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Ausgabe:

1943 Nr. 1

Spalte:

303-305

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Winnig, August

Titel/Untertitel:

Das Unbekannte 1943

Rezensent:

Hellpach, Willy

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Theologische Literaturzeitung 1943 Nr. 11/12

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Stuttgart-Berlin 1939) offen und mit betonier Zustimmung Partei,
was für die geistesgeschichlliche Erhellung der Nachwirkung des
Dichters in mehr als einer Hinsicht von weittragenden Folgen ist.
Nun ist aber gerade Hildebrandts Hölderlin-Interpretation (einschließlich
der in ihr mitgegebenen Einordnung des Dichters in die deutsche
Geistesgeschichte) keineswegs unumstritten. Ich glaube nicht, daß sie
in jedem Betracht glücklich und zutreffend ist, und siehe mit dieser
Meinung keineswegs allein. Hätte Bartscher die moderne Hölderlin-
Literatur eingeliender diskutiert, so wären dabei von selbst die
besondere Note und wohl auch die Gülligkeitsgrenze des Hilde-
brandtschen Versuches zutage getreten. Der Hinweis auf Bartschers
entschiedene Hildebrandt-Anerkennung mag beispielhaft dartun, wie
wichtig es für den Forscher der Wirkiuigsgesehichte des Dichters ist,
mit einem möglichst explizierten und in der Auseinandersetzung
mit der modernen Literatur kritisch gesicherten Hölderlin-Bild zu arbeiten
.

Was das Verhältnis Georges und seines Kreises zu Hölderlin angeht
, so übernimmt Bartscher das allgemeine Urteil Hans Rößners
(,,Georgekreis und Literaturwissenschaft", Frankfurt 1038). Trotz
aller grundsätzlichen Einwände und Vorbehalte bemüht er sich aber,
die fruchtbaren und in ihrem Effekt positiven Seiten des Verhältnisses
ungeschmälert anzuerkennen. Wenn er sich zu einer scharfen
Absage an das Hölderlin-Kapitel in Kommerells ,.Dichter als Führer
in der deutschen Klassik" (Berlin 1928) gezwungen sieht,
so hätte er der Billigkeit halber auch die neueren Hölderlin-Aufsätze
Kommerells nennen und würdigen sollen, die keineswegs mehr von
den Anschauungen des ,,Kreises" gefesselt und beherrscht sind und
gewiß zu den erfreulichsten Äußerungen der jüngsten Hölderlin-Interpretation
gezählt werden dürfen.

Unter der Überschrift ,,Hölderlin und die deutsche Nation"
war natürlich für eine Darstellung der Wirkung des Dichters im
Ausland kein Raum. Außerdem wäre der Versuch für das 19. Jahrhundert
kaum ergiebig verlaufen; die von Bartscher gewürdigte Abhandlung
des Franzosen Challemel-Lacour (1867) stellt durchaus
eine Ausnahme dar. Für die jüngste Vergangenheit hingegen würde
die Nachfrage nach Hölderlins Widerhall jenseits unserer Grenzen
höchst ergebnisreich sein.

Anhangsweise liefert Bartscher eine dankenswerte und aufschlußreiche
,,Obersicht über die Drucke der Werke und Briefe Hölderlins",
Sammel- und Gesamtausgaben sowie Einzeldrucke umfassend. — Leider
fehlt dem Buch ein Namen-Register.

Marburg W. Kalt hoff

Win n ig, August: Das Unbekannte. Berlin: M. Warneck [1940],
(78 S.) 8°. RM 1.50.

