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Ausgabe:

1944

Spalte:

128-130

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Codignola, Ernesto

Titel/Untertitel:

Carteggi di giansenisti liguri 1944

Rezensent:

Seppelt, Franz Xaver

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 5/6

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KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Schmidt, Erich : Bismarcks Kampf mit dem politischen Katholizismus
. T. Ii Pius der IX. u. die Zeit der Rüstung 1848-1870.
Hamburg: Hanseat. Verlags-Anst. 1942. 386 S. gr. 8° = Schriften d.
Reichsinst. f. Gesch. d. neuen Deutschlands. RM 10.70; Hlw. 12—.

Der Inhalt dieses Buches gibt nicht, wie man nach dem
Titel zunächst erwarten möchte, eine Darstellung des Kulturkampfes
, sondern nur den Auftakt dazu: er führt bis an die
Schwelle und sucht das Überschreiten derselben als eine Notwendigkeit
grundsätzlich zu begreifen. Zurückgegriffen wird
dabei bis auf den Anfang des 19. Jahrhunderts, mitunter bis
zur französischen Revolution oder noch weiter, sodaß geradezu
ein Aufriß der Geschichte des Katholizismus in Deutschland
unter Berücksichtigung seiner politischen und kulturellen
Beziehungen zu den Nachbarländern im 19. Jahrhundert bis
zum Jahre 1870 einschl. geboten wird. Der 'Aufbau dazu war
gegeben und konnte wohl kaum anders gestaltet werden. Es
wird begonnen mit einer Schilderung der Oesamtlage des
Katholizismus zu Beginn des Jahrhunderts, dann wird die
Romantik mit ihrer katholische Stimmung machenden Geistesbewegung
dargestellt (Sendling, Günther, Hermes, Wessenberg,
Sailer u. a.); der Grundgedanke der verschiedenen Strömungen
ist eine religiöse Erneuerung aus den Tiefen deutschen
Bodens, eine Kampfposition fehlt, eine deutsche Nationalkirche
kann vorschweben, die idealistische, letztlich kontemplative
Philosophie gibt den Begleitakkord. Das wird allmählich anders
mit der Bildung und dem bewußten Vorrücken einer spezifisch
römisch-katholischen Front: die Kreise von München, Wien,
Mainz, Köln, die von den Einfallstoren Elsaß, Frankreich (in
sehr verschiedener Weise: de Maistre, Lamenais) und der
Schweiz (das Luzerner Priesterseminar) ihre Leitgedanken erhalten
. Dann übernimmt die Direktive Rom in Pius IX,
dessen kirchenpolitische Wandlung vom „Liberalen" zum In-
transigenten, Gebundenheit durch die politischen Schwierigkeiten
des Kirchenstaates gegenüber den Mächten Österreich,
Frankreich, Savoyen-Piemont und nicht zuletzt durch ein Bewußtsein
von Gottbesessenheit eingehend und gut charakterisiert
wird. Während nun in Preußen unter Bismarcks Führung
sich das Werden des deutschen Kaiserreiches vorbereitet, konzentriert
sich der Katholizismus zur politischen Partei hier mit
dem negativen Ziele der Befreiung von staatlichen Bindungen
bezw. positiv mit dem Ziele katholischer Staatsauffassung
Gegenüber etwa einem Diepenbrock bildet sich ein neuer
Bischofstyp: Geissei, Ketteier u. a. Ein besonderes Kapitel
bildet die polnische Frage (Ledochowski, dessen Wahl eingehend
dargestellt wird); Schmidt stimmt dem Bekenntnis Bismarcks
zu, daß der Beginn des Kulturkampfes „überwiegend durch
seine polnische Seite bestimmt" wurde. 1870 ballen sich nun
die verschiedenartig differenzierten Gegensätze auf katholisch-

Eäpstlichem und politischem Gebiete zusammen: das durch die
»ogmatisierung der immaculata coneeptio und den Syllabus
vorbereitete Vaticanum auf der einen Seite, das durch die
Niederlage Österreichs 1866 und Frankreichs, der t>eiden am
Kirchenstaate engagierten Mächte, geschaffene deutsche Reich
unter Preußens Führung anderseits. Die beiden Gegner stehen
sich in Konzentration ihrer Kräfte gegenüber. Damit bricht
das Buch ab.

