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Ausgabe:

1944

Spalte:

222-223

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Neeser, Maurice

Titel/Untertitel:

Orientation 1944

Rezensent:

Hermann, R.

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22!

Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 9/10

222

Ben SC haftlichen Erneuerung der Dogmatik gewesen; das hat
Klein in seinem schönen Werk uns gelehrt.

Territct-Montrcux Ed. Platzhoff-Lejeune

Del uz, Pf. Dr. theol. Gaston: Prädestination et liberte. Ncuchatel,
Schweiz: Delachaux et Niestld 1942. (207 S.) 8°. sfr. 4.50.

Durch die gegenwärtigen Zeitumstände fühlen wir uns
wenig zum Nachsinnen gestimmt. Mine eher praktische Aufgabe
ist es also — die Sorge um Predigt und Seelsorge —,
welche den Verfasser dazu bewegt, dieses immer wieder sich
aufdrängende Problem aufs neue zu erfassen, nämlich: „Inwiefern
ist es möglich, die Souveränität der Gnade mit der
menschlichen Freiheit in Übereinstimmung zu bringen?"

In einem ersten Teil versucht er zu zeigen, daß die Geschichte
nur zwei Lösungen dieses Problems aufweist und
daß in jeder der beiden Lösungen immer ein Glied des
Problems selbst fallen gelassen wurde, es sei einerseits die
Freiheit, wie es — seiner Meinung nach — in den augustini-
schen, thomlstischen und reformatorischen Systemen der Fall
ist, oder anderseits die Prädestination, wie es im echten Pela-
gianistnus und im Halb-Pelagianismus eines Molina geschah.
Diesen klassischen Thesen, die sich nie bis zu einer Synthese
emporschwingen, setzt der Verfasser im zweiten Teile des
Werkes die Lehre der Schrift entgegen, wonach „Prädestination
und Freiheit sich gegenseitig begrenzen und, ohne sich deshalb
unbedingt zu widersprechen, zusammenstimmen (S. 7,8).

Des Verfassers auslegende Beweisführung kann übergangen
werden; begnügen wir uns festzustellen, daß sie seine Dogmatik getreu
wiederspiegelt.

Indem er sich auf den lutherischen Grundsatz gründet, wonach
wir „in Christo" auserwählt werden, führt der Verfasser die Prädestination
auf eine positive Auserwählung zurück. Es gibt nur
eine Prädestination, und zwar die Prädestination zum Heil. Er unterstreicht
sogar noch die Allgemcingültigkeit des lutherischen Grundsatzes
durch die Behauptung, daß „früh oder spät, und am spätesten
heim jüngsten Gericht, die Heiden vor Christus stehen und aufgefordert
werden, sich zu Ihm zu bekennen" (S. 125). Die Auserwählung
in Christo ist also nicht schwer anzuerkennen.

Den Olauben an Christus aber bewirkt notwendigerweise der
Heilige Oeist; diese Wirkung „scheint jedoch weniger universell zu
sein", als diejenige, die Christus hervorruft (S. 115). Nichts aber
erlaubt uns zu behaupten, daß „diese Wirkung sich nicht auf alle
Menschen erstreckt". Oott, der die Seligkeit eines jeden will, „läßt
an einen jeden, früh oder spät, sei es in der ersten oder in der ulftein
Stunde, seinen Ruf ergehen" (S. 116).

Allem Anschein zum Trotz ist jedoch die Wirkung des Heiligen
Geistes eine universelle, und zudem kann man ihr nicht widerstehen,
„Gott überwindet jedes Hindernis und jeden Widerstand, die der
Mensch Ihm entgegensetzt; alle widerspenstigen Herzen besiegt Er
und auch ihnen gibt Er den Glauben" (S. 177).

Anderseits verwirklicht sich die Prädestination, d. h. die allgemeine
Auserwählung zum Heil, keineswegs zwangsläufig. „Wenn
Gott in das menschliche Herz eindringt und sich dessen Zutritt erzwingt
.... bleibt Er darin, sofern Er nicht daraus verjagt
wird" (S.178). Dem Menschen steht es nun aber frei, den ihm von
Oott gegebenen Glauben abzulehnen und diese Ablehnung ist der
Grund der Verdammnis (S. 132, 134). Und so gelangt der Verfasser
zu folgendem Schluß: „Von sich selbst aus verfügt der Mensch über
gar keine Freiheit, um das Gute zu tun. Gott verdankt er alles,
was er ist. Ihm verdankt er das Leben, den Glauben, das Heil . . .
Dagegen kann der Mensch von sich selbst aus das Schlechte tun
und dadurch zugrunde gehen . . . Der ihn führenden Hand kann
er sich entziehen und sich auf eigene Füße stellen. Darin l>esteht
seine Freiheit" (S. 183). Endlich stellt und beantwortet der Verfasser
eine letzte Frage: „Die Allmacht Gottes schließt keineswegs
die Freiheit des Menschen aus, weil Gott absichtlich seine eißene
Macht beschränkt, um der Freiheit Platz einzuräumen» (S. 183—187).

Soweit gelingt es dem Verfasser durch eine gegenseitige Beschränkung
die Prädestination mit der Freiheit in Übereinstimmung
zu bringen, und in einem Schlußwort in Gesprächsform (S. 188—193)
zeigt er den praktischen Wert dieser Lösung, welche das Prinzip
eines keineswegs selbstverdienten Heils und zugleich die Verant-
wortliclikcit des Menschen bestehen läßt.

Diese interessante Arbeit wirft viele Fragen auf, die wir
hier nicht ausführlich erörtern können. Wir begnügen uns
mit folgender Feststellung: indem der Verfasser die Prädestination
und die Freiheit sich gegenseitig beschränken läßt,
vermindert er sie beide erheblich. Einerseits entkräftet er die
Prädestination, nicht nur im Sinne Calvins, sondern auch
im Sinne eines Luther und Augustinus, und — mag er auch
behaupten, was er wolle — im Sinne des Apostels Paulus.
Er entzieht ihr ihren unbedingten, irrationalen und geheimnisvollen
Charakter. Es gibt kein Geheimnis mehr; alles wird
klar, alles wird „leicht anerkennbar".

Anderseits hat bei den Reformatoren und besonders bei
Luther die Negation der Freiheit einer selbständigen Wahl
eine Gegenseite: die Behauptung, die der Verfasser verschweigt,
nämlich die Freiheit des Christenmenschen, welche auf dem
Glauben, und daher auf der Gnade beruht, und die mit jener
armseligen „Freiheit zr.t sündigen" gar nichts zu tun hat,
welche vielmehr eine Knechtschaft ist, von der uns Gott befreit
, um uns die „glorreiche Freiheit" zu geben, wozu er uns
in Christo prädestiniert hat. Diese Befreiung (S. 177) erwähnt
der Verfasser nur nebenbei; er sieht aber nicht, daß sie den
Kern des Problems bildet.

Paris Andre J u n d t

N e e s e r, Maurice, Prof.: Orientation. LibeYalisme? Barthisme?
Philosophie? Theologie? Neuchatel u. Paris: Delachause & Niestie
1941. 115 S. 8°. Fr. 2.50.

