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Ausgabe:

1944

Spalte:

40-41

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Wenger, Leopold

Titel/Untertitel:

Canon in den römischen Rechtsquellen und in den Papyri 1944

Rezensent:

Wohlhaupter, Eugen

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 1/2

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nung üirer natürlichen Voraussetzungen ist. Die damit vollzogene
Scheidung zwischen charismatischer Macht und rechtlicher
Ordnung, zwischen dem Leben der Kirche und der Anpassung
an den Boden, auf dem sie steht, muß bei der Betrachtung
der Sohmschen Theorien stets berücksichtigt werden,
eine Forderung, die jedoch in der Polemik gegen ihn merkwürdig
oft vernachlässigt wird. Sodann ist von F. (S. 42—47)
sehr gut beobachtet, daß Sohms Kritik von ihren eigenen Ansätzen
aus über die Verneinung des Kirchenrechts hinaus
zur Verneinung der verfaßten Kirche weiter getrieben wird.
Es handelt sich hier allerdings um eine Seite des Sohmschen
Kirchenbegriffs, die leicht in der Nuance falsch gefaßt werden
kann, indem nämlich daraus mit Harnack abgelesen wird,
daß nach Sohm die Kirche nur eine Idee sei, an die der Christ
in seiner Vereinzelung glaube. Wenn man jedocli diese Auffassung
fernhält und Sohms Kritik auf die grundsätzliche Bindung
der Kirche an eine einmal entstandene Verfassung bezieht
, eine nur tatsächlich bestehende und jederzeit revisibel
bleibende Verfassung aber als möglich zugibt, ist damit Sohms
Grundgedanke in eine besonders eindrucksvolle Form gebracht,
die das ihr eigentümliche Nebeneinander wirkensmäßiger Verbindung
und wesensmäfiiger Scheidung von Christlichkeit und
Kirchlichkeit gut erkennen läßt.

Schon eingangs wurde angedeutet, daß F. sich nicht um
eine umfassende Sammlung und Würdigung der Sohin-Literatur
bemüht hat. Angesichts der vorgeführten Beispiele für seine
enge Vertrautheit mit Sohms Gedanken ist es jedoch bedauerlich
, daß er auch auf eine Auseinandersetzung mit dem
Buch von G. Krauß, Der Rechtsbegriff des Rechts (Hamburg
1936), verzichtet hat, weil dieses nicht die via trita der üblichen
Sohmpolemik beschreitet, sondern einen neuen Weg geht, indem
es sein Kirchenrecht aus seinem Rechtsbegriff entwickelt und
diesen wiederum als den liberalpositivistischen Rechtsbegriff des
19. Jahrhunderts zu entlarven und zu entwerten bemüht ist.
Gerade F. hätte von den Positionen aus, die er bei der Analyse
Sohms gewonnen hat, diesen Angriffen von Krauß entgegen
treten können.

Sieht man von dieser Lücke und von einzelnen Unachtsamkeiten
des Details ab (die bibliographischen Angaben sind
nicht immer genau; S. 70 wird J. Hecke! zu Unrecht als seit
Stutz' Tode besonders hervortretender Anwalt selbständigen
Kirchenrechtes bezeichnet), so bietet F. einer kritischen Würdigung
kaum eine Angriffsfläche; auch dort, wo er Sohms Gedanken
weiterführt, wie bei dem Bilde, das er S. 102—110 von
dem Leben einer rechtsfreien Kirche zeichnet, bewährt er die
Kunst seines Meisters, sich stets in der Deckung der eigenen
Axiome zu bewegen und so jeden Versuch zu vereiteln, ihn anders
als auf seine Grundsätze hin anzugreifen.

