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Ausgabe:

1944 Nr. 1

Spalte:

260-261

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Becker, Otfrid

Titel/Untertitel:

Plotin und das Problem der geistigen Aneignung 1944

Rezensent:

Zscharnack, Leopold

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 11/12

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Kriege, wobei dann die Verkümmerung dieser Religiosität schneller vor
sich gegangen sein müßte als das Zurücktreten des Ahnerevotrbildes
in der profanen Öffentlichkeit. Zu den dl p, gehören als Fest die
Parentalia im Februar, eine Feier Ungewissen Alters — da das Zusammenfallen
des Anfangstages mit den Iden eine eindeutige Notierung
im alten Kalender nicht zuläßt —; B. rechnet sie aus inneren Gründen
der ältesten Festordnung zu und erklärt ihren ,,Doppelcharakter",
d. h. das Nebeneinander familiären Brauchtums mit Riten ans dem Bereich
der Oespensterfurcht, mit der Annahme einer sekundären Oberlagerung
von seiten der Vorstellungswelt der Lemuria, der finsteren
Totenfeier im Mai. B. empfindet Exorzismus und Geisterfurcht als unindogermanisch
und sucht ihre Bedeutung im ältesten Rom zugunsten
der von ihm geschilderten positiven Religiosität einzuschränken. In
klassischer Zeit bilden auch die Lemuria keine lebendige Religionsübung
mehr; was bleibt, sind die Parentalia in Verbindung mit einem
allgemeinen Kult der Einzelseele unter der Bezeichnung dl manes.

Das 2. Kapitel widmet sich der schwierigen Frage der di Indl-
getes, die nach der heute Allgemeingut gewordenen Erkenntnis von der
Unrichtigkeit des dem Buche Wissowas (Religion und Kultus der
Römer) zugrundeliegenden Dispositionsschemas (di Indigetes „einheimische
", di novensides „rezipierte Götter") nach einer neuen Antwort
verlangt. Zweierlei gibt es in Rom: eine Vielheit von di indigetes,
nicht weiter in Einzellgestalten differenzierbar — sie tragen als einziges
Beiwort patiiius —, und zwei Einzellgötter mit dem Beinamen
Indiges, einen vor der Stadt am Numicus, mit dem Aeneas nach
seiner Entrückung als Aeneas Indiges identifiziert wurde, und
den Sonnengott Sol Indiges in jüngeren Kalendernoten zum 9. August
(die Verquickung des aurelischen Sonnenkultes damit ist eine Vermutung
; man darf sie reicht, wie es B. tut, als Tatsache behandeln).
Was heißt indiges'3 Wie verhält sich der Plural zu den Einzelgöt-
tern? Weiter: die älteste Festordnung (entstanden im 6. Jahrh. v.
Chr.) notiert am 11. Dezember AG (oninm) IND; agonium heißt
„Fest", wie ist Ind. aufzulösen, als Singular oder Plural? Lydus
(de mens. IV 155 p- 172,20 W.) nennt als Gottheit des Tages "H'uoc.
yeY&Q%Tfö, Was die römischen Antiquare an Erklärungen für indiges
bringen, ist derart, daß es auch von der Gestalt des Aeneas abgeleitet
sein kann; sie scheinen nicht mehr genau Bescheid gewußt zu
haben. Mein eigener Deutungsversuch (Gestirnverehrung im alten
Italien 80 ff., Der römische Juppiter 33 ff.) begann mit der Lydusstelle.
Ich setzte "II?.ioc = Sol und yevuQj(r|5 „Stammvater'- - indiges.
Von hier aus war Aeneas Indiges ohne weiteres zu verstehen, von
hier aus auch der Plural di indigetes „stamiinväterliclie Götter" (öeoi
YFvdoyru). In der genaueren Bestimmung des Stammväterlichen
mußte eine Vonstelllung gefunden werden, die ohne Schwierigkeiten
auch auf Sol anwendbar war. Denn von Lydus her muß die genannte
Kalendernote in Agonium lnd(igetis sc, Solis) aufgelöst werden, und
(der Sonnengott verlangt die Beachtung, die eine religiöse Gestalt der
römischen Königszeit für sich beansprucht. So kam icli auf den Gedanken
, in den di indigetes Urväter des Menschengeschlechtes zu erblicken
und die Rolle der Saniieugottheit im Sinne des in der Welt
weitverbreiteten Mythos aufzufassen, demzufolge die ersten Menschen
von der Sonne abstammten. Ein Volk mag noch so nüchtern und Spekulationen
abhold sein, auf die Frage, wo da-s Menschengeschlecht
eigentlich herkomme, hat es immer und überall eine Antwort gegeben,
auch in Altrom. Das ist kein genealogischer Mythos im strengen
Sinne, eher ein biologischer über die Herkunft des Lebens überhaupt.
Ich verglich die griechische Vorstellung von den Toironwiof ;. die
einmal solclie Urväter gewesen sein müssen und von denen eine
Überlieferung Helios und Ge als Eltern angibt (in dem Schwur des
Vollkstribunen Livius Drusus bei Diöd. Frg. 37,11p. 5Ö6 f. Dind.-M.
steht in römischem Zusammenhang neben "HXio; yev<ky/^c, ebenfalls
die Allmurter Erde)|. Wenn sodann ein alter Epiker, etwa aus
der Zeit zwischen Ennius und Lucrez, die vergöttlkhten Menschen
des h'esiodischen goldenen Zeitalters mit indigetes dlvi übersetzt
(Maorob ad Somn. Scip. I 9,7), so trifft er ungefähr die Vorstellung
, die wir meinen. Ja man könnte behaupten, die betonte Beziehung
der Indigeten zum römischen Staate in seinen Notzeiten sei
nichts anderes als die römische Prägung dessen, was Hesiod Erga
123 ff. an Eigenschaften dieser Dämonen mit dem puai.Vfi'ov yt'Qac,
zusammenstellt (EotRoi, «/.e|tx.«xoi, qrtjXcixec, fJvi>ro>v <lv0oo>-
JWOV, JtXouToööxai; zur Frage vgl. Klara-Kacthe FWson, Das goldene
Geschlecht des Hesiodos, Diss. Königsberg 1943). Patrll indigetes
sind dann die aus der Zahl der Urväter, die speziell ar.i Anfang des
römischen Volkes stehen (Praeneste hatte z. B. eigene di indigetes).
Aeneas verkörpert den gleichen Gedanken als EilueWndiges, ursprünglich
wohl eine latinische Religiousschöpfung unter Zuhilfenahme
eines am Numicus bodenständigen Indigeskultes — auch hier spricht
eine Über liefe ru reg von Sol bzw. Juppiter Indiges —, wobei es fraglich
bleibt, ob man dort eine Vielheit von di indigetes r.eoenher gekannt
hat. Deutlicher tritt Romulus an die Seite des Göttd Vereins (z. B.
Di patrli indigetes et Romale Vestaque mater, Verg. Georg. I),
ohne daß dieser an irgendeiner Stelle ausdrücklich zu einem Indiges
gemacht worden wäre. Die größte Annäherung zeigt eine En-
niusstelle (ann. 115): Romulus in caelo cum dis genitalibus aevum
degit (di genitales vermutlich == (fool VEvdoYrai — di indigetes).

