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Ausgabe:

1944

Spalte:

224-228

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Quervain, Alfred de

Titel/Untertitel:

Die Heiligung 1944

Rezensent:

Stolzenburg, Arnold F.

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Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 9/10

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wie des anderen Partners auch das Bestreben der Emanzipation
gibt. „Unsere wahre Tradition" soll nicht der Liberalismus
sein — und soll der Barthismus nicht werden, sondern
soll das biblische Wort, zumal die heilige Geschichte sein, für
die der Schlüssel der paulinischen Briefe seien. Der Vf. liest
sie mit fast größerer Nähe zu Luther als zu Calvin.

Auf diesem Grunde geht nun Neeser gegen alles einseitig
„esehatologische", will sagen transzendente, Verständnis des
Wortes Gottes bei Barth, sowie gegen die These an, daß die
Theologie eigentlich zu Gottes eigenem Worte werden solle.
Er tritt für die im biblischen Sinne „longitudinal" zu verstehende
Eschatologie ein, während ihm die einseitig „vertikale"
(Anspielung auf die so gebräuchlich gewordene Terminologie)
Fassung derselben auf Je facto philosophische Untergründe
bei Barth zu deuten scheint. Vf. will also nicht die
Wirklichkeit Gottes bloß im Sinne des von oben zwar stets
hereinhängenden Transzendenten verstehen, dessen Offenbarung
vergleichbar dem durch die Wolken hic et nunc brechenden, und
die Erde berührenden, Sonnenstrahl, man laut Barth stets
gewärtig sein müsse, das sich aber mit dem Endlichen nicht
wirklich verbinde. Denn dann sei die Erde, als Sein in der
Zeit, aber auch das Bibelbuch selbst, an und für sich leer von
Gott; und eine Inkarnation Gottes in Christo sowie ein mit
der Bibel innig verbundenes Wort Gottes könne dann bloß in
glücklicher Inkonsequenz bejaht werden. Vielmehr tritt N. —
mit Recht, wie ich glaube — für die innere Zusammengehörigkeit
von biblischem Wort und Geist, auch an sich, nicht bloß
hic et nunc, sowie für die von Offenbarung und Heilsgeschichte
ein, und setzt sich von daher in fester Überzeugtheit
und vornehmstem Ton mit dem „Barthisme" auseinander, dabei
noch viel Beachtenswertes vorbringend.

Man mag mit dem Vf. über dies und jenes rechten. So
führt er m. E. den „Liberalismus" zu schnell und mit allzu
üblich gewordenen Gründen ab. Auch "hat er mancherlei Polemik
mit der dialektischen Theologie gemeinsam, sodaß die
entschiedene Wendung gegen sie zunächst nicht erwartet wird.
Aber wir wollen nicht ins Einzelne gehen. Als Ganzes ist die
Schrift ein förderlicher Beitrag zu einer aktuellen Frage,
auch über die Grenzen der Schweiz hinaus.

GreifswaM R. Hermann

Santangelo, P.E.: Gesii-Cristo. San Paolo. Lutero. Bari: G.
Laterza e figli 1936. 3 Bde. Jeder Band 300 Seiten. 8°. L. 15 — .

Religiöse Studien in Italien, die weder einen katholischen,
noch protestantischen Charakter tragen, finden meist nicht die
verdiente Beachtung. Der Verfasser, katholischer Theologe
und Gymnasialprofessor, hat den Mut seiner kritischen Überzeugung
mit seiner Entlassung bezahlen müssen. Seine !3ücher
sind zudem auf den Index gesetzt worden und der Staat gab
sich dazu her, dieses Verbot auf den Verkauf überhaupt auszudehnen
, da es sich hier um „Kompilationen auf Grund überwundener
Standpunkte" handele! Es gibt in Italien tausende
unverbotener Bücher, die viel weniger strengen Anforderungen
nicht genügen!

Gewiß werden einem deutschen Theologen diese Bücher
nicht viel Neues sagen, aber sie sind zunächst für weitere
gebildete Kreise in Italien eine völlige und wertvolle Neuheit
und es ist das große Verdienst des Verfassers, das religiös
interessierte, aber nicht konfessionell gebundene Publikum mit
den Ergebnissen der kritischen Bibelwissenschaft und der Reformationsgeschichte
zum erstenmal bekannt gemacht zu haben.

Der Verfasser besorgt das sine ira et studio fast etwas
trocken, aber mit großem Ernst und bester Sachkenntnis.
Bei allen Vorbehalten im Einzelnen wird der deutsche 1 heo-
loge diese Zusammenfassung der uns längst bekannten Ergebnisse
in konziser Form und vornehmer Darstellung mit großem
Genüsse lesen. Der Vergleich der Darstellung Luthers mit der
von Funk-Brentano gegebenen französischen, die nicht minder
vorurteilslos auftritt, erscheint äußerst reizvoll. Beide haben ihrer
sprachlichen Umwelt einen Dienst geleistet, für den auch die
deutsche Wissenschaft ihnen zu Dank verpflichtet ist.

Santangelos Arbeiten, wie die Martinettis, beweisen zur Genüge
, daß der Modernismus nicht tot ist. Der Name wurde
preisgegeben, die Sache besteht weiter und die Entwicklung
geht ihren Gang. Allerdings sind es heute außerkirchliche
Modernisten, die entsprechend kühner vorgehn und in keiner
Weise mehr gefunden sind. Aber sie sind doch in der Kirche
aufgewachsen und haben vielen ihrer Vorgänger gegenüber
den unleugbaren Vorzug, daß sie sich das tätige Interesse
für religiöse Probleme bewahrt haben und in ihrer wissenschaftlichen
Polemik jede Bitterkeit und jede Übertreibung
vermissen lassen. Sie wollen einfach der Wissenschaft und der
.Wahrheit dienen und nach Goethes Wort den Weg, den sie

so sehnsuchtsvoll suchten, nun auch ihren Brüdern zeigen,
j Der äußere Erfolg dieser Bücher beweist, daß ihre Absicht er-
I reicht wurde. Auf Einzelnes hier einzugehen, erübrigt sich.
: Ein Hinweis aber auf diesen wertvollen Versuch wissen-
j schaftlicher Popularisierung durfte auch an dieser Stelle nicht
| fehlen.

