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Ausgabe:

1944

Spalte:

107-109

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hauer, Jakob Wilhelm

Titel/Untertitel:

Urkunden und Gestalten der Germanisch-Deutschen Glaubensgeschichte 1944

Rezensent:

Baetke, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 5/6

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eines Miterlebens urtümlicher Formen de-; Daseins. Der Mensch
der modernen Vollkulturen mit ihrer Vielfalt der Werte und
ihrem Widerstreit der Forderungen ist in Gefahr, in Relativismus
zu verfallen und an Werten überhaupt zu zweifeln,
sie jedenfalls nicht mehr in ihrer Reinheit und Unbedingt-
heit zu empfinden. Deshalb müssen wir immer wieder zu den
reinen Quellen der Urerlebnisse zurückkehren, zu Epochen,
wo der Mensch unter eindeutig prägenden Kräften der Natur
jeweils nur von einem Wert beherrscht war, der seinem
ganzen Dasein Richtung und Stil gab. Wie wir den Reichtum
Unsrer deutschen Kultur am tiefsten empfinden, wenn wir
ihre einzelnen, in Spannung zu einander stehenden Elemente,
germanische Kriegerehre, eschatologische Grundstimmung des
Urchristentums und antikes Ordnungs- und Harmoniegefühl,
jedes in seiner idealtypisch zugespitzten Reinheit erleben, so
gewinnen wir den besten Einblick in die allgemeinen haltungprägenden
Kulturkräfte, wenn wir uns in die — allerdings

nur mit Hilfe der Phantasie lebendig auszugestaltenden —
Bilder des Menschenlebens der Primärkulturen versenken.
Das Herausarbeiten der Stilelemente, aus denen sich un-
! sere heutige Lebensordnung zusammensetzt, ist also an sich
i eine sinnvolle Betrachtungsweise, auch wenn es nicht gelingt,
i diese Elemente in ihren reinen, noch unvermischten Erschei-
! nungsformen irgendwo und irgendwann als existent nachzu-
j weisen. Daneben behält auch diejenige Forschungsweise ihren
' Sinn, die darauf ausgeht, das Werden der Kulturen in den Ur-
i Sprüngen ihrer Elementarformen und in ihren Begegnungen
' und Beeinflussungen lückenlos ursächlich zu erschlieflen. Aber
, diese Aufgabe ist nicht so einfach, wie sie der „kulturhistori-
1 sehen Ethnologie" erschien. Trotzdem können wir hoffen, daß
! auch hier das Zusammenwirken und die „wechselseitige Erhel-
hing" von Völkerkunde, Vorgeschichte und rückschließend-
I vergleichender Betrachtung der geschichtlichen Kulturen uns
| neue Aufschlüsse bringen wird.

REUGlOTSSWlSSENSCHAFr

Hauer, J. W.: Urkunden und Gestalten der Germanisch-Deutschen
Glaubensgeschichte. Bd. 1. Von der Germania des Tacitus,
der Edda und den Sagas bis zum Ausgang des Mittelalters. A. Die
Zeit des ungebrochenen arteigenen Glaubens. I.fg. 2—8 (S. 49-384).
Stuttgart: W. Kohlhammer (1941 —42). Jede Lieferung 48 Seiten,
gr. 8". Preis je Lfg. RM 1.20.

