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Ausgabe:

1944

Spalte:

156-157

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Junker, Hermann

Titel/Untertitel:

Der sehende und blinde Gott (Mhntj-irtj und Mhntj-n-irtj) 1944

Rezensent:

Roeder, G.

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 7/8

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Heimatkunde versucht das Universum in einem kleinen begrenzten
Raum zu erfassen." Die Heimatkunde liefert uns das
reichste Beispiel einer totalisierenden Wissenschaft, sie vermag
wegen der Fülle ihrer Lebensbeziehungen zum forschenden
Subjekt am meisten jenen unerträglichen Zustand zu überwinden
, der unsere Wissenschaften heute vielfach eher bildungs-
feindlich als bildungsfördernd wirken läßt."

RELIGIONS WISSENSCH A FT

Vries, Jan de: Altnordische Literaturgeschichte. Bd. 2. Berlin:
de Gruyter 1942. (532 S., 1 Kt.) gr. 8° = Qrundriß der german.
Philologie, begr. von H. Paul. Bd. 16. RM 20—.

Die Besprechung des ersten Bandes der altnordischen Literaturgeschichte
in dieser Zeitschrift schloß ich mit dem
Wunsche, der Vf. möchte den zweiten Band einige Zeit ausreifen
lassen und uns dann ein innerlich und äußerlich durchgearbeitetes
Werk schenken. Der Wunsch kam zu spät, denn j
kurz die Rede war, und somit die hier gemachten Ausführungen
der den ersten an Umfang übertrifft und einen mächtigen und |
schwer überschaubaren Stoff angreift. Hatte es der erste Teil j
mit den Perioden zu tun, in denen nordische Dichtung und
Überlieferung noch auf altgermanische Weise mündlich weiter- |
lebte, so setzt das vorliegende Buch dort ein, wo sich die mit- i
telalterlich-klösterliche Kunst des Schreibens dieser Überlieferungen
bemächtigt und sie zu Literatur im engeren Sinne macht.
Thema des Bandes ist die großartige polyphone Fuge des altnordischen
Schrifttums vom 12. Jahrhundert an, in der Altertum
und Mittelalter, Edda- und Skaldennachklänge, Familien-
und Königssaga, Legende, Abenteuergeschichte und übersetzte
Modeliteratur Europas, heimische und eingeführte Wissenschaft
nebeneinander her musizieren. De Vries hätte aus dem Stoff :
etwas machen können, denn er kennt sich gut aus in der gesamten
europäischen Literatur des Mittelalters. Um so mehr
bedauert man, daß die Arbeit so lässig geleistet wurde. Es
bleibt bei mancherlei guten Beobachtungen, die gelegentlich und
ziemlich zusammenhangslos ausgestreut werden. Die Mängel des
ersten Bandes zeigen sich auch hier: unverzeihliche Flüchtigkeiten
im Sachlichen und Sprachlichen, abgedroschenes, oft fehlerhaftes
Deutsch, Sprachfehler in den altnordischen Zitaten,
falsch bezifferte Anmerkungen oder solche ohne jegliche Hinweise
im Text und mehr solcher Unschönheiten, die von vorn
herein das Vertrauen in das Buch, das für Lernende ein Grundriß
sein soll, erschüttern.

Etwa gleichzeitig mit de Vries' zweitem Bande erschien die zweite
Auflage von Heuslers Meisterwerk, der ,AItgermanischcn Dichtung'.
Beide Werke haben es auf weite Strecken hin mit den gleichen Gegenständen
zu tun — aber sie bücken auf sie von verschiedenen Standpunkten
: Bei Heusler geht es um das sich verwandelnde Nach- und
Weiterleben der altgermanisclien Überlieferungen; de Vries sieht die
nordischen Erscheinungen im Zusammenhang mit der gleichzeitigen
Literatur des europäischen Mittelalters. Auch eine solche Betrach- j
tungsweise ist möglich, und vollends wenn die Spannung zwischen dem
Ererbten und den immer mächtiger werdenden Einflüssen vom mittelalterlichen
Europa her Leitthema des Ganzen geworden wäre, hätte
sein Buch Heuslers Werk schön ergänzen können. Aber der Leser muß
diesen Leitgedanken selbst an die Darstellung herantragen. De Vries
führt, wie im ersten Bande, keine übergeordneten Gesichtspunkte
durch außer dem äußerlichen und bei dem Stoff höchst fragwürdigen
einer angehlieh genauen Chronologie der Werke. So wechselt es wieder
verwirrend hin und her zwischen Edda-Nachblüte, Skaldik, Saga und
gelehrter Schriftstellerei. Die Darstellung kennt keine Höhepunkte; in
gleichmäßigem Trott geht es über Wichtigem und Geringeres hinweg
. Die Behandlung der einzelnen Denkmäler ist oft so, wie man es I
gelegentlich in minder löblichen akademischen Vorlesungen erleben
kann: der Vf. hat sich notiert, was ihm beim Wiederdurchlesen der
Werke auf- und eingefallen ist. Zwar gibt es Kapitelüberschriften wie
.Aufstieg und Wiederbelebung', ,Die Zeit der Vollendung', ,Der Verfall
der alten Kunstformen', die eine geschichtliche Gliederung vortäuschen
— aber wenn man Gedichte wie das eddische Gripirlicd und
die nacheddischen Lieder von Svipdag und Innstein an der Seite von
Snorris Königsbuch und der Egilssaga als Zeugnisse der .Vollendung'
eingereiht findet und die Sagas von Njal oder den Lachswassertalern
in der ,Verfall'-Schublade suchen muß, so enthüllt sich die Scheinbarkeit
dieses Systems.

Lohnender wäre es wohl gewesen, die Gattungen gelrennt zu
halten und an ihnen das oben angerührte Leitthema durchzuführen — I
die allmähliche Durchdringung des heimisch Gewachsenen vom mittel- I
alterlichen Geiste, bei den jüngeren Eddaliedern fließt der Zustrom i
von den Vorformen der Balladen her; die geistige Skaldik mit ihrem
zahlenmäßig errechneten Bau läßt an jene Bautypen denken, die Itten- |

bach an der lateinischen und deutschen Dichtung der Salierzeit aufgezeigt
hat. Auch die Geschichte der Saga ließe sich von da her
aufbauen: Ursprünglich, auf ihrer mündlichen Stufe und von da tief
in die Schriftlichkeit hinein ging es in ihr um ähnliche Schicksalsprobleme
wie im alten Heldenliede. Dann aber kommt ein neues, diesmal
mittelalterliches Erzählziel auf: die Helden werden beispielhaft
im Guten oder Schlimmen, die Pointe wird moralisch; zugleich wandelt
sich der Stil (besonders spürbar im Dialog). Mir scheint, daß es
vor allem die Kurzgeschichten, die sogenannten pwttirt waren, die
diese neue Erzählweise begründeten. Sie wirkt dann auch auf die
eigentliche Saga hinüber — an der Geschichte von Hrafukel hat de
Vries das gut beobachtet. Andrerseits lernen die Sagas, die der alten
heroischen Art treu bleiben, als Buchwerke, große Zusammenhänge so
zu.fügen, daß ein Räderwerk ins andere greift — man fühlt sich da
an Entwicklungen erinnert, wie wir sie In Deutschland am Nibelungenlied
und seinen Vorstufen zu erspüren glairben. Ich kann diese [>inge
hier nur andeuten, doch glaube ich, d?ß sich von hier aus auch ein«
Synthese der beiden widerstreitenden Lehren in der Sagaforschung
finden ließe, der Buchprosalehre der Reykjaviker Schule und der
Freiprosalehre Heuslers und Liestöls. Auch de Vries sucht da zu vermitteln
, aber er pendelt in Wahrheit nur zwischen d-;n beiden Möglichkeiten
hin und her, ohne die Beine auf die Erde zu kriegen.

