dftaprias,

ilev&cptoö-evtiss S'e <X7rö rtfe äftaprias iSovlwd-r/Te rfj Sixatoavvr,

ist durch den stupiden Zwischensatz: iirr^ovaare Se ix xa^Siäi
eis &v naQiSd&ijre tvitov SiSaxijs empfindlich gestört, durch
einen Satz, der gleich zwei unpaulinische Wendungen enthält
, das ix xapäias und das rino; SiSa/^s. Die Exegeten
werden wieder in quälende Bemühungen gestürzt, was vom
Blickpunkt des Paulus aus unter dem ivnos SiSaxfji zu verstehen
sei, während es völlig klar ist, daß der Glossator die
spezifisch paulinische Lehre meint. Freilich: wer nicht empfindet
, daß in dem Abschnitt 6, 15—23 die großartige Entfaltung
der Dialektik der ttevd-tpia einerseits, des inaxoveiv
bzw. des äovXos eh'ai andererseits durch das triviale bTiaxoveiv
gegenüber dem xvnos SiSa%i]i verdorben wird, dem wird mit
anderen Gründen nicht mehr viel zu helfen sein.

Ob sämtliche Glossen, die im Vorangegangenen besprochen
wurden, auf einen und denselben Glossator zurückgehen
, will ich dahingestellt sein lassen. Von den in den beiden
ersten Abschnitten behandelten ist es mir sehr wahrscheinlich
. Die im dritten Abschnitt behandelten haben anderen
Charakter; sie sind Interpolationen im eigentlichen SilUl,
keine Randbemerkungen, die in sentenziöser Form den Gehalt
eines Gedankengangs auf eine kurze Formel bringen wollen.
Sie dürften also auch anderen Ursprungs sein und stammen
vielleicht von dem Redaktor, der die Schluß-Doxologie 16,
25—27 hinzugefügt hat, in der auch jenes xarä r& eiayyihö'v
jiov von 2, 16 begegnet.

Das Weib des Pilatus

Eine Studie zu Mt 27,19
Von E. Fascher, Halle/S.

In seiner Göttinger Assistentenzeit bei Walter Bauer ist
der Verf. wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß
die Geschichte der Schriftauslegung, besonders die Deutung
und Verwendung markanter neutestamentlicher Schriftstellen
in ganz verschiedenen historischen Situationen, ein noch ziemlich
unbebautes Feld der neutestamentlichen Wissenschaft sei,
nachdem die Quellenkritik, Literar- und Textkritik, Be-
griffsgeschichte und Einleitungsfragen neben der viel diskutierten
Formgcschichte und Stilkritik in der Fachforschung
einen breiten Raum eingenommen haben. Trotz vieler Monographien
über einzelne Begriffe (Sia{h',xt], 7T(>o(pt'jtr;s, S6:a usw.)
und neben den ausführlichen Artikeln in Kittels Theologischem
Wörterbuch ist gerade die Geschichte der Auslegung einzelner
Verse oder Perikopen von besonderem Wert und Reiz. Nach
seinen Studien zu Job. 10, 17—18 (Deutsche Theologie 1941,
37—66), zu Job. 16, 32 (Zeitschr. f. neutest. Wissensch. Bd. 39,
S. 171—230) und zu Job. 10, 1—18 (Deutsche Theologie 1942,
S. 33—57 und 118—133) — die beiden letztgenannten waren
dem 70jährigen Erich Klostermann und dem 80jährigen
Johannes Ficker gewidmet) — hat der Verf. eine umfangreiche
Studie zu Mt. 27, 19 dem 70jährigen Walter Bauer zugeeignet,
deren Ergebnisse wenigstens in kurzem Auszug der Fachwissenschaft
unterbreitet sein sollen.