In diesen Rahmen hat nun Schm. vielfach eine sehr willkommene
neue Füllung hineingebracht durch das ihm zur Verfügung
gestellte unbekannte Material aus dem preußischen
Geh. Staatsarchiv in Berlin-Dahlem (einschl. der erstmalig benutzten
Aktenbestände des Ministeriums für kirchliche Angelegenheiten
), dem bayer. Staatsarchiv zu München und dem
Haus-Hof- und Staatsarchiv zu Wien. Es handelt sich zumeist
um Berichte der verschiedenen diplomatischen Vertreter an
den einzelnen Höfen, Lützow, Canitz, Usedom, v. Arnim,
Thilo, Schlözer u. a. Ganze Aktenstücke werden selten mitgeteilt
(etwa S. 364 der Bericht des österr. Botschafters in Rom
über die Seelenlage der vom Vatikanum zurückkehrenden deutschen
Bischöfe, S. 242 ein Schreiben König Wilhelms an
Pius IX. vom 17. Dez. 1866). Neue und wertvolle Beleuch-
tung hat vor allem der von G. Roloff in den Forsch, z. I
brandenh.-preuß. Gesch. Bd. 51 behandelte Versuch Frankreichs
, 1866 Preußen in eine Front mit Frankreich und Öster- I
reich zugunsten Pius IX. einzugliedern, gefunden. (S. 238 der
Text des Projet de Convention). Auch die Berichte zum Vati- j
kanum sind lehrreich. — Seine ganze Darstellung hat Schm. I
unter den modernen Blickpunkt gestellt, daß es sich um Gegen- |
sätze von Blutbindungen des Germanen und Romanen und
Kampf gegen die Gestaltwerdung des nach innerer Gesetzlich- |
keit angetretenen Bismarckschen Staates handelt. Jener Gegen- !

satz war schon von Döllinger betont worden, wird aber von
Schm. an zahlreichen Einzelheiten demonstriert (etwa Bischof
Strossmeyer als „blutsmäßig gebundener" Gegner der konfessionellen
Solidarität S. 321). Wird man hier nicht doch

' stärker auf die historischen Gegensätze zurückgreifen müssen?

j D. h. die Begriffe Staat und katholische Kirche durchdenken

| imüssen auf ihre geschichtlichen Wurzeln und damalige Prägung
? Der Staat des 19. Jahrhunderts, auch der preußische,

| ist nicht der totalitäre Staat, sondern der Toleranzstaat, der
politisch souverän, religiös tolerant, vor der Quadratur des

| Zirkels steht einer Religion gegenüber, die selbst Staatswesen
ist, die er religiös tolerieren muß und als Staat wegen ihres
Staatscharakters nicht tolerieren kann. Das ganze 19. Jahrhundert
zeigt ein Experimentieren um dieses unlösbare (von
jenen Voraussetzungen aus) Problem. Auch der Kulturkampf
war Experiment, das gescheitert ist (ob bei seinen Ursprüngen
die polnische Frage so ausschlaggebend war, ist fraglich).
Vom damaligen Staatsbegriff aus war nur ein modus vivendi
möglich, auf den es ja bei den verschiedenen Experimenten
auch herausgekommen ist. Der totalitäre Staatsbegriff schafft
eine neue Situation. — Stilistisch sind einige Flüchtigkeiten
untergelaufen: S. 31 Z. 17 lies tua, S. 124 Anm. I. Bartmann,
S. 267 Z. 12 I. Lager, S. 341 Z. 15 1. crescendo,, S. 334 Anm.
1 I. partiront, S. 288 Anm. 1 I. Geizer, S. 135 begegnet das-
seltsame Zitat: Rom dixit res locuta est.

