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Ausgabe:

1944

Spalte:

187-188

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Raabe, August

Titel/Untertitel:

Das Erlebnis des Dämonischen in Goethes Denken und Schaffen 1944

Rezensent:

Schultz, W.

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187

Theologische Literaturzeitung 1944 Nr. 7/8

188

(S. 78). Gegen jedes inhaltsbestimmte Oesetz, das sich ihm
von außen nähert und Unterwerfung fordert, bäumt er sich auf.
Jede Heteronomie ist ihm unausstehlich. Er will und muß der
„Knechtschaft unter dem Oesetz" entrinnen; er sieht auch klar
den Ausweg und schildert in dem feinen Stück aus Zarathustra
,,von den drei Verwandlungen des Geistes" wie ,,der Geist
zum Kamele wird und zum Löwen das Kamel und zum Kinde
zuletzt der Löwe". Freilich kann echter und rechter Kindersinn
ohne einen himmlischen Vater nicht gedeihen; Nietzsches Atheismus
verhindert seine wahre Erlösung vom Gesetz.

Warum aber hat sich Nietzsche in den Atheismus so störrisch
verbissen? Mit dieser Frage rühren wir an sein inneres,
persönlichstes Geheimnis. Das Wesen entscheidet. Er selbst hat
darüber gesagt: ,,Es gibt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit
dem Menschen die Entscheidung nicht zustellt, alle
obersten Fragen, alle obersten Wertprobleme". Früh hat Nietzsche
alles Jenseitige abgelehnt und sich für eine Religion des
Diesseits entschieden. Er hat sie auf den Namen Dionysos
getauft. Dionysos d. h. dem großen Ja zum Leben ist er
immer treu geblieben. Das Ja zum Leben kann aber zweierlei
bedeuten, erstens das Leben gutheißen, so wie es ist, mit Wonne
und Schmerz, mit Gutem und Bösem; zweitens für seine Steigerung
und Vollendung begeistert eintreten. Beides zusammen
ist das religiöse Pathos Friedrich Nietzsches. Dieses
Pathos bewährt sich in seiner ganzen Produktion. Er ist immer
dem Erdenleben treu geblieben. Aber seine ethische Totalanschauung
wandelt sich. Er sagt wohl immer Ja zum Leben.
Aber er muß immer mehr zweifeln, ob das Leben sehurseits
auch zu ihm und zu den feineren Nüancen seines Menschen-
ideals Ja sagt.

Meines Erachtens kann man Nietzsche nicht verstehen,
ohne seine Verkündigung in ihrem Werden und ihrer Auflösung
zu betrachten. Er hat keinen abgeschlossenen Gedankeiibau
hinterlassen, sondern nur flammende Ergüsse eines überempfindlich
zitternden oder begeistert auflodernden Gemütes.
Freilich kann man seine Begriffe aus ihrem lebendigen Zusammenhange
loslösen, aber sie verlieren dann ihr Leben und werden
zum leeren Schall. Nietzsches Ethik ist wie sein Ethos
nicht statisch, sondern dynamisch; man muß sie in ihrem Leben
fassen, sonst greift man nur die entseelten Glieder. Aber was
man mit solchen anatomischen Präparaten erreichen kann,
das hat auch Kristensson mit seiner klaren und scharfen Zusammenstellung
christlicher und nietzscheanischer Begriffe erreicht
. In ihrer Art ist seine Arbeit gut gelungen.

Lund Hu«o Ros^n

Raabe, August. Das Erlebnis des Dämonischen in Goethes
Denken und Schaffen. Neue deutsche Forschungen. Berlin;
Junker u. Dünnhaupt 1942. 403 S. gr. 8°. RM 16—.