Das gilt auch von der Ansicht, die noch am ersten
innerer Kritik zu unterliegen scheint, der Durchführung der
These, daß über das Wesen des Rechts die Vorstellungen seiner
Träger und demgemäß etwa über das Recht der Urkirche die
Auflassungen der ersten Christen entschieden. Von diesem
Satz aus hat Sohm in schärfster Weise die ihm besonders
durch Hai nack verkörperte. Darstellung des Kirchenrechts nach
dem Standpunkt des Beurteilers abgelehnt. Wenn er dann gelegentlich
selbst das gegenwärtige Recht der katholischen Kirche
nach der protestantischen, lutherischen Auffassung statt nach
der katholischen beurteilt, und wenn F. ihm darin folgt
(vgl. z. B. S. 58), so löst sich diese scheinbare Inkonsequenz,
sobald man zwischen Darstellung und Beurteilung der einzelnen
kirchenrechtlichen Anschauungen unterscheidet. Für ihre Darstellung
ist nach Sohm der Standpunkt der tragenden Gemeinschaft
maßgebend, ihre Beurteilung von einem bestimmten
eigenen und gegenüber allen Systemen gleichbleibenden Standpunkt
aus ist das unentbehrliche Korrektiv, das ein Abgleiten
in den alles relativierenden Historismus verhütet. Sohms Kritik
an Harnack läßt sich von diesen Bemerkungen aus dein
Sinne nach in die beiden Vorwürfe fassen, daß er noch für
Darstellung halte, was schon Beurteilung sei, und daß er als
Grundlage dieser Beurteilung des Kirchenrechts nicht die
Lehre Luthers, sondern die politisch-ökonomischen Vorstellungen
der Aufklärung gewählt habe. Auch in dieser Hinsicht
befinden sich Sohm und ebenso der ihm folgende F. in Übereinstimmung
mit ihren Ausgangsstellungen.

Die Auseinandersetzung mit F. und die Abgrenzung gegen
ihn müßte also mittels eines Diskussion der lutherischen
Voraussetzungen geführt werden, für die hier nicht der Ort
ist. So mag zum Schluß der Dank, den auch der grundsätzlich
völlig entgegengesetzt Urteilende F. schuldet, in die
Feststellung gekleidet sein, daß sein Buch eine würdige Krönung
der jahrzehntelangen Beschäftigung des greisen Verfassers mit
Rudolph Sohm ist.

Bonn Hans B a r i o n

Wenger, Leopold: Canon in d. römischen Rechtsquellen u. in
den Papyri. Wien: Holder-Pichler-Tempsky 1942. (194 S.) gr. 8° =
Ak. d. Wiss. in Wien, riiil.-hist. KL Sitzungsberichte, Cd. 200, Abh. 2.

RM 12-.

Wenn der Altmeister der deutschen Romanistik selbst nur
' zu einer „Wortstudie" — so nennt sich allzu bescheiden im
! Untertitel die vorliegende Untersuchung — die Feder ergreift,
I so darf man doch gleich erwarten, daß die scheinbare Enge
j des Themas der Weite der Gesichtspunkte keinen Abbruch
! tun wird. Und tatsächlich muß man, um die volle Tragweite
| dieser neuesten Abhandlung Wengers zu erkennen, von ganz
J grundsätzlichen Erwägungen den Ausgang nehmen. Drei Elemente
sind es bekanntlich, die in allerdings verschiedenem
i Mischungsverhältnis die Rechte aller europäischen Kulturna-
! tionen und die von diesen ausstrahlenden Rechte ihrer früheren
| oder heutigen Kolonien geprägt haben: das römische, das germanische
und das kanonische Rechtselement. Während nun
römisches und germanisches Recht schon ursprünglich Ausdruck
der säkularen Lebensordnungen völkischer, staatlicher
Gemeinschaften sind, ist das kanonische Recht die Ordnung;
einer primär glaubensmäßigen (Kirche im Olaubenssinne), erst
sekundär rechtlichen Gemeinschaft (Kirche im Rechtssinne).
Es gehört zu den immer wieder fesselnden großen Themen1
rechtsgeschichtlicher Forschung — man gedenke nur der Lebensarbeit
von Ulrich Stutz — darzulegen, was am I<:r-.
chenrecht eigenständig, was aus dem römischen oder germanischen
Recht übernommen ist. Reiht sich Wenger zum Teil
dieser Fragestellung ein, wenn er bekennt, in Fortführung von
Gedanken hranz Josef Dölgers ,,das Fortleben antiker
Rechtsbegriffe in den christlich gewordenen Ländern" verfolgen
zu wollen (S. 8), so weiß er sich zum anderen Teil der nicht
minder bedeutsamen Fragestellung verpflichtet, welche Rückwirkungen
das schon konsolidierte Kirchenrecht auf das Profanrecht
ausgeübt habe (S. 11). Freilich bedurfte es eines in lebenslanger
Forscherarbeit hellsichtig gewordenen Auges, um
eine Studie über das Wort canon, das dem Juristen sowohl
als wirtschaftsrechtlicher Terminus für Abgaben, wie als typische
Bezeichnung kirchenrechtlicher Sätze geläufig ist, in den Dienst
solch umfassender Probleme, denen sich eine Fülle weiterer
wichtiger Gesichtspunkte zuordnet, zu stellen.

