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Ausgabe:

1943 Nr. 1

Spalte:

299-301

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Steinberg, Heinz

Titel/Untertitel:

Studien zu Schicksal und Ethos bei F. M. Klinger 1943

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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299

Theologische Literaturzeitung 1943 Nr. 11/12

30O

Wie bei der Philosophie ist auch bei der Theologie das
Hemmende die Tradition. Zