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Ausgabe:

1944

Spalte:

130-131

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Scharff, Alexander

Titel/Untertitel:

Die europäischen Grossmächte und die deutsche Revolution 1944

Rezensent:

Lerche, Otto

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versfragen der Zeit ganz oder in Auszug abgedruckt. Den
Schluß bilden Nachträge und Verbesserungen zu den drei Händen
und ein Personen- und Sachverzeichnis (III 851—011),
in das auch die Titel der anonymen und Pseudonymen Schriften
aufgenommen sind, die aber besser gesondert zusammengestellt
worden wären.

Die Publikation von Codignola lag Matteucci noch nicht vor;
aber er hat für seine Arbeit in weitem Urnfang das gleiche ungedruckte
Quellenmaterial, vor allem das Archivio Ricci im
Florentiner Staatsarchiv, sowie auch sonstiges unveröffentlichtes
Archivmaterial verweitet. Infolgedessen bringt sein Werk, dem
schon mehrere einschlägige Zeitschriftenaufsätze aus seiner Feder
voraufgegangen waren, einen willkommenen Fortschritt
der Forschung über Persönlichkeit, Wirken und Bedeutung des
bekannten Bischofs von Pistoja und Prati. Seine Wertung erfolgt
durch den Verfasser vom korrekten, kirchlich-katholischen
Standpunkt der Gegenwart aus; aber er ist um ein sachliches,
gerechtes Urteil bemüht, das sich im allgemeinen deckt mit den
■einschlägigen Ausführungen im Schlußband der Papstgeschichte
von Pastor.

Zunächst wird uns der Entwicklungsgang Rircis geschildert
, der übrigens nicht, wie meist zu lesen ist, ein Neffe des
Jesuitengenerals Lorenzo de Ricci bei der Aufhebung des Ordens
, wohl aber mit ihm verwandt war. Schon bei seinf-m
Studienaufenthalt In Rom geriet der junge Ricci, der einer
papsttreuen und jesuitenfreundlichen Adelsfamilie entstammte,
und der vorübergehend daran gedacht hatte, Jesuit zu werden
, unter den Einfluß jansenistischer oder doch jansenlsten-
freundlicher und jesuitenfeindlirher Kreise, wie sie allenthalben
in Italien anzutreffen waren und in Rom selbst Freunde und
Gesinnungsgenossen, auch im Kardinalskollegium, besaßen.
Diesei Jugendeinflüsse wurden bestimmend für sein ganze>Leben
und gäben seinem Wirken, die entscheidende Richtung: er wird
ein begeisterter Freund von Port-Royal, er blickt voll Verehrung
auf die jansenistische Kirche von Utrecht und macht
sieht die gallikanischen und staatskirchlichcn Anschauungen
zu eigen. Dem Großherzog Leopold von Töscana, der sein Gesinnungsgenosse
war, wenn dann auch das beiderseitige Verhältnis
nicht immer frei von Spannungen blieb, verdankte er
seine Erhebung zum Bischof; die päpstlichen Bedenken gegen
seine Bestätigung wurden von dem Kardinal Andreas Corsini
zerstreut. — Eine eingehende Schilderung erfährt die stürmische
fieberhafte Reformtätigkeit Riccis während seines zehniährigen
Pontifikates. Sie erstreckte sich von Anfang an auf die verschiedensten
Gebiete des kirchlichen Lebens und fand ihren
Höhepunkt in der von ihm veranstalteten Diözesansvnode von
Pistoja (September 1786) und dem gescheiterten Versuch,
auf einer Nationalsynode zu Florenz, die Reformen für das gesamte
Großherzogtum durchzusetzen und eine jansenistische
von Rom möglichst unabhängige Staatskirche zu schaffen.
Der Verfasser leugnet nicht, daß Reformen in verschiedener
Hinsicht nötig waren, und gibt zu, daß manche von den
Reformen, die' Ricci erstrebte und versuchte, später kirchlicheren
• gefördert und durchgefühlt wurden. Das Gesamtlirteil
über sie lautet aber nicht günstig, nicht nur wegen der Überstürzung
und Gewaltsamkeit sowie der Unkenntnis des Volks-
enipfindcns, mit der sie unternommen wurden, sondern vor
allem auch wegen ihrer schismatischen und häretischen Tendenzen
. Diese wurden schließlich durch die von dem Kardinal
Oerdi! redigierte Bulle „Auctorem fidei" Pius VI. vom 28.
August 1794 verurteilt, über deren Vorgeschichte neue Aufschlüsse
gegeben werden. Die Widerstände des Volkes, die
zu direktem Aufstand ausarteten, veranlaßten Ricci zur Abdankung
, zumal mit dem Weggang Leopolds, der seinem Bruder
Josef II. in der Kaiserwürde nachfolgte, ein Kurswechsel in der
Kirchenpolitik Toscanas eintrat. Nach kurzen Ausführungen
über die Stellung Riccis zur französischen Revolution und
Mine und des italienischen |ansenismus Beziehungen zum
^isorgimento wird sein Widerruf und seine Unterwerfung
^handelt, die, wie gezeigt wird, nur äußerlicher Natur war.
Das Srhlußknpitel zeichnet ein Bild der Persönlichkeit und des
Charakters Riccis, das auch die sympathischen Zuge nicht
ubergeht.