Moderne kritische Darstellungen der Synoptiker (E. Klo-
stennaiin, R. Bultmann, M. Dibelius) behandeln Mt. 27, 19
kurz und in Übereinstimmung darin, daß dieser Zusatz des Mt.
zur Leidensgeschichte ein legendärer Zug sei. Auch textgeschichtlich
bietet er — von vereinzelten an Gesta Pilati II
gelegentlich anklingenden Varianten abgesehen — nichts Besonderes
, so hätte zu ausführlicher Behandlung kein Anlaß
vorgelegen, wenn Verf. bei der Lektüre des Heliand nicht auf
die Szene 5429—5492 (nach der Stabreimübersetzung von
C. W. Grein Rinteln 1854) gestoßen wäre. Der Satan, durch
den Selbstmord des Judas erschreckt, befürchtet, daß Jesus
durch seinen Tod ihm am Ende seine Herrschaft nehmen
könnte. Darum hüllt er sich in den Helhelm und ängstigt bei
.. ageshcht das Weib des Pilatus durch ein Wunder, damit sie
tri " K,1!L'htrru warne und von einer Verurteilung Jesu ab-
,1 !l v yyoli;r »at der Dichter diese seltsame Exegese, welche
Fri;iJn,, , 1>ilatus zum Werkzeug Satans macht, um das
eesrhirmTt^ tzu verhindern? Schon A. Hauck (Kirchen-
haUe kl r, Rfutf hlands II, 3 u. 4, 1912, S. 802 u. Anm. 9)
Hrabam,, MScdeutet. daß der Dichter «Ue sen Gedanken dem
HLronlmn, hU1rUVVerda,,ke. welcher ihn seinerseits von

uönskettÖ 1. n S lolUlt sich a,so der Versuch' eine Tradi-
äScS^ri " UUd ,siu über den Heliand hinaus bis in
die Gegenwart zu verfolgen. Die einzelnen Texte

aus

7 Kommentaren der alten Kirche, 10 des Mittelalters und 30
seit Luther und Calvin, dazu Acta Pilati und Ps. Ignatius —
hier vorzuführen und zu interpretieren ist unmöglich. Aber
das Ergebnis läßt sich zusammenfassen in folgende Leitsätze:

1. Haucks These ist insofern irrtümlich, als die entscheidende
Stelle bei Hrbanus nicht dem Hieronymus entstammt,
sondern bei Ps. Beda steht! Weil Migue an falscher Stelle ein
Hieronymus in Klammem setzte, ist Hauck irregeführt
worden. Ps. Beda selbst zitiert natürlich die Hieronymusstelle
nicht, da sie nicht zu seiner Deutung paßt. Und Paschasius
Radbertus, von dem der Helianddichter auch abhängig sein
soll, sagt deutlich: Quid autem viderit per visum, non exponit
evangelista, vel a quo passa sit; et ideo data est facultas
nostris aliter vel aliter hanc visionem interpretanda Nonnulli
dicunt visionem a diabolo immissam . .. Alii vero dicunt boni-
tate Dei factum fuisse . . . Radbertus entscheidet sich für die
bonitas Dei, ebenso Christian von Stablo (Druthmar). Die Auffassung
ist also schon im frühen Mittelalter zwiespältig, wer
der Inspirator jenes somnium sei.

2. Ist dieser Zwiespalt auch im Altertum nachweisbar?
Wir lesen bei Ps. Ignatius ad Philippenses IV (Lightfoot

III, 192), daß der Satan zunächst die Pharisäer, Sadduzäer,
Ältesten, Priester samt Judas gegen Jesus aufbringt, dann aber
— als die Kreuzigung näherrückt, sie durch Judas, den die
Reue erfaßt, und das Weib des Pilatus zu verhindern sucht,
weil er für sich selbst Gefahr wittert. Noch weiter als diese
dem 4. Jahrhundert zuzuweisende Textfassung gehen Gesta
Pilati II § 1 aus dem gleichen Jahrhundert: Jesus selbst, weil
er ein yö^s ist, hat diesen Traum verursacht. Es soll also nicht
(so die christliche Deutung) das Erlösungswerk verhindert
werden, sondern Jesus der ytijß will semer gerechten Bestrafung
entgehen, welche die gottesfürchtigen Juden nun erst
recht fordern müssen!

Wie abseitig diese beiden Auffassungen stehen, lehren
Origenes und in seiner Nachfolge Hilarius, Hieronymus, Ambrosius
. Der Traum der Procula ist ein „Signum divinae provi-
dentiae". Ja, Augustin kann (Senno 121 de Tempore, Migne
39 Sp. 2038) Procula zu Eva in Antithese stellen: In nativitate
mundi uxor ducit viruin ad mortem, in passione Christi uxor
provocat ad salutem.

3. Dennoch ist die dämonische Deutung unserer Stelle
nicht erloschen, sie tritt bei Bernhard von Clairvaux (Migne
183, Sp. 276) in eigenartiger Verbindung von Mt. 27, 19 und
27, 42 auf, findet sich bei Nicolaus von Lyra und in dem bekannten
Tischgespräch Luthers (W. A. Tischreden Bd. 4,
Nr. 5043t.), daß der Satan lieber Jesus bei einer Tentation
erwürgen will, nachdem er erfahren hat, daß das Martyrium