In sechzehn Kapiteln, die dem Werdegang des Dichters
in seinen einzelnen Abschnitten von der Jugend bis zur
Zeit der Reife folgen, hat der Verf. ein Thema ausgeführt,
das an sich bedeutsam und wichtig ist. Denn in der Tat
spielt das Erlebnis des Dämonischen in Goethes Denken
und Schaffen eine sehr große Rolle. Das ist seit langem erkannt
worden. Doch hatte man es bis jetzt unterlassen,
diesen schwierigen, und auch für Goethe selbst mit Unklarheiten
belasteten Begriff einer umfassenden Untersuchung zu
würdigen. Einen solchen Versuch macht nun in dem vorliegenden
Buch der Verf. Durch sein reiches Wissen um die
innere und äußere Welt des Dichters und sein feines Tastgefühl
für die künstlerischen und religiösen Belange gelingt
es ihm, weithin die Wirkungen und Äußerungsformen jener
rätselhaften Macht des Dämonischen in Goethes dichterischem
Schaffen aufzuweisen und damit gleichzeitig des Dichters eigenes
Denken über diesen Sachverhalt schärfer zu erhellen.

Der Verf. weist mit Recht darauf hin, daß Goethe unter
dem Dämonischen etwas Ungeheures, Unfaßliches verstellt,
etwas Unheimliches, das sich nur in Widersprüchen manifestiert
und mit den „notwendigen Elementen unsres Daseins"
willkürlich schaltet. Wenn es aber so ist, daß das Dämonische
für Goethe eine Macht ist, über die der Mensch nicht verfügen
kann, die dem Erkennen und Wollen des Menschen
eine absolute Grenze setzt, dann bleiben die Gründe unverständlich
, die den Verf. dazu veranlassen, in fast allen Abschnitten
seines Buches zu zeigen, wie der Dichter dieser Macht
gegenüber sich behauptet oder sie siegreich überwindet. Es ist
zuzugeben, daß Goethe besonders in seiner klassischen Zeit,
in der er dem Dämonischen am fernstem stand, des Glaubens
war, daß der Mensch, welcher Entsagung übt, mit
allen Schicksalsmächten fertig werden könnte: „von der
Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der
sich überwindet." Aber die eigentliche Bedeutung des Dämonischen
scheint mir in dem Sachverhalt zu liegen, auf den der

j reife Goethe immer stärker stieß, daß es eine aus dem Transzendenten
kommende Mächtigkeit gibt, die den Menschen entweder
höher hinaufreißen oder vernichten kann, vor der er
I in keinem Augenblick seines Lebens sicher ist, der er auf
i Gnade und Ungnade ausgeliefert ist, über die er nie Herr wird.
; Demgemäß kann man auch nicht sagen, daß Faust aus den
Fesseln dämonischer Mächte frei wird (368 ff.), indem er sich
in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Er bleibt bis zuletzt
unter der Herrschaft des Dämonischen. Er meint zu schieben,
und er wird geschoben. Und die Rechtfertigung seines Lebens
I erfolgt erst in dem jenseitigen Sein, das der Dichter in der
! Himmelfahrtsscene dargestellt hat. — Das Dämonische ist also
für Goethe weder ein ästhetisches noch ein moralisch-philosophisches
Prolbem, sondern es bezeichnet ein religiösei Faktum
, hinweisend auf das „Ganz-Andere", das unbegreiflich und
unsichtbar in jedes Leben hineinragt, wie es u. a. in den
„Wahlverwandtschaften" aufgezeigt wird. Diese religiöse Linie
hätte in dem vorliegenden Buch, das im übrigen eine wertvolle
Bereicherung der Literatur über Goethe darstellt, schärfer hervortreten
müssen.

Kiel W. Schultz

Mißville, Henri-!..: Vers une Philosophie de l'esprit ou de la
totalitl. Paris: Alcan; Lausanne: Trois Collines. 290 S. 8°. Fr. 8 -.