Heidelberg W. Köhler

Codignola, Ernesto: Carteggi di Giansenisti Liguri. 3 Bände.
[Pubblicazioni della R. Universitä degli Studi di Firenze. Facoltä di
Magistero. Volume IV 1—3]. Florenz: Monnier 1941/42. (CCLXII,
683, 784, 918 S.) gr. 8°. Lire 90—, 80—, 120.—

Matteucci, Benvenuto: Scipione de Ricci. Saggio storico-teologico
sul Giansenismo Italiano. Brescia: Morcelliana 1941. (XI, 334 S.)
gr. 8°. Lire 15 — .

Das stattliche dreibändige fast 2650 Seiten umfassende
Werk von Codignola erschließt ein überaus reiches mit ganz wenigen
unerheblichen Ausnahmen ungedrucktes Quellenmaterial
über den Jansenismus und seine Repräsentanten in Ligurien
in den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts. Die reichste Ausbeute lieferten
die Staatsarchive von Mailand und Florenz, welche letzteres
den sehr umfangreichen Nachlaß des Bischofs Scipione de'
Ricci von Pistoja und Prati birgt, sowie das Vatikanische
Archiv und das Archiv der jansenistischen Kirche von Utrecht;
aber auch andere Archive, von denen das Generalatsarchiv der
Piaristen und deren Provinzialarchiv in Genua-Cornigliano genannt
seien, una mehrere Bibliotheken boten wertvolles Material
. Die umfangreichsten und wichtigsten der im vollen
Wortlaut veröffentlichten Briefwechsel sind die der beiden
Piaristen Martino Natali (I 1—265) und Giovanni Battista
Molinelfi (I 267—344), des Professors Paolo Marcellö del
Mare (I 345—531), des Oratorianers Vincenzo Palmieri (II
1—636), des Bischofs Benedetto Solari von Noli (II 637—777)
und vor allem auch des einflußreichen überaus rührigen
Eustachio Degola (III 103-563). Die Aufschlüsse, die uns
durch diese große Publikation über den Jansenismus in Ligurien
und seinen weitreichenden Einfluß gegeben werden,
sind sehr beträchtlich. Wir erhalten Einblick in das gegenseitige
Verhältnis dieser jansenistischen Kreise, in die durchaus
nicht immer einheitliche Haltung der genannten führenden
Persönlichkeiten und einer Reihe ihrer bisher wenig bekannten
, aber nicht unbedeutenden Gesinnungsgenossen zu den
theologischen und kirchenpolitischen Zeitfragen, in ihre Stellungnahme
zu den Jesuiten, zum Molinismus, zur Bulle
Auetorem fidei, zur Herz-Jesu-Verehrung und zur kirchlichen
Verfassung, in ihr Verhältnis zur Revolution und zur französischen
Invasion, in ihre vielfältigen engen Beziehungen zu den
andern jansenistischen Kreisen in Italien, besonders zu Bischof
Scipione de'Ricci, zur jansenistischen Kirche von Utrecht, zu
den französischen Gallikanern und zur konstitutionellen Kirche,
besonders zu Bischof Gregoire.

Der Herausgeber hat sich nicht damit begnügt, der Forschung
das reiche Material zur Verfügung zu stellen; er hat
ihr durch erläuternde Anmerkungen, die vor allem die zahlreichen
in den Briefen erwähnten Persönlichkeiten und Schriften
betreffen, einen weiteren Dienst erwiesen; und in einer mehr
als zweihundertfünfzig Seiten umfassenden Einleitung die unverhohlen
seine Sympathie für den ligurischen fansenlsmus
verrät, hat er die ersten Schritte zur Auswertung des von ihm
bereitgestellten Quellenmaterials getan. — Als Anhang (III,
687—840) werden eine Anzahl Flugschriften, Outachten und
Ansprachen der führenden Persönlichkeiten zu den Kontro-