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Ausgabe:

1943

Spalte:

45-48

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Grisebach, Eberhard

Titel/Untertitel:

Die Schicksalsfrage des Abendlandes 1943

Rezensent:

Schmidt, H.

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den Naturtrieb des 1 ebcnwollenden Lehens wird ein bewußter Wille,
der seine Motive ans dein Denken einpfün ,'t."

„Ethische Mystik" lautet die Lösung des Problems
der ethischen Weltanschauung. In diesem Zusammenhang
werden wir über den Unterschied von dualistischer
und monistischer Weltanschauung belehrt
und werden von neuem zu scharfem Widerspruch
herausgefordert. Buri liebäugelt als Anhänger der Mystik
naturgemäß mit monistischer Denkweise. Er schreibt:
„Vom Ideal einer denkenden Weltanschauung aus beurteilt
, erscheinen die monistischen Systeme den dualistischen
überlegen. Das Denken geht seinem Wesen
nach auf Einheit aus. Die Zweiprinzipienlehre enthält
einen logischen Widerspruch in sich." Kühne Behauptungen
! Sie erinnern an das herrische Diktat, mit dem
Fichte erklärt, man müsse zwischen Subjekt und Objekt
Avählen, müsse entweder Dogmatist (d. h. Materialist)
oder Idealist sein. Wir stellen dagegen ein berühmtes j
Zeugnis von Goethe. Er schreibt am 8. 4. 1812 an
seinen Freund Knebel: „Wem es nicht zu Kopfe will,
daß Geist und Materie, Seele und Körper, Gedanke und
Ausdehnung . . . die notwendigen Doppelingredienzien
des Universums waren, sind und sein werden, die beide
gleiche Rechte für sich fordern und deshalb beide zusammen
wohl als Stellvertreter Gottes angesehen weiden
können - wer zu dieser Vorstellung sich nicht erheben
kann, der hätte das Denken längst aufgeben und auf
gemeinen Weltklatsch seine Tage verwenden sollen."
Buri verwechselt, wie mir scheint, Denken und Spekulieren
. Die Neigung zum monistischen Spekulieren ist
gewissermaßen die Erbsünde des Denkens. In ihr vergißt
das Denken seine Sterblichkeit und seine Grenze,
vergißt, daß die vornehmste Tugend alles redlichen Denkens
nüchterne Besonnenheit ist. Wir lassen uns deshalb
auch gar nicht durch Buri imponieren, wenn er schreibt:
„Der mystischen Weltanschauung gegenüber erscheinen
die dualistischen Lehren nicht nur als unsachlich und
unvollständig, sondern auch als naiv und doktrinär"!
Daß aus dem „reinen Denken", wenn man ihm nur
„freie Bahn" gibt, die Ehrfurcht vor allem Leben folge,
daß es also darauf ankomme, den natürlichen Lebens- j
willen zu denkender Ehrfurcht vor allem Leben zu
vertiefen, wird vermutlich wenigen Lesern einleuchten;
sie werden sich schwer überzeugen, daß aus dem reinen
Denken die Ehrfurcht vor dem Lebenswillen auch der
Pestratten und der Typhusbakterien folge. Ich will
übrigens nicht verschweigen, daß B. schließlich (S. 82 f.)
bei Albert Schweitzer doch eine Art von ethischem Dualismus
findet, dessen Ableitung mir freilich nicht klar
geworden ist. Dieser Dualismus wird uns empfohlen
als der erste nicht naive und nicht doktrinäre Dualismus.

Was endlich die ethische Mystik betrifft, die als der
Weisheit letzter Schluß erscheint, so können auch Albert
Schweitzer und Buri mich nicht überzeugen, daß das
Evangelium Jesu uns Mystik predige. Nicht mystische
Hingabe an das Leben, sondern dienender Gehorsam
gegen Gott, den Vater Jesu Christi, ist die Forderung
des Evangeliums.

Hannover-Kleefeld Hermann Schuster

Grisebach, Eberhard; Die Schicksalsfrage des Abendlandes.

Slurmzeit, Grundlafjen'besinnunp; und Aufbaugedanken. Born: Paul
Haupt 1942. (III, 340 S.) gr. 8P. RM 7.20.'

„Jeder Akademiker sollte während seines Studiums
Vorlesungen und Übungen besuchen, weiche das Gewissen
fördern und anleiten" (273). Diesem Zweck der Ge-
wissenserziehung zu dienen, ist eine der wesentlichen Absichten
des Buches, das in einem „unzünftigen", aber
vielleicht gerade deshalb nicht immer leicht verständlichen
Stil geschrieben ist; es will den europäischen Menschen
und speziell den Wissenschaftler zu einem „handelnden
Denken" anleiten, das angesichts der Schicksalsfrage
Europas alle Grundkräfte: „das Gewissen, den
Glauben und das Gehör für die zukünftigen Aufgaben",
wachruft. Es fuhrt den Leser von der Gegenwartslage

(1. Buch: „Stunnzeit") über die Vergangenheit mit ihrem
geistigen Erbe (2. Buch: „Grundlagenbesinnung") zum
zukünftigen Aufbauwerk (3. Buch: „Aufbaugedanken").