Alles in allem: Der Kundige, der seinen Weg schon
selbst weiß oder wenigstens ahnt, kann aus den beiden neuen
Grundriß-Bänden von de Vries manches an Einzelheiten lernen.
Als Lern- und Nachschlagewerk für ferner Stehende sind sie
nicht zu gebrauchen; dazu sind sie zu ungeordnet, skizzenhaft
und unsorgfältig. Und wer die altnordische Dichtung in ihren
vielen Formen und Gehalten liebt und bewundert, wird sich
beim Lesen dieser Literaturgeschichte bald ernüchtert fühlen
und von ihr mit dem Eindruck scheiden, daß hier die Wissenschaft
vor der Größe der Denkmäler auf ganzer Linie versagt
hat.

Z. Zt. bai der Wehrmacht. Wolfgang M o h r.

Junker, Hermann: Der sehende und der blinde Gott Mhntj-irtj
u. Mhntj-n-irtj», München: C. H. Beck i. K. 1942. 93 S. gr.V =
Sitz.-Ber. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt. Jg. 1942, H. 7. RM 6—.

J.s Untersuchung ist ein musterhaftes Beispiel für philologische
Kleinarbeit an einer Oötterpersönlichkeit, die nicht
gerade von entscheidender Bedeutung ist, aber die großen Gottheiten
berührt. Mit peinlicher Akribie wird das Material aus
allen Zeiten zusammengetragen, und zahlreiche Exkurse zu
Nebenfragen klären die Lage. Alles dreht sich um die beiden
Gottesnamen „Der sehende Gott" mhntj-irtj und „Der blinde
Gott" Mhntj-n-irtj, die sich in unserer Wiedergabe nur durch
einen einzigen Buchstaben unterscheiden, aber von entgegengesetztem
Charakter sind. J. sieht in ihnen nur Beinamen des
Gottes „Der Große" Wr (S. 16), eines Lichtgottes, der zeitweise
erblindet. Dabei spielen kosmische Erscheinungen mit,
indem der Gott „sehend" ist, wenn seine beiden Augen
(Sonne und Mond) leuchten, aber „blind" bei Nacht, Wolken
oder Sonnen- bezw. Mondfinsternis (S. 20).

Abschnitt III „Der Gott im Wandel der Gölterlchren" bringt
die mythologischen Beziehungen: zu den Sonnengöttern Rt und Atum,
zu der Neunheit von Heliopolis, zu Osiris, als Beschützer der Blinden
und als blinder Harfenspieler und Sänger (S. 22—37). Der angeschlossene
Exkurs (S. 37—44) stellt die verschiedenartigen Vorstellungen
der Ägypter vom Himmel (Frau, Kuh, Luft) und von Himmelsgottheiten
(Horns, Hathor, Nut) zusammen, um zu beweisen,
daß Mhntj-n-irtj (der mit diesen Vorstellungen und Gottheiten nichts
zu tun hat) nicht erst als Blinder, sondern schon als Sehender ein
Harfner und Musiker war. Der Beweis dieser theologischen Spekulation
scheint mir nicht erbracht zu sein.

Auf einen gesicherteren Boden kommen wir mit den Kultorten
(S. 45—66). Zunächst der ältere: Letopolis im Westen des Deltas.
Dann Kus im südlichen Oberägypten, von Letopolis aus gegründet.
Endlich Kom Ombo (Ombos nördlich Aswan), eine Tochtersiedlung
am Rande des nubischen Gebietes entweder von Letopolis oder, wie J.
glaubt, von Kus.

Dann folgt S. 67—93 eine kritische Zusammenstellung der Belege
aus den Pyramidentexten, unsrer ältesten Quelle für die ägyptische
Religion.

Wichtiger als die örtliche und zeitliche Festlegung der
einzelnen Züge des behandelten Gottes erscheint J. die Betonung
, daß er „einen durchaus universalen Charakter" hat
(S. 45). Er schließt deshalb sein Vorwort mit der Bemerkung:
„Der Nachweis der zentralen Stellung, die dieser mit vielen
Namen benannte Gott im Glauben der Ägypter einnahm,
zwingt uns, die Darstellung der Grundlagen der ägyptischen
Religion in dem Sinne zu ändern, daß der Vorstellung von dem
Weltgott die gebührende Stelle eingeräumt wird." Ich folge