Der Verfasser dieses schmucken Bändchens wurde schon
vor 20 Jahren durch seine Autobiographie „Frührot" als
ein fesselnder und ansprechender Erzähler bekannt. Seine
sprachliche Meisterschaft läßt auch den Leser dieser knappen
Studie, die tief ins ,,Okkulte" hineinführt, nicht los, man
widersteht schwer der Versuchung, die 78 Seiten in einem
Zuge zu „verschlingen". Aber der Vertreter der Wissenschaft
hat die minder dankbare Aufgabe, streng zu prüfen,
was daran den Ansprüchen der Forschung standhält. Weltanschauung
, Religion und Mystik, Philosophie und Poesie
mögen zu dem Problem des "Wunderbaren jede ihre
Stellung nehmen; die Stellungnahme der Wissenschaft hat vor
aller Erwägung der theoretischen Möglichkeit des angeblich
Geschehenen zunächst die tatbeständliche Richtigkeit, die faktische
Stichhaltigkeit zu prüfen, und sie darf dabei nicht von
den strengen Maßstäben abgehen, die sie überall in qttellen-
kritischer Hinsicht anzulegen gewöhnt und vor sich selber
verpflichtet ist. Mit moralischer Wertung des Berichtenden
hat das nichts zu schaffen. Die Psychologie weiß, daß jeder
Mensch weitgehenden Fehlerinnerungen unterliegt, die schon
gleich nach einem Erlebnis verfälschend einsetzen, und daß
davor die Willigkeit, nur „Wahres" mitzuteilen, nicht schützt;
sie weiß auch, daß gestalterisch begabte Naturen in ganz besonderem
Maße solchen Erinnerungstäuschungen ausgesetzt
sind. Bismarcks treuer Helfer bei der Abfassung seines Le-
bensvermächtnisses, Lothar Bucher, war manchmal ganz verzweifelt
, wie schwer sein genialer Meister sich offenkundige,
massive Erinnerungstäuschungen ausreden ließ, deren ja denn,
wie die historische Kritik nachgewiesen hat, in den „Gedanken
und Erinnerungen" eine nicht kleine Zahl stehen geblieben
sind. Auch der Wille zur reinsten Wahrhaftigkeit
bietet keine Gewähr gegen die ungewollte Mitteilung von objektiv
Unrichtigem, das sich nie so zugetragen hat. Darum
fordert die Wissenschaft (und kann davon nichts nachlassen
), daß alle Sorten prophetischer Erlebnisse, Weissagungen,
Ahnungen, Träume von Künftigem, vor verläßlichen Zeugen
mitgeteilt, womöglich protokolliert seien, bevor das, was
sie angeblich voraussagten, eingetreten ist. jeder nachträgliche
Bericht davon ist wissenschaftlich unbrauchbar — Goethes
Sesenheimer Vision im 12. Buche von „Dichtung und Wahrheit
", die beinahe vierzig, eben sowie Bismarcks Traum vom

, rettenden Feldzug in Böhmen, der immerhin achtzehn Jahre
danach zum ersten Male berichtet worden ist. Das Fehlbewußtsein
, etwas Geschehenes schon einmal vorerlebt zu haben,
kann ganz zwingend und mit unbeirrbarer Sicherheit auftreten
, zumal bei phantasiestarken, erregbaren und verinner-

j lichten Naturellen.

Einer solchen Quellenkritik halten die wenigsten von W.'s Berichten
stand. Weder Zeugnisse noch Zeugen werden beigebracht,

j dafür, daß die Prophezeiungen getan worden sind, ehe ihre Verwirklichung
eintrat. Und welche Ungenauigkciten beim Bericht un-

| serm Autor zustoßen, tut gerade eine so einfache, unverwickeltc

i Mitteilung wie die auf S. 27—32 kund (die er schon in einem

i früheren Buche vorgelegt hat). W hat. als Sechzehnjähriger ein paar
mit der Arbeit unzufriedenen Kameraden gesagt, in 10 Jahren
werde er etwas ganz anderes tun, nämlich „Redakteur oder dergleichen
sein". Nun, fürs Jahr 1894, in der größten Aufstiegszdit
der Gewerkschaften nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes,
war eine solche Selbstprognose für einen geistig regsamen und bM-
dungseifrigen jungen Arbeiter gerade nichts Absonderliches, derlei mö-