Sehr dankenswert ist die eingehende Übersicht über die
W Archiven und Bibliotheken ruhenden ungedruckten Quellen,
,lhcr das edierte Quellenmateria! sowie über die gesamte einschlägige
Literatur, besonders auch die Spezialwerke über den
Jansenismus in den einzelnen Gegenden Italiens und das
«Urch die Synode von Pistoia und die Bulle Auctorem fidei
^anfaßte Schrifttum (S. 287-330). Dagegen vermißt man
e,n Personenverzeichnis. Von in Betracht kommender deutscher
Literatur ist dem Verfasser einiges unbekannt geblieben,

besonders W. Deinhardt, Dfr Jansenismus in deutschen Landen
. München 1029.

Breslau Franz Xaver Seppe lt

S c h a r f f, Alexander: Die europäischen Großmächte und die deutsche
Revolution. Deutsche F.inlieit und europäische Ordnung 1848 bis
1851. Leipzig: Koehler & Amelang [1942]. 314 S. 8°. geb. RM 10—.
Der Verfasser schildert in großen Zügen die politische.
Geschichte Preußens im Rahmen der deutschen und der
europäischen Politik von der Märzrevolution bis in die Lage

l der Dresdener Konferenzen im Frühjahr 1852. Der Weg des
Preußischen Staates vom 18. März 1848 bis zur Punktation
von Ölmütz war keine Ruhmesstraße, weder für den König;

1 noch für seine Berater. Aber ein so absolut schmachvoller Tief-

; stand, wie man bisher gemeinhin annehmen wollte, scheint der

j 29. November 1851 doch nicht gewesen zu sein: jedenfalls
war der Bruderkrieg noch einmal vermieden, Österreich konnte

i nicht mit der Gesamtheit seiner Nationalitäten die kommende
deutsche Einheit belasten und der Anspruch Preußens auf

! Gleichberechtigung neben Österreich wurde weithin tatsächlich
anerkannt. Es war der Zähigkeit der preußischen Staatsmänner
Brandenburg, Radowitz und Manteuffel, die dem Fürsten

] Schwarzenberg, dem Nachfolger Metternichs, durchweg nicht

! gewachsen waren, doch gelungen, die Einmischung des Auslands
in die innerdeutschen Angelegenheiten auszuschließen,
wie sehr auch von Frankreich (dem Prinzpräsidenten Louis
Bonaparte), von Rußland (Kaiser Nikolaus I., Nesselrode,
Meyendorff) und von Großbritannien (Palmerston) versucht

I wurde, die deutschen Probleme für die eigenen Interessen aus-

' zunützen.