Territet-Montreüx E<i. Platzhoff-Lcjeune

ETHIK

Quervain, Alfred de: Die Heiligung. Ethik. T. 1. Zollikon-
Zürich: Evang. Verl. 1942. 471 S. gr. 8°. Fr IQ.^O.

Es ist außerordentlich erfreulich, wie nach den allgemeinen
Anregungen und den ersten großen Entwürfen, die die systematische
Theologie dem Einbruch des existentiellen Denkens
verdankt, jetzt allmählich die einzelnen Teile, resp. Probleme
dieser Disziplin von der neuen Schau aus unter die Lupe genommen
werden. Das gibt Gelegenheit und Veranlassung,
manche Fehler der geschichtlichen Entwicklung zu revidieren.
Auf das Ganze gesehen, ist durch Beschneidung eines z. T.
recht üppig entwickelten Rankenwerks gegenständlichen Denkens
zweifellos eine Reducierung unseres Bestandes an Aussagen
auf das Ursprüngliche, Rein-Christliche erfolgt.

Der durch mancherlei Schriften bekannte Verf., dem aus
der Generation der Jungen mancher entscheidende Anregungen
verdankt, hat jetzt die durch die Überspitzungen der
dialektischen Theologie so sehr in Frage gestellte Ethik zum
Gegenstand gewählt. Das Buch ist, wie das Vorwort angibt,
aus Vorlesungen an der Universität Basel und an der Theol.
Schule in Elberfeld entstanden. Seine einzelnen Stücke sind
mit maßgebenden Kreisen der reform. Kirche durchdiskutiert
worden, so daß das abschließende Resultat mehr als subjektives
Bekenntnis eines einzelnen zu sein beanspruchen kann.
Als Leser sind nicht nur Theologen, sondern auch angeregte
Laien gedacht.

Der I n h a It des vorliegenden ersten Bandes gliedert
sich in vier Teile. Unter dem Titel „Von der Heiligung in
Christo Jesu" wird die Tat Gottes in seinem Sohn zur entscheidenden
objektiven Grundlage unseres Handelns gemacht.
Der zweite Teil: „Das Leben des Christen im Zeichen von
Kreuz und Auferstehung", zeigt, wie all unser subjektives
Sein und Tun in Freud und Leid lediglich Wirkung des objektiv
an uns Geschehenen sein kann. Teil drei bringt „Die
Lehre vom Gesetz Gottes". Er legt das Verhältnis von Oesetz
und Evangelium fest, entwickelt ersteres nach dem Schema
des alten dreifachen usus legis und macht das Gesetz zur
Grundlage unseres gesamten Seins und Handelns. Der vierte
Teil:. „Die Gebote", läßt in sehr weit greifender Bezugnahme
auf alle möglichen Probleme die Anwendung auf das Einzelne
des konkreten Lebens erfolgen.

Der Wert des Buches besteht in einem Doppellen: Erstens
in dem ganz starken Ernstmachen mit der Heiligung.
Zweitens in dem Tendieren auf ein wirklich rein christliches
Ethos, das auf einer allgemeinen klaren Scheidung der Prinzipien
Offenbarung oder Vernunft aufruht. In beiden Beziehungen
ist ja im Laufe der Entwicklung der Kirche schwer
gesündigt worden. Nicht nur, daß der Katholizismus in der
Unklarheit alles gegenständlichen Denkens bez. der Prinzipien
eine natürliche Tugendlehre und damit die Selbstheiligung
des Menschen neben das christliche Ethos gestellt hat. Auf
ervlang. Boden hat, wenigstens im Luthertum, die forensische
Fassung der Rechtfertigung der Heiligung lange Zeit alle
Kräfte entzogen. So wurde es möglich, daß man von Thomas
Venatorius bis Calixt ihre Gestaltung fast ganz der Philosophie
überließ und auch später in den selbstgescnaffenen Idealen des
Idealismus, der Humanitätsethik des Liberalismus, in der besonders
deutlich die alten natnrrechtlichen Ideen fortlebten,
der „Theologie der Ordnungen" oder der Konzentration des
Ethos um die volklichen Belange immer wieder spekulative,
weltanschauliche Motive konnte das Eigentlich-Christliche ergänzen
, d. h. aber durchkreuzen lassen. Als typisches Produkt
dieser qualitativen und quantitativen Überwuchernng des
Christlichen durch das Humane sei nur auf die letzte Frucht
des Liberalismus, Otto Ritschis „Ethologie des sozialen und
des persönlichen Menschenlebens" 103Q u. 40, die kürzlich

j vom Unterzeichneten an dieser Stelle (1Q43, 256 ff.) besprochen
und um der Fremdkörper willen aus der bewußt gewordenen
Haltung der Gegenwart heraus abgelehnt wurde, verwiesen.

Allen solchen Vermischungen und Erweichungen gegenüber
soll hier das christliche Handeln einzig und allein auf das
gegründet werden, was Christus der GeKreuzigte und Auf-

. erstandene aus uns Menschen gemacht hat und in fortlaufender