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Ausgabe:

1944

Spalte:

228-230

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wittmann, Michael

Titel/Untertitel:

Die moderne Wertethik historisch untersucht und kritisch geprüft 1944

Rezensent:

Wünsch, Georg

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chen müssen. Ist ferner nicht das Verbleiben in der Kategorie
des Gesetzes einer zu prinzipiellem Denken übergehenden Zeit
geradezu der Anlaß gewesen, die vom Verf. bekämpf e spekulative
Ethik neben die angeblich christliche zu stellen, resp.
diese durch jene zu ersetzen?

Die letzte Entscheidung in dieser Frage fällt am grundsätzlichen
, vor allem im Verhältnis zur Philosophie begründeten
Unterschied des lutherischen und reformierten Wesens.
Ein gewisses mechanistisches Denken wird letzteren Typ mit
oder ohne die stilgerechte Krönung in Verbalinspiration, wie die i
Geschichte gezeigt" hat, immer wieder stark an das A. T. binden. '
Dann aber ist die Gefahr einer Einebnung des N. T.s, die diesem
sein Besonderes nimmt, auch wenn der Absprung wie
hier von diesem aus genommen wird, ebenso gegeben wie die
andere, daß man auf Kosten einer Anerkennung von Werten
auch in den anderen Religionen in das A. T. mehr hineinlegt,
als dieser, von Gott aus gesehen, vorläufigen und durch das
Menschlich-Allzumenschliche der Ausgestaltung doch sehr bedingten
Erscheinung der Religionsgeschichte zukommt.. Ebenso
ist in der Praxis für die Ethik das Abgleiten von der
Höhe dieser Konstruktion in legalistisch-moralistische Werkerei, j
wie die Geschichte bewiesen hat, immer wieder unvermeidlich, j
Der Verf. ist ihr unbewußt an den verschiedensten Stellen enen-
so verfallen wie die Frömmigkeitsübung seiner Konfession —
von ihm selbst zugegeben (S. 256 f.) — ja sehr oft, um nicnt
zu sagen; in der Regel. Das A. T. stellt eben eine unterchrist-
christliche, legalistische Religionsform dar, der auch durch
Hineininterpretieren vom N. T. aus ihre Grundstruktur nicht
genommen werden kann.

Bei grundsätzlich größerer innerer Freiheit wird lutherisches
Verständnis nicht nur allgemein die starken Grenzen der
alttestamentlichen Religionsstufe, wie sie spez. die Gegenwart
herausarbeitet, immer wesentlich deutlicher sehen, sondern von
da aus auch in der Ethik den großen Fortschritt, der im
neutestamentlichen Liebesprinzip jeder Gesetzlichkeit gegenüber
für den Aufbau einer nicht humanen, sondern biblisch-grundsätzlichen
Sittlichkeit, die dann auf gleicher geistiger Höhenlage
auch geeignet ist, mit der prinzipiellen philosophischen
zu konkurrieren, zu schätzen wissen. Das ist ebenso wenig
schwärmerisch (gegen S. 255 f.), wie die Beibehaltung des
Dekalogs durch die Reformatoren, auf die Verf. sich beruft (S.
254), darüber hinwegtäuschen kann, daß Luther bereits das
Ideal einer prinzipiellen Ethik vertreten hat und daß der Rückfall
in die Gesetzlichkeit nach seiner Zeit Zeugnis ablegt vom
Abnehmen der inneren Kraft seiner Bewegung. Die Gefahr des
„Moralismus eines verbürgerlichten Christentums" (S. 284)
hat sich aus dem Abfall von Christus, nicht aber aus dem
vom Dekalog ergeben. Unser heutiges existentielles Verständnis
des Christentums wird jene ganze Geschichtskonstruktion,
auf die die Begründung des Ethos auf den Dekalog sich
stützt, als künstliches Gebäude eines sehr stark gegenständlichen
Denkens empfinden, das trotz aller Betonung der Gestalt Jesu
Christi diese doch nicht stark genug sein läßt, um das „Siehe
ich mache alles neu" in seiner unmittelbaren Stoßkraft zu tragen.
Doch das alles sind letzte Verschiedenheiten der Einstellung,
über die sich eine Einigung wohl kaum wird erzielen lassen.
Wo die andere Haltung von der dialektischen Theologie aus
heute hier und das an unsere Tür pocht, werden wir sie immer
als wesensfremd empfinden.