Das kleine gehaltreiche Buch läßt uns zunächst, und mehrfach
später, in die theologische Lage hineinschauen, die in der
Schweiz, zumal der romanischen, durch die Theologie Karl
Barths und durch das Anwachsen seiner Schule unter der
Pfarrerschaft sich herausgebildet hat. Viele Schweizer Namen,
und nicht wenige persönliche Erinnerungen, werden das Buch
für den Schweizer Leser besonders anziehend machen. Aber
das theologisch-sachliche Moment wiegt vor. Und da Vf., Prof.
für die systemat. Fächer an der Universität Neuchatel, auch
in der Leichtbeschwingtheit und Eleganz der französischen
Sprache viel gedanklich Tiefes, zugleich viel Innerliches, zu
s,agen hat, so wäre eine deutsche Fassung der Arbeit nicht
minder zu begrüßen. Denn die Auseinandersetzung mit der
dialektischen Theologie dürfte uns — es liegen jetzt mit dem
2. Halbband des 2. Bandes bereits mehrere tausend Seiten
der Barl'hschen „Kirchlichen Dogmatik" vor, und das Werk
wird noch zahlreiche Bände zeitigen — noch erheblich zu
schaffen machen.

Vf. leimt den „Barthisme" entschieden ab. Sein leitender
Gedanke ist der, daß die Barth sehe Theologie weithin als
Gegensohlag gegen den „Liberalisme" zu verstehen sei.

Es steckt darin viel Richtiges; und Vf. mag, auf die Schweiz
gesellen — was ich weniger beurteilen kann — auch voll im Rechte
sein. Für Deutschland freilich muß es, gegenüber Legendenbildungen
überhaupt, betont werden, daß um die Jahrhundertwende, und noch
mehr im vijlvcrfehinten 19. Jahrhundert, das die Rolle eines theologischen
Prügelknaben nicht verdient, der theologische Lilxjralismus
auf den Lehrstühlen, und erst recht in der Pfarrerschaft, keineswegs
vorherrschte, sondern nur eine, wenn auch ganz stoßkräftige, Minderheit
bedeutete. Es gehörte zu den polemischen Methoden der
dialektischen Theologie, um sich herum und im Zurückblick nur eine
Farbe, im wesentlichen die liberale, zu sehen.

Der Verf. selbst ist aber keineswegs „liberal". Der Liberalismus
war nur der romantische Traum seiner theologischen
Jugend, den er mit der damaligen Zeit — übrigens gerade
auch in dem von Schweizer Theologen s. Z. viel besuchten
Marburg — geteilt habe. Die liberalen Blütenträttme seien aber
durch die Geschichte selbst widerlegt. Der Erhebung des
Menschen als immanenten Wesens, fast bis zu Gott hinauf,
der der Liberalismus — nicht nur der theologische — und
das „19. Jahrhundert" gehuldigt hätten, sei nun eine Art
Verleugnung des Menschen gefolgt, und zwar im Namen des
von Kierkegaard übernommenen unendlichen Gegensätze; zwischen
Gott und Mensch. Der „Barthisme" sei über den „Liberalisme
" gekommen! Beiden aber sei ein „Non!" entgegen
zu setzen.

So entschieden dieses Nein ist, so geht der Vf. doch nicht
als Ketzerrichter vor. Er nimmt zwar an, daß auch die folgende
Generation noch stark barthisch denken werde. Aber
man solle doch vor dem Barthismus nicht mehr Besorgnis
haben als vor dem Liberalismus. Beide gehören in die
Kirche wie auch Pelagius und Servet mit Augustin und Calvin
bzw. Melanchthon zusammengehören, freilich die ersteren
an den Rand der Kirche. Auch haushohe Wellen (die von
Pelagius und Servet hervorgerufenen Streitigkeiten) lassen die
liefe des Wassers unberührt.

Übrigens hält der Vf. es auch nicht für anormal, daß in der
Kirche eine gewisse mittlere Orthodoxie (Semi|>elagianisinus in der
katholischen, Arminianismus in der reformienen) viel Einfluß halie
wenn auch aus dem eigentlichen Zentrum heraus die Tiefe und
Wahrheit des Evangeliums immer wieder vorstoßen werde.

Liberalismus und Barthismus gehören also in die Kirche
(wenn auch an ihren Rand), weil es in der Schrift Gesetz und
Gnade, und in der Geschichte Philosophie und Theologie
gibt, und weil es wiederum jedesmal im Namen des einen