Wie der Titel des Buches verrät, ist die Blickweite
groß und umfassend, wenn auch der Standort der Betrachtung
speziell im Bereich des wissenschaftlichen Lebens
genommen wird und in erster Linie die geisti-
g e n und sittlich-religiösen Triebkräfte des Abendlandes
erhellt und die Verantwortung des wissenschaftlich
lehrenden und lernenden Menschen betont wird.
Der Verf. hat aber durch Themastellung und Themabe-
handlung selbst Anlaß dazu gegeben, daß sich beim
Lesen seines Buches stets auch ein politisches Interesse
einmischt.

Was versteht Grisebach unter der „Verlegenheit des
Europäers" (2. Kap.), wie sie vor allem angesichts der
„Zukunftsfrage" (1. Kap.) ans Licht tritt? Wir Deutschen
, welche mit anderen Europäern heute gegen den
Bolschewismus einen harten Kampf um die Zukunft
unseres Lebensraumes bestehen und die Zukunftsfrage
Europas in bitterster Konkretheit uns gestellt sehen,
werden seine Überlegungen gerade über diesen Punkt
als reichlich abstrakte und akademisch geformte Umschreibungen
ansehen müssen, welche die entscheidenden
Notwendigkeiten nicht beim rechten Namen nennen
wollen und die Gedanken in eine private oder metaphysische
Sphäre ausweichen lassen. Letztlich geht es
dem Vfr. allgemein gefaßt wohl darum, die unerträglich
gewordene Spannung zwischen dem großtuerischen
Illusionismus des Europäers und der menschlichen
Endlichkeit und Vergänglichkeit sichtbar werden zu
lassen.

Das gegenwärtige Europa beruht auf drei Grundlagen
, nämlich der Antike, dem Christentum und der
Synthese dieser beiden ersten Größen, dem „christlichen
Humanismus": 1) Die Gefahr des klassischen Altertums
liegt in der Überheblichkeit seines Menschen, in dessen
universalem Herrschaftswillen, in dem Selbsterlösuugs-
versuch. Das förderliche Geschenk der Antike ist die
sokratische Gewissenhaftigkeit und die kritische Geistigkeit
. 2) Das wahre Christentum sucht der Vfr. nicht in
den Traditionen, um welche „die Päpste von London,
Rom und Basel" sich streiten und auf welchen sich
universale, weithin auch politische Ansprüche aufbauen,
sondern in dem ursprünglichen Kerngehalt, den die
historischen Erscheinungen des theologisch-kirchlichen
Lebens verhüllen, im „christlichen Glauben", der eine
eigene, theoretisch unbegründbare und zugleich unangreifbare
Region hat. Der Vfr. findet bei "der Darstellung
dieses Glaubens z. T. wirksame und ergreifende
Worte. Man gewinnt aber den Eindruck, als ob er das
Glaubenswesen oder die Offenbarungswirklichkeit allzu
einseitig als etwas Zukünftiges sieht und fast nur die
negativen Momente sichtbar werden läßt. Denn das Positive
wird, wenn er es nennen will, dann auch mehr oder
weniger negativ bezeichnet (vgl. 106). 3) Aus der falschen
Vermengung der antiken philosophischen Ideenwelt
und dem christlichen Offenbarungsglauben entstand das
gegenwärtige, jetzt in seine Krisis eingetretene abendländische
Selbstbewußtsein, ein „christlicher Humanismus
", wie er vor allem in Hegels Philosophie seine
klassische Darstellung fand, eine individualistische Persönlichkeitsbildung
, der Mythus von der absoluten Wahrheit
, ein Historismus, welcher zwar die Vergangenheit
beleuchten kann, aber vor der Gegenwart völlig versagt.
Hier liegen die wesentlichen Ursachen der drohenden
Katastrophe. An einigen Symptomen, z. B. an dem Anspruch
auf „Glaubensfreiheit", der nichts mit der wahren
Freiheit eines Chiistenmenschen zu tun hat, schildert
Grisebach das morsche Wesen dieses „sakralen Traditionalismus
"; mit rücksichtsloser und radikaler Kritik,
mit entschlossenem Mut zum Abbau begegnet der Vfr.
dieser auch in ihren säkularen Erscheinungen mit klerikalen
Resten durchsetzten, dogmatisch-unkriiisci-.en, überheblichen
Bildungswelt (vgl. die Ausführungen über die