Auch nach der negativen Seite hin wäre noch eine Unzahl
von Einzelheiten zu nennen, die entweder der Ablehnung oder
jedenfalls der Diskussion mit dem Verf. bedürfen. Daß man den
Glauben zum vornehmsten guten Werk stempelt, ist schon Legalismus. i
Die Objektivität des Religiösen geht gelegentlich über die Reformatoren
hinaus und droht unter Gefährdung der Persönlichkeit des Menschen
zu Determinismus zu werden (S. 108, vgl. 291). Die Fiktion
absoluter Einheitlichkeit der Heil. Schrift zusammen mit dem Verbleiben
in alttestamentlichen Kategorien verhindert die Verwertung
neuerer Vorstellungsformen für das Verständnis des Werkes Christi
(vgl. S. 45). Für eine natürliche Offenbarung unterhalb der speziellen
bleibt kein Raum (S. 127). Die Ablehnung des Redens „in den j
Grenzen des heutigen Weltbildes" schließt bedenklicherweise zugleich :
ein Reden „in der Sprache" des gegenwärtigen Weltbildes aus j
(S. 343). Damit, daß die Verheißung beim 4. (5.) Gebot auf den i
Inhalt des Lebens statt auf die Zahl der Jahre bezogen wird (S.
395 ff.), ist der gefährliche Eudämonismus dieser primitiven Stufe nicht
beseitigt. Sehr bezeichnend ist, wie Verf. von der Enge seines Standpunktes
aus nicht in der Lage ist, zwischen der Vernichtung von
Leben und einer so zweifellos berechtigten Maßnahme, wie sie die
Sterilisation, diese einzige Möglichkeit, die durch das moderne Kulturleben
gegebenen Quellen unendlichen Elends, ja unendlicher Verbrechen
wirkungsovH zu verstopfen, darstellt, klar zu unterscheiden. !
Er lehnt S. 430 f. auch diese schroff ab. Ebenfalls die starke Gesetzlichkeit
ist offenbar schuld daran, daß er zu verschiedenen am*

deren modernen Fragen kein Verhältnis findet. Beim Kapitel Ehescheidung
z. B. können primitive und komplizierte Verhältnisse wohl
unter ein und dasselbe Prinzip, nicht aber unter dasselbe statutarische
Gebot gestellt werden (vgl. S. 447 f.). Warum diese
Unsicherheit gegenüber dem Predigtamt der Frau (S. 323 f.)? Das
Problem des Antisemitismus (S. 301) ist keineswegs nur oder auch
nur in erster Linie eine religiöse Frage. Wie weit spricht beim
Kampf gegen die Ordnungen (S. 334) nicht nur das christozentrische
Interesse, sondern auch, die Abneigung alles philosophischen Dualismus
gegen das Konkrete? usw. usw.

Zu den mancherlei über das eigentlich theologische Gebiet
hinausgreifenden Bemerkungen sei nur gesagt, daß die Kritik
höchst einseitig nach einer Seite hin gerichtet ist und daß
manche Dinge wohl sehr verschieden aussehen müssen, je nachdem
, ob man als Zuschauer vom ruhigen Hafen eines neutralen
Staates aus redet oder ob man mit dem heißen Herzen
des Patrioten den Schicksalskampf seines Volkes, womöglich
an besonders betroffener Stelle mit erlebt.

Nach allem Gesagten wird das Buch in Deutschland
manchem Kopfschütteln begegnen und begegnen müssen. Möge
darüber der Ernst dessen, was es sagen möchte und tatsächlich
zu sagen hat, nicht überhört werden!

Berlin A. F. Stolzen bürg

Wittmann, Michael: Die moderne Wertethik. Historisch unters.

u. kritisch geprüft. Ein Beitrag zur Geschichte und zur Würdigung;

der deutschen Philosophie seit Kant. Münster i. W.: Aschendorff [1940].