Der Ordinarius der Philosophie in Lausanne, dem wir eine
große Arbeit über Ch. Renouvier verdanken, bietet in seinem
neuen Buche Reflexions et Recherches, einen immerhin fragmentarischen
Versuch zur Lösung von Problemen, deren jedes
ein eigenes Buch verlangt hätte. Man hat die Empfindung,
der Verfasser habe aus aphoristischen Aufzeichnungen im Laufe
der Jahre ein Buch zusammenzuschweißen versucht, das nicht
einen vorher festgelegten Plan systematisch abwickelt, sondern
er scheint vielmehr seiner widerstrebenden Materie — ru d 18
indigestaque moles — nachträglich, so gutes ging, eine
gewisse Einheit zu geben versucht. So ist die wertvolle Untersuchung
doch nur Vorarbeit und Baustein zu einem künftigen
System, dessen einzelne Mauern und Säulen heute aufgerichtet
werden, aber doch nicht zu eir-em festen und vollständigen
Bau sich zusammenschließen.

Man hat den Standpunkt des Verfassers als kritischen
Rationalismus bezeichnet. Er kommt nicht umsonst von
Kant und Renauvier her. Das heute so beliebte Irrationale
und die modische Mystik finden in seinem künftigen System
keinen Platz. Wir dürfen und sollen uns also unserer Vernunft
bedienen. Hier kommt der Verfasser sofort in Berührung
mit den Gegnern der Vernunft: Autorität und Offenbarung
. Dieser Primat der Vernunft führt aber weder zur
Anarchie, noch zur Autarkie. Der denkende Mensch in seiner
Freiheit strebt über sich selbst hinaus zur Einheit und Gemeinsamkeit
; er erhebt sich zum Universalen. Im Einzelnen
muß durch freien Entschluß dasjenige siegen, was über das
Individuelle hinausgeht, denn das Individuum weiß sehr wohl,
daß es sich selbst nicht genügt, sondern zum Ganzen gehört
und nur in gemeinsamem Streben mit allen Andern die geistigen
Werte erzeugt, die wir Wissenschaft, Moral und T^e-
ligion nennen.

Von seinem individualistisch-rationalistischem Standpunkt
aus wendet sich Mievielle naturgemäß gegen'jeden Dogmatismus
. „Mein Buch", schreibt er, „hat einen methodologischen
und einen konstruktiven Teil. Die religiöse Erhebung und
metaphysische Gewißheit, die in meinem zweiten Teil zum Ausdruck
kommen, sind nur demjenigen möglich, der sich einstlich
der Zucht der Wahrheit unterwirft und ihr nirgends
ausweicht. Nur so können wir hoffen, wie Piaton sagt, uns
durch die Kraft der erprobten Wahrheit zum wahren Sein
zu erheben."

Man kann sich leicht denken, wie sich diese (grundsätzliche
Stellungnahme der Theologie gegenüber auswirkt. Der Mut
zur Wahrheit dürfte hier einige Verheerungen anrichten! So
wird der Offenbarungsbegriff z. B. entsprechend weit gefaßt
i und keineswegs auf eine gewisse, auch zeitlich abgegrenzte,
I Summe von Wahrheiten beschränkt. Sie kann naturgemäß auch
] nie als abgeschlossen gelten. Oott offenbart sich in einer
i jeden, als solchen erkannten Wahrheit. Ebensowenig kann
j die Offenbarung auf die jüdisch-christliche Welt beschränkt
! bleiben. Keine Offenbarung ist eine nur objektive Gegebe iheit.
I Ihre Autorität steht nicht über, sondern unter der als solche
j anerkannten Wahrheit. Der Mensch ist noch immerr das Maß
) aller Dinge. An solchen glücklichen und originellen Formu-
! Hertingen ist Mievilles Buch, wie sich das auch aus seiner
I gelegentlichen, aphoristischen Form ergibt, überaus reich. Das
j Christentum ist für Mieville doch nur einprimus inter
' pares und zwischen Christus und andern Trägern göttlicher
| Offenbarung ist nur ein relativer Unterschied. Eine gewisse