Soweit meine Deutung mit einigen Ergänzungen nach der genannten
Dissertation. B. verwirft das Lyduszeugnis, der Autor sei zu spät (S. 31
genügt ihm Lydus in Verbindung mit Ovid, die Parentalia der ältesten
Ordnung zuzuschreiben). Wie die Note vom 11. Dez. aufzulösen ist, fällt
unbeantwortet unter den Tisch und damit die einzige Möglichkeit, vermittels
des alten Kalenders einen chronologischen Fixpunkt in der Frage
zu bekommen. Sol Indiges wird als ,,Schutzgott des Staates" —
im Gegensatz zu irgendwelchen anderen Sonnengöttern — bezeichnet,
unbewiesen als Oentilgott der Aurelier behandelt (s. o.) und damit
bagatellisiert. Die Gleichung indiges —■ yeväf}-/i]C, findet Ablehnung.
Aeneas und Romulus bilden nunmehr den Ausgangspunkt der Deutung
, wobei Romulus, auf Qrund des zitierten Enniusverses zu einem
VoHJndiges gestempelt, das Stichwort für die Auslegung an die
Hand gibt, nämlich paler patriae. „Die dl indigetes sind demnach
die dlvi parcntei patriae der Vorzeit, Schutz- und Schirmherren de«
Vaterlandes" (S. 80), vergleichbar den griechischen {jooe? XTi'mai,
doch mit urämischem Kult und mit nationalrömischer Betonung der
vaterländischen Verdienste, derzufolge sie in den Himmel aufgestiegen
seien. So seien die Gottheiten etwa im 3. Jahrh. v. Chr. in Rom
verehrt worden. Das Wort indiges könne freilich schon damals eine
Oeschichte hinter sich gehabt haben, die sich unserer Kenntnis entziehe
. Nachdem Romulus das Motiv der Deutung geliefert hat, wird
er wieder ausgeklammert mit Hinweis auf seine — wahrscheinlich schon
dem Ennius bekannte — Gleichsetzung mit Quirinus, hinter der
seine „Eigenschaft als Indiges" verschwunden sei. Es hängt also alles
an dem Enniusvers. Aber selbst der Wortlaut dieser für B. entscheidenden
Stelle, di genitales, vorausgesetzt, daß er eine ennianische
Umschreibung des Begriffes di indigetes ist, paßt zu der Vorstellung
OeoI Y£v«Qy/u besser als zu B.s dlvi parenles patriae, die durch
vaterländische Verdienste Oötter geworden seien. Dann scheint doch
aber auch Ennius nicht mehr gewußt zu haben, worum es bei diesen
Gottheiten ging. Nach alledem kann ich B.s Ergebnis nicht als
befriedigende Lösung des Indigetenproblems betrachten. Unabhängig
davon sei zugegeben, daß B. über den nalionalrömischcn Charakter
der Romulusapotheose eine Menge trefflicher Gesichtspunkte vor-
trägt, die zweifellos dauernden Wert behalten.