VIII, 361 S. gr. 8° = Eichstättcr Studien. Hrssr. v. d. Bischöfl. pbilos.-

thenl. Hochschule. Bd. V. RM 12—; geb. RM 14-.

Der Verfasser, Professor für Ethik am Lyzeum zu Eichstätt
, hat Arbeiten über Aristoteles, Avencebrol, Thomas von
Aquino, vor allem eine Ethik (192.3), veröffentlicht (die letztere
von mir in der „Christlichen Welt" 1924, Sp. 775 ff.,
angezeigt). Sie zeugen von Fleiß und Belesenheit, vom Willen
zur Gründlichkeit und vom Bestreben, nichts vom Neuesten
und Wichtigen außer Acht zu lassen, nicht, um es einfach
anzuerkennen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihm
die eigene Erkenntnis zu klären und zu festigen. — Dieses
Bestreben zeigt auch vorliegendes Buch. Es bietet eine kritische
Darstellung der Wertethik in der Zeit nach Kant,
nicht vollständig (es fehlen z. B. Schleiermacher und manche
von den Modernen), auch nicht als zusammenhängende Geschichte
, sondern so, daß die Wertphilosoplien, mehr oder
weniger lose miteinander verbunden, unter leiser Betonung der
zeitlichen Folge, aneinandergereiht werden. Daß dabei Windelband
, Rickert, Scheler und Nie. Hartmann den breitesten
Raum einnehmen, entspricht ihrer Bedeutung für die Sache.

Bei Beschäftigung mit dem Buch wird sofort deutlich,
daß die Kritik die Darstellung weit überwiegt. Die Absicht
des Verfassers ist nicht in erster Linie, mit den modernen
Wertphilosophen bekannt zu machen, sondern sie kritisch zu
behandeln. Ihre Darstellung ist somit auch nicht eine umfassend
organische, sondern sie zerfällt in die für den Verfasser
kritischen Punkte. Die Kritik vollzieht sich nach einem feststehenden
Maßstab, den der Verfasser sich selbst erarbeitet
und in seiner Ethik ausführlich entwickelt hat: Es ist das
aristotelisch-scholastische Denken; gegenüber den Unzulänglichkeiten
und Verirrungen der modernen Wertethik wird stets
auf das Musterbeispiel Aristoteles verwiesen; an ihm als Maßstab
wird sie gemessen und verurteilt. Das geschieht mit
solcher Regelmäßigkeit, daß dadurch die Darstellung eintönig
wird, und daß man sich fragen muß: Hat es noch einen Sinn,
philosophische Ethik zu treiben, wo doch von Aristoteles
schon alles Wesentliche gesagt ist? — Um auf den Inhalt einzugehen
, die These des Verfassers ist die: Die moderne,
kritisch gerichtete Wertethik insgesamt orientiert sich an Kant,
indem sie zwar mit Recht dessen unzulänglichen Formalismus
durch eine materiale Wertethik zu korrigieren unternimmt;
aber trotz ihres Gegensatzes zu Kant nicht von ihm loskommt
und seinen Fehlern mehr oder weniger verfallen bleibt.
Diese Fehler sind nach Ansicht des Verfassers: der Aprioris-
mus, Kritizismus, Dualismus, Rigorismus und, trotz Bekämpfung
, Formalismus. Wie die Quelle der Erkenntnis nach
Kant im Subjekt, so würde auch die Quelle der Werte
im Subjekt gesehen. Der Mensch, sei es die Vernunft oder das
Gefühl oder die Schau in ihm, bringe die Werte an eine an sich
wertfreie Welt erst heran. Die Werte hätten eine eigene
apriorische Seinsweise gegenüber und im Gegensatz zur empirischen
Seinsweise der Welt; ja, die Werte wären sogar Nicht-
Sein, weil sie als Gegenstand des Sollens der Realisierung
erst entgegensehen. Diese Verirrung sei nur dadurch möglich,
geworden, daß Aristoteles vergessen war und Kant ihn nicht
kannte. Nach Aristoteles sind die Werte in der Erfahrungswelt
Wirkliches; sie erscheinen als Zwecke, erkennbar in der