Nebenher spielten eine gewisse Rolle die polnische Frage,
i die werdende Einheit Italiens, das Schicksal der Elbherzog-
| tümer; von geringerer Bedeutung waren die Katastrophe des
' kurfürstlichen Hauses in Hessen-Kassel, auch die weitere Ent-
I Wicklung des Zollvereins, schließlich sodann der auf Wirtschaft«
I lieber Basis fundierte Mittelcuropaplan des österreichischen Ministers
K. L. Frhn. v. Bruck.

Der Kirchenhistoriker hat das Recht zu fragen: Wie weit
sind in der deutschen Revolution und den anschließenden Innerdeutschen
und europäischen Bewegungen religiöse, ja im
eigentlichen Sinne kirchliche Kräfte ausgelöst bezw. eingesetzt
worden? Zur Beantwortung dieser Frage bietet das vorliegende
Buch so gut wie nichts. Gewiß: Friedrich Wilhelm IV. «•ar in
seinem ganzen Handeln von religiös-ethischen Gesichtspunkten
geleitet (S. 118), und auch bei Radowitz schwingen aus-
! gesprochen katholisch-kirchliche Gefühlswerte mit (S. 116).
I Königin Viktoria und der Prinzgemahl Albert dachten gelegentlich
, seltener der britische Premier Palnerston an die
Preußen und England gemeinsame protestantische Grundlage,
deren politische Tragfähigkeit allerdings nicht ernsthaft erör-
' tert wurde (S. 181, 237). Ernsthafter war der vom konservativen
Katholizismus Frankreichs vorübergehend ins Auge
gefaßte Plan einer nationalen Einigung Italiens unter Führung
des Papstes (S. 73, 81). Doch spürt man vom politischen
Katholizismus in der Gesamtheit dieser innerdeutschen wie
europäischen Auseinandersetzungen der Jahre 1848—1851 ebensowenig
wie vom politischen Protestantismus. Dabei hatte der
| Bischofstag von Würzburg 1848 auf der katholischen Seite
I ohne Zweifel politisch Epoche gemacht. Auf protestantischer
Seite hat Ernst Schubert versucht, wenigstens der Revolutionspredigt
von 1848 nachzugehen (Die evangelische Predigt
im Revoltitionsjahr 1848. 1913). Das Ergebnis ist außeror-
1 dentlich mager: lediglich die Person Adolf Sydows ist von Be-
| deutung. Sydow, der an den Särgen der Opfer des 18. März
i sprach, einst zu den Intimen des Königs zu rechnen, von
diesem mit Otto v. Gerlach und dem später zu den Lutheranern
: übergegangenen Hermann Ferdinand Uhden zum Studium der
kirchlichen Verhältnisse nach England geschickt, mit Ludwig
| Jonas, dem Hans Dampf in allen Gassen, im Parlament,
ein ernsthaft ringender Theologe des Protestantenvereins, konnte
In jener Zeit weder politisch noch kirchlich die Fuhrerstelle
| erlangen, die ihm unzweifelhaft gebührt hätte. Alles andere
1 ist von erschreckender Mittelmäßigkeit: etwa Ketteier gegenüber
j hat der Protestantismus jener Tage nichts Ebenbürtiges aufzuweisen
.

Der Verfasser nimmt seinen historisch-politischen Standpunkt
selbstverständlich in der gegenwärtigen Wirklichkeit des groli-
deutschen Reiches. Ob es aber berechtigt ist, Begriffe aus dcr'poÜ-
I tischen Dialektik unserer Tage ohne Weiteres in Zeit und Welt vor
| hundert Jahren einzuführen, ist fraglich. Demokratie, wie wir sie
i sehen, ist heute etwas anderes als das ideale Ziel der Barrikaden-
j Kämpfer vom 18. März. Und hei den Worten junge Nation, Führer-
I Staat, europäische Ordnung haben wir unsere Vorstellung zeitbedingt