1 gen viele sich vorgenommen und für sicher gehalten haben. Tatsächlich
brachte ihm der Gewerkschaftsführer Bommelburg i. J. 1904 die
Bestallung zum Verbandsbeamten in Gelseukirchen, wodurch er seine
Qualifikation, später auch Redakteur der Verbandszeitung zu werden
, ausweisen solle. Dies trug sich am 2f). Oeburtsfage Wimägs
zu. Er behandelt nun den Fall so, als ob er damals schon diesen
exakten Termin seines Geburtstages mit vorausgesagt habe — wovon
aber auf S. 28 kein Wort steht, dort heißt es nur: in 10 Jah-
ren . . . und er ist ja an diesem Geburtstage auch gar nicht Redakteur
, sondern erst als künftiger Redakteur in Aussicht genommen
worden. Der Laie findet solche Ausstellungen leicht kleinlich
, aber die Quellenkritik der Wissenschaft tut au ihnen dar, wie
wenig genau die Berichter es eben mit den Einzelheiten nehmen
, und allerdings muß die Wissenschaft verlangen, daß es damit
haarscharf genau genommen werde. Gar später lesen wir bei W.
Dinge wie die Pcnsionsgeschichte auf S. 52 ff., die er überhaupt
nur ungeprüft anderen nacherzählt, die sie wieder von anderen
haben erzählen oder nacherzählen hören. Ist der Mordfall, der da
sich abgespielt haben soll, irgendwie kriminalistisch belegt? Wir
erfahren es nicht. Was aber aus nichtssagenden Ereignissen im
Munde der Fama für Moritaten werden können, weiß die psychologische
Aussageliteratur und lehren alle der Fama günstigen Zeitläufte
immer aufs neue. Ganz naiv ist die kurze Erzählung vom
Klopfspuk im Schlosse des Dichters Paul Ernst. „Nicht besonders
bemerkenswerte Geräusche" nennt der Besitzer selbst das, was angeblich
da sein soll und was, wohlgemerkt, Winnig überhaupt erst
aus ihm herausfragt, und Eugen Diesel will sie auch gehört und
sie als „auf keine Weise (als spukhaft) erklärbar" bezeichnet
haben. Es wird nicht einmal klar, ob die beiden sich nicht mit
Herrn Winnig einen harmlosen Spaß gemacht haben. Man wird
leider sagen müssen, daß die meisten Berichte dieses Bändchens
nicht den kleinsten Anforderungen gerecht werden, die sogar in der
höheren okkulten Literatur als Vorbeugung vor wissenschaftlichen

! Anfechtungen meist schon seit langem immerhin beobachtet werden.
Aber das alles ist reizvoll hingeplaudert, liest sich spannend, teils
amüsant, teils gruselig, teils nachdenklich; nur wissenschaftlich —
aber auch weltanschaulich ist es gerade darum nicht verwertbar.
Denn eine Weltanschauung, die das „Wunderbare" sich einbaut,
müßte denn doch auf ganz andere Erschütterungen des inneren
> Menschen gegründet sein, als diese netten Prophezeiungs-, Visionsund
Spukgeschichtchen es sind. Man empfängt hier trotz allem
den gleichen unbehaglichen Eindruck, wie bei den meisten Manifestationen
des Spiritismus und des gröberen Okkultismus: daß Wis>-
senschaft, Philosophie und Religion mit ihren strengeren Forderungen
an das Wahre und Gültige außer Kraft gesetzt werden sollen durch
Dinge, die Quisquilien des Daseins, im Orunde subaltern und größ-
! tenteils angenehme, dem eigenen „mediumistiischen" Bedürfnis schmeichelnde
Selbsttäuschungen sind.

„In diesen Fällen hat sich der Mcn*ch mit der Anwesenheit
! berührt" (S. 48). Ist das überhaupt für denjenigen möglich, der sich
das Absolute als „Anwesenheit" vorstellt, so fragt es sich immer
noch, wie oft, auf welche Art, mit welchem ErtebnisinhaltV Es sind
■ die Fragen welche das Wunderproblem als solches stellt. Die evangelische
Dogmatik kennt das die Natur- und Geistesgesetzc durchbrechende
göttliche Wunder nur einmalig aus ganz großem, das
Heil der Menschheit verwirklichendem Ratschluß — andere Wunder,
als die im II. Art. des Apostolikums verzeichneten gibt es für sie
nicht. Das katholische Christentum vollzieht das Wunder (im Meßopfer
) täglich und stündlich immer neu und läßt „Kleinwunder"
im Alltag und allerorten (bei Wallfahrten, Bitter hörungen, an heiliggemäß
Lebenden usw.) immerfort geschehen. Der Protestant findet das