Versuchen wir, in knappster Kürze, die deshalb auf das Beschreiten
manch lockenden Scitenpfades verzichten muß, die Ge-
dankenführung des Buches sichtbar zu machen.

in griechischen Worte canon, das als Lehnwort auch in die
römische Rechtssprache übernommen wird, liegt als Grundbedeutung
das Gerade, Geordnete, schon im übertragenen Sinne das Vorbildliche
(S. 11 ff ). So kommt canon als wirtschaftsrecht'icher Terminus zur
Bedeutung der Steuer oder sonstigen festen Abgabe (S. 24 ff.), der
Regclauflage mit fixem Inhalt im Gegensatz zu allen Zuschlagen
und Sondcrauflagen (S. 167). Jedenfalls i.m Griechischen stehen canon
und Waage in gedanklicher Verbindung (S. 15); von der griechischen
Nemesis übernimmt die römische Acquitas das Sinnbild der Waage
(S. 17), das in der Foilge zum fast stehenden Attribut aiter
JuistitiadarsleiUungen werden sollte, worüber man die schöne Abhandlung
des jüngst verstorbenen Qreifswalder Gennanisten Georg
Fromm hold: Die Idee der Gerechtigkeit in der bildenden Kunst
(Greifswald 1925) vergleichen mag. Das Bild der Waage paßt ausgezeichnet
zu jener die großen RechtskuMuiren durchziehenden Kunst
juristischer Büiligkeitsentecheidung, welche die Umstände des Einzelfalles
sorgfältig abwägt, dabei die gefährliche Anwendung starrer
Maßstäbe vermeidet und doch in ihrem naturrechtlichen Gerechtigkeifs-
streben Festigkeit zeigt. Hier liegt eine der fruchtbarsten Trah
ditionen europäischer Rechtswissenschaft, und die Anerkennung, die
Wenger meiner dieses Problem zu ihrem Teil verfolgenden Mün-
chener Dissertation: Acquitas canonica (abgeschlossen 1925, veröffentlicht
Paderborn 1931), spendet, hat in mir nur den Wunsch geweckt,
diese Abhandlung unter Verwertung zahlloser neuer Quellen und
neuen Schrifttums umgestalten zu können. Jedenfalls hat Wenger
mit Recht dem Zusammenhang von canon und acquitas einen bedeutsamen
Abschnitt gewidmet; wenn dabei am Rande (S. 17 f.) auch der
Beziehungen alter Astrologie zum Rechtsbereich gedacht wird, so
wäre an Radbruchs originellen Aufsatz: Planetarische Kriminal-
anthropologic (in: Elegantiae juris criminalis, Basel-Leipzig 1938,
S. 12 ff.) zu erinnern.

Die lateinischen Entsprechungen von canon sind regula und
nornia (S. 47 ff.). Wenger widmet hier vor a,llem der Juristenweishett
der regulae juris, wie wir sie in den Digesten 50, 17 und weit
später im Liber Sextus Bonifaz' VIII. am Ende (V, 12) in schönen,
wenn auch keineswegs vollständigen Sammlungen vor uns haben,
prächtige Seiten (S. 53 ff.). Die Kaisergesetzgebung verwendet regula
juris, weit seltener DORM teils zur Kennzeichnung schöpferischer
i alter Juristenweisheit, teils als Bezeichnung der von kaiserlicher
| Autorität getragenen Qesetzesregeln (S. 62 ff.). So scheint auf den
ersten Blick für das griechische Lehnwort canon in den römischen