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Ausgabe:

1944

Spalte:

59-61

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brachmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Glaube und Geschichte 1944

Rezensent:

Köhler, Walther

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RELIGIONSWISSENSCHAFT

Brach mann, Wilhelm: Glaube und Geschichte. Eine religionswissenschaftliche
Untersuchung über den deutschen Protestantismus.
Frankfurt a. M.: Diestcrweg 1942. (VII, 119 S.) gr. 8°. RM 4.80

Der vor kurzem zum Ordinarius für das Fach der Religionswissenschaft
in der philosophischen Fakultät der Universität
Halle-Wittenberg ernannte Verfasser legt in dieser
Habilitationsschrift gleichsam sein wissenschaftliches Programm
vor. Es wird dank seiner klaren und eindringlichen Formulierung
von allen denen freudig begrüßt werden, die den
gegenwärtig beliebten Weg einer Souveränität des „theologischen
Denkens" und einer Selbständigkeit theologischer Ontotogie
für einen verhängnisvollen Irrweg halten und die Isolierung
des Christentums zugunsten seiner Einordnung in die
allgemeine Religionsgeschichte aufgehoben wünschen, m. a.
W. die einer folgerichtigen Durchführung des historischen
Denkens das Wort reden. Und ihrer sind viele, wenn sie auch
mehr in den Reihen der Philosophen und der gebildeten Laienwelt
als auf den Bänken der Theologen sitzen. Die Theologie,
heißt es S. 100, vermag „im entscheidenden Betracht den willkürlichen
Behauptungscharakter ihrer Grundlagen nicht zu beseitigen
. Sie hat daher aus dieser Not eine Tugend zu inachen
Versucht, dadurch, daß sie den theologischen Charakter
ihrer Aussagen von dem von uns so genannten Behauptungscharakter
abhängig gemacht hat. Die Frage ist nur,
ob diese Art der Argumentation, die keine Argumentation
ist und gewiß oft auch nicht sein will, auf die Dauer Menschen
und Völkern Genüge zu tun vermag, die im /.eichen des
„Selbstsehens" und „Selbslurteilens" ihren Weg durch die
Geschichte angetreten und genommen haben". Folgerichtig
setzt B. mit einer Kritik dieses theologischen Denkens in weitem
Umfange ein, wobei der Ansatzpunkt mit vollem Rechte
bei D. F. Strauß gefunden wird, der zuerst das Problem
„Glaube und Geschichte" gestellt hat, nachdem Schleiernlacher
zwar die Sache, den personhaften Bezug der Religion hatte,
aber noch nicht das Problem empfand. Strauß zeigte, daß aus
der Wahrheit' der Ideen für die Wirklichkeit der Oeschichte
nichts folge, Oeschichte nach eigenen Gesetzen zu beurteilen
sei, gerade auch die evangelische Geschichte; als empirisch
gegebene Religion untersteht das Christentum den Forderungen
der Autonomie des Geistes d. h. der Wissenschaft. Glaube
und Geschichte ist also nichts anderes als Glaube und Denken.
So kommt im Zusammenhang mit der von Strauß ausgelösten
Leben-Jesu-Bewegung das Problem in Gang. B. behandelt
nun die Lösungsversuche von Kühler, Ritsehl, Troeltsch, K.
Barth, W. Herrmann, Althaus, Heim, Börnhausen, Wobber-
hiin, Otto, Brunner, Gogarten, Odenwald, Kattenbiisch und
gibt von seinem Blickpunkte aus einen sehr fruchtbaren Beitrag
zur Oeschichte der Theologie, man möchte ihn eine Priu-
zipiengeschichte nennen, d. h. jeweilige Heratishebung des springenden
Punktes — damit ist mehr gewonnen als mit F.iuzel-
heiten. Die scheinbar bunte Mannigfaltigkeit reduziert sich
überzeugend auf zwei Grundtypen', sachlich zu bestimmen als
Einordnung der Theologie in das wissenschaftliche Erkennen,
sodaß eine kouleurfähige Wissenschaft des religiösen Glaubens
entsteht, und Rückgriff auf die mittelalterliche Theologie
mit ihrem Festhalten an einem Dualismus natürlicher und
übernatürlicher Geschichte und der Substanzrealität der biblischen
Offenbarung, persönlich zu bestimmen als Ritsehl
contra Kahler. Die Richtung Kahler will das historische
Problem entweder überhaupt nicht sehen oder macht das
ganze Problem zu einem Scheinproblem. Kühler selbst stellt
Jesus grundsätzlich aus der Geschichte heraus, K. Barth klammert
die ganze Geschichte ein durch die autoritas verbi dei,
dessen Offenbarung dann (Ober-) Geschichte wird — Br. fragt
demgegenüber sehr richtig: gibt es eine andere als menschliche
Erkenntnis?; der biblische Gott verdankt seine entscheidenden
Züge als der Herr der Eigenart des Menschen —, Althaus
arbeitet mit dem Wunder, ..sagt uns aber nicht, wie ein
die Geschichte aufhebendes Geschehen in der Geschichte an geschichtlichen
Menschen möglich sein soll". Heims überperspektivischer
Raum, der nicht denkbar ist, bleibt eine leere Behauptung
, über die sieh nicht streiten läßt, Brunner schaltet
grundsätzlich den Menschen ein. dekretiert aber sofort über
die Menschheit als massa perditionis und klammert die ganze
nichtchristliche Oeschichte als „Vorgeschichte" ein, empfindet
also die Solidarität der Menschen nur als Schuld, ähnlich steht
Gogarten unter theologischen Prämissen. Diese ganze Richtung
stellt sich niemals so ein, daß „nun auch einmal der .Anspruch
' des geschichtlichen "Denkens als solchen, abgesehen
von ,theologisehen' Prämissen hätte zu Wort kommen

, können." Das ist bei der Richtung Kitschi anders: Besser:
es will und möchte anders sein. Denn ein Hauptwert der Kri-
| tik von Br. liegt in dem Nachweis, daß der historische Ansatz
! in eine unhistorische Inkonsequenz übergeht. Das hätte m. E.
! bei Ritsehl selbst schärfer betont werden müssen. Sein „Chri-
j stus" als Faktum der Geschichte war im letzten Grunde doch
I nicht geschichtlich, sondern das biblische Glaubensbild, wie es
: eine maßvolle Kritik sichergestellt zu haben schien. Und seine
Werturteil-Ontotogie landete in ganz unhaltbaren dogmatischen
: Setzungen (man vgl. etwa die „Gottheit" Christi bei Kaftan).

Die von Br. an Herrmann vollzogene Kritik trifft auch Kitschi.
I Umgekehrt wird Troeltsch zu einseitig nach dem Aarauer Vor-
| trag „die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glau-
! ben" (1911) beurteilt. Mit vollem Recht zeigt Br., daß die
j Geschichtsforschung über den damaligen historischen Grundriß
i von Tr. hinausgegangen ist, aber Tr. selbst hat In seiner späteren
Phase daran auch nicht festgehalten und kommt den posl-
! tiveu Ausführungen von B. (s. u.) sehr nahe. Besonders gelungen
scheint mir die Kritik von Wobbermin mit dem Nach-
, weis, daß die religionspsychologische Methode nicht die Rätsel
j löst, sondern zu einer Harmonisierung biblischer Aussagen
i mit solchen, wie sie dem modernen Menschen möglich Und ein-
| gängig sind, führte; in der „übergeschichtlichen" Wahrheit
j steckt Oedankengut von Kühler. Bei Otto hatte schon Heim
j richtig den inkonsequenten Punkt gesehen, nämlich die Absolut-
heit des Christentunis zu schnell zu präzisieren und Jesus
I „den" Sohn anstatt „einen" Sohn zu nennen.

Wie lautet B.'s positives Programm? Daß es über Kaut
führt, verrät schon die Kritik an Odenwald und Kattenbiisch
! (denen Bemerkungen über F. W. Schmidt, Schumann und
: Koepp beigefügt sind), die im Anschluß an Kant dem Glauben
i ontologische Bedeutung zusprechen und die Gottesfrage: wie
j ist Gott möglich? in den Vordergrund rücken, um Jesus ir-
1 gendwie als Erscheinung Gottes (bei Kattenbiisch „in leib-
I hafter Wirklichkeit", ähnlich übrigens Bruiuier: „das Inkognito
j Gottes") zu fassen. Sehr richtig sieht B. in der Hinwendung
zur Ontotogie „die Verzweiflung an der Oeschichte" und
I nicht das sturmfreie Gebiet. „Wissenschaftlich trägt die Rede
von der Offenbarung den Charakter einer bloßen Behauptung."
Demgegenüber wünscht B. den Ausatz in der Religionswissen-
I schaft und eine Bestimmung der Bedeutung des Erkenntnis-
I aktes für die Religion (das war schon der Sinn von Troeltsclis
: Fixierung des religiösen Apriori gewesen). Nicht „Anerkenut-
j nis" (Theologie), sondern ..Erkenntnis" (Religionswissenschaft).
Da kommt die Frage: ist das numinose Moment wirklich allgemeingültig
, wie Otto zu zeigen suchte? (NB: die Frage nach
der Allgeniriugültigkeit des religiösen Apriori ist nicht dieselbe).
: Weiter: „die Mitte" heißt nicht Jesus, wie das noch Bornhausen,
: dem Ii. im Übrigen als sein Schüler in der Ausweitung der
| Theologie zur Religionswissenschaft sich nahe weiß, sondern
I praktische Vernunft, eine geschichtliche „Mitte" kann es bei
i dem ständigen Wechsel der Geschichte nicht geben (auch hier
I möchte ich auf den späteren Troeltsch hinweisen, der historische
i Absolutheit, also auch die des Christentums, völlig preisgab),
i Der Aspekt der Religionswissenschaft zum Unterschied von der
' Theologie ist „von unten her", nicht „von oben her" zu nehmen
, wobei in der Bestimmung der Religion als Personalbe-
Ziehung (sonst wird sie Magie) Theologie und Religionswissen-
j schaft sich berühren. Naturgemäß vollzieht sich bei diesem
Rückgriff auf das Selbst und seine religiöse Funktion ein Abbau
der Theologie als einer Lehre von Gott und den göttlichen
Dingen. Auch die „Kirche" wird ein Neues: eine unsichtbare
„Gemeinde" vernünftiger unter dem Gesetz der Freiheit
1 stehender Wesen. B. deutet einmal (S. 12) die Frage der Or-
ganisation derselben an, wenn die sichtbare Gemeinschaft politisch
-weltanschaulich ..Volksgemeinschaft" geworden ist. Wie
wird die unsichtbare „Gemeinde" da l.ebensäußerung finden,
w ird es gehen ohne einen Kultheros, wird nicht die Gefahr der
Zerflatternng entstehen, wie sie bisher alle religiöse Reform
ohne Kultheros traf? Hier scheint mir eine große Schwierigkeit
praktischer Art aufzutauchen bei aller Richtigkeit der theore-
, tischen Grundlegung. Es hängt das z. T. mit dem nur symbolischen
Frkenntniswert der religiösen Aussagen (S. 115,
übrigens wieder in Übereinstimmung mit Troeltsch) zusammen.
Hier und auch noch an anderen Punkten (Schuldproblem,
| ersetzt durch Selbstverantwortung) begnügt sich B. mit Andeu-
| hingen. Das Nächste wird wohl sein müssen, daß eine Religionsphilosophie
als Erkenntnistheorie vorgelegt wird, in der
, konsequent die Religionswissenschaft, nicht die Theologie, die
I sie ja bestenfalls nur in ihren Vorhöfen sehen wollte, das Wort
! führt. Wir begrüßen es aufs Lebhafteste, daß die vor Jahren
| schon gestellte, aber damals beim Auftreten der religionsge-
: schichtlichen Schule schnell wieder in den Hintergrund ge-
■ schobene Frage: Theologie oder Religionswissenschaft? neu auf-