Von dem großangelegten Werk, dessen erste Lieferung
ich im Jahrgang 1942 der Theol. Lit. Ztg. Nr. 7/8, S. 211 f.
besprochen habe, sind inzwischen acht weitere erschienen. In
der zweiten wird zunächst die Interpretation der Germania
des Tacitus fortgesetzt. Die im 27. Kapitel erwähnte Totenverbrennung
erklärt H. aus der Anschauung, daß der Tote
durch das Feuer von der Sterblichkeit befreit in die Lichtwelt
erhoben wird, und knüpft daran die Vermutung, daß (da nach
seiner Annahme Verbrennung und ein neuer Jenseitsglaube
zusammenhängen) ,,sich damals" (d. h. zur Bronzezeit) ,,der
Glaube an Walhall" (der in Wirklichkeit gar nichts mit der
Leichenverbrennung zu tun hat) ,,zu seiner ersten Blüte entwickelt
hat" (S. 70). Da nun aber Balder und Siegfried nach
der Edda noch zur Hei fahren, müssen die mythischen Wurzeln
dieser Sagen noch „in eine Zeit zurückgehen, die vor
dem neuen Jenseitsmythus liegt" (S. HO). Hei, etymologisch
gedeutet als „die Hüllende, Schützende", wird erklärt als die
„gütige Mutter Erde", die „den Menschen im Tode wieder
zu sich nimmt und sein unzerstörbares Leben schützend einhüllt
" (S. 71). Dies sind einige Beispiele für die weitgehenden
Schlußfolgerungen, die hier mit Hilfe unsicherer Hypothesen
aus zweifelhaften Voraussetzungen gezogen werden. So wird
auch die Angabe von Germania 45 über die Vorstellungen
der Swionen von der Sonne als Beleg für Sonnen-
glauben und Sonnenverehrung bei den Germanen genommen. —
Die folgenden Teile behandeln dann, als 2. Kapitel des 1. Abschnittes
, Unterabteilung A, die Edda (S. 76 ff.). Es Ist bezeichnend
, daß der Verf. in der Edda, wenn er auch gelegentlich
das Zugeständnis macht, daß sie allerlei fremde
Stoffe und Fabeleien enthalte, grundsätzlich doch „Kunde aus
der Zeit ungebrochenen nordischen Glaubens" findet und die
Völuspa für das gewaltigste Zeugnis einer nordischen Welt-,
Menschen- und Gottschau hält (S. 97). — In seiner Interpretation
der Edda setzt Hauer die Betrachtungsweise der religionsvergleichenden
Schule des vorigen Jahrhunderts fort. Sinn
und Zweck seiner Untersuchung ist die Deutung der Mythen,
in denen er den Ausdruck einer urarischen Weltanschauung
sieht. Auch die Methode ist die alte: Vergleichung der eddischen
Mythen mit der mythischen Überlieferung der andern
indogermanischen Bereiche, insbesondere der indo-arischen (vgl.
S. 98 und 105); diese indogermanischen Zusammenhänge zeigen
uns, wie H. meint, „die unzerstörte Linie der Überlieferung
aus den Urzeiten unseres hluthaften und geistigen Daseins bis
zur Edda" (111). Und auch darin folgt H. seinen Vorgängern,
daß er sich bei seinen Deutungen der mythischen Gestalten und
Motive weitgehend der Etymologie bedient — ein Verfahren,
das er besonders zu rechtfertigen sucht, allerdings mit Gründen,
die die Bedenken gegen es eher erhöhen als vermindern. Die
in den Anmerkungen auf Seite 160 f. und 230 f. entwickelten
methodischen Grundsätze dürften weder bei Sprachpsychologen
noch bei Philologen viel Anklang finden. Vom Standpunkt der
Religionswissenschaft müssen jedenfalls die Mittel, mit denen
hier religionsgeschichtliche Zusammenhänge aufgeklärt werden
sollen, als höchst bedenklich bezeichnet werden. Insbesondere

| eröffnet die auf Seite 231 entwickelte Laut- und Buchstaben-
! Metaphysik die Tür zu uferlosen Spekulationen.

Wozu die etymologische Deutung eddischer Namen führt, möge
an einigen Beispielen veranschaulicht werden. „Mimir" wird zu
i indoarisch inänman (das Sinnen, der Gedanke) gestellt und auf ein
j indogermanisches menmen zurückgeführt; ,,'1111111311 im Urgermani-
! sehen", heißt es dann weiter, „kann also nichts anderes bedeutet
haben als die personifizierte göttliche Geistkraft und Wcisheitsmacht,
die sich dem innenoffenen Menschen kundtut" (S. 235). Der Gottesname
Hoenir wird abgeleitet von huhniar ,.leuchtend", woraus folgt,
daß der Gott eine Paralletgestalt zu Mimir ist (230). Bestla, nach
der Gylfaginning die Gattin Bors und Mutter Odins, ist „die Bast-
tragende", also wohl „ursprünglich eine Baumgottheit, also ein
Weltbaumwesen" (215). Der Name des Dichtergottes Bragi hängt
zusammen mit ind. brähman, einem Neutrum von der Wurzel hrli
„gewaltig, hoch erhaben" (von der auch Brigantia und Burgunder
abzuleiten sind). „Die Bildung Bragi entspricht dem altindoarischcn
hrahmi und brago, Dichtkunst, ist dasselbe wie brahman, die Macht,
aus der heiliger Spruch und heiliges Lied geboren wird". „Denn
I das echte Lied ist .Macht' im höchsten Sinne" (105).

Mit der alten religionsvergleichenden Schule verbindet Hauer
| auch dies, daß seine Deutung der Eddamythen sich noch sehr
stark der Naturmythologie verhaftet zeigt, die die germani-
| sehen Gottheiten als symbolische Gestaltung von Naturerscheinungen
und -Vorgängen auffaßt.

Im Erleben der Natur und des kosmischen Geschehens „wird
i der Mensch der Gottwirklichkeit inne", und so zeigen die Mythen
I „das tiefe Gottcrlebcn des germanischen Menschen" (140). Dies giilt
i insbesondere von den Thormythen („die flottmacht Thor ist vor-
I nehmlich wirkend im Gewitter"); aber auch für die Mythen von
! Freyr und Baldr und zum Teil auch für die Odinsmythen wird der
' Kernpunkt im Naturerleben gesucht (vgl. S. 123). Freyr war „in der
, Zeugekraft der Natur gegenwärtig" (S. 139); den Inhalt des Skirnir-
| liedes bildet die Vereinigung dieser Kraft mit der neu sprießenden
- und erblühenden Mutter Erde; Gerd, Sigrdrifa und Menglod stellen
das „schlafende und wiedererwachende Leben der Natur" dar (ob-
! gleich Gerd gar nicht schläft). Der blaue Mantel Odins ist der
I Himmel (151), der Kessel, den Thor in der Hymiskvida holt, der
| „Schneehimmel" (145) usw.

Aber Hauer bleibt bei der Naturmythologie nicht stehen,
sondern schreitet von ihr fort zu der „lebensgesetzlichen" Deu-
J hing der Mythen. Der Arier hat sich mit besonderer Inbrunst
1 den Fragen des inneren Lebens hingegeben, infolgedessen spielt
in der mythischen Gestaltung das Erleben der inneren Wirklichkeit
eine große Rolle (122). In der lebensgesetzlichen
1 Deutung sieht Hauer seine eigentliche Aufgabe; sie ist ihm
: das Mittel, die Mythologie für den Aufbau einer artge-
I mäßen Weltanschauung fruchtbar zu machen, und diesem
l Zwecke soll ja sein Werk hauptsächlich dienen. Wie das gemeint
ist, sei wieder an einigen typischen Beispielen dieser
j Art von Mvthendeutung veranschaulicht; sie geben am besten
, einen Eindruck nicht nur von der Edda-Interpretation, Hauers,
| sondern von dem Geist und der Methode des ganzen Werkes.
Aus den Mythenmotiven von der Ziege Heidrun, von Hciddraupnir
u. a. schließt H. mit de Vries, daß heid eine vom Welk-nbaum
tropfende Flüssigkeit ist, und sagt dann: „dieser ,Met' fällt vom
Wctltenhatim, d. h. aus den lebendigen Tiefen des Weltalls und seiner
| schaffenden Seele sclibst. Es ist nicht mehr jene halbdämonische
: oder riesische Macht der früheren Begeiisteriingsformen. Es Ist
höchste innere Klarheit und Schöpferkraft, wie sie etwa in einem
Goethe im germanischen Raum Oestalt geworden ist" (S. 104).
! Daß Thor sich in der Thrymskvida als Weib verkleidet, bedeutet,