Das 3. Kapitel gilt den imagines maiornm im römischen Atrium.
Sic haben nach B. keine sakrale Funktion, dienen nur einer „pietätvollen
Verehrung im modernen Sinne des Wortes", waren in dem
voretntskischen Rom, das seine Götter nach indogermanischer Art
hildlos verehrte, noch nicht vorhanden und haben darum mit dem
Ahnenkult der dl parentes nichts zu tun. Trotzdem glaubt B. (Kap. 4),
im römischen Hause eine Spur alten Ahnenkultes aufdecken zu können
, nämlich in dem Ausdruck palella missa beim Herdopfer während
der Mahlzeit. Sowohl mittlre im Sinne von „opfern" als auch
patella seien im Totenkult gebräuchliche Wendungen. Die Sache ist
problematisch. Ovid gibt das Opfer den Laren, die nach B. mit der
Ahnenvtrebrung nichts gemein haben.

Uniiver-ität Graz, i, Zt. im Wehrdienst Carl Koch

Becker, Otfried, Dr. phil. htbil.: Plotin und das Problem der
geistigen Aneignung. Berlin: de Gruyter 8t Co. 1940. VII,

j 115 S. Er. 8°. RM 8 — .

Die hier anzuzeigende Arbeit des im Polenfeldzug gefallenen
Verfassers hat der Oöttinger Philosophischen Fakultät
I als Habilitationsschrift vorgelegen und bedeutet eine För-
i derung der Plotinforschung auch über die für die Interpretation
Plotins grundlegenden Textübersetzungen und -deutun-
gen Brehiers und Härders hinaus. Sie ist zwar, wie der Verfasser
selber betont, nicht im wesentlichen historisch orientiert,
i sondern verrät nicht nur in dem das Problem der geistigen
! Aneignung vom existentialphilosophischen Standpunkt aus be-
i handelnden 2. Kapitel, sondern durchgehends, das starke per-
I sönliche Interesse des Verfassers am Plotinschen Denken,
I das er für das eigene Denken auswerten will. £r hat gleich-
| wohl nicht darauf verzichtet, die Oedanken Plotins in die
i historische Entwicklung des griechischen Geistes einzuordnen
: und sein Verhältnis besonders zu Piatos Behandlung des
j Problems der geistigen Aneignung und dessen Theorie des
i „Schauens", aber auch zur Stoa, näher zu bestimmen; hier sind
j insonderheit die Ausführungen des 3. Kapitels über den Be-
I griff ilFmoi« und dessen Wandlungen höchst instruktiv. Plotins
eigene Gedanken werden vor allem in den Kapiteln 1
(über seine Lehre von den zwei Seelenzuständen und die bei
: ihm begegnende Reihe der Auffassungsstufen) und 3 (über
! sein Bewußtsein vom Wesen des Lebens und dessen Begrün-
| dung auf „geistiger Aneignung", auf „Drang und Schau")
I analysiert und zum Verständnis gebracht. Das für Plotin
! Charakteristische sieht Verfasser in der „Wendung ins In-
j nere", die den Gegensatz zur sensualistischen Erkenntnisi-
j theorie des Hellenismus bildet, in der Abwendung von gegen-
I ständlichem Schauen hin zur inneren Erfahrung und zum
| geistigen Erfassen, wobei wir aber auch über die Stufe des
1 Selbst hinaussteigen und selber „Geist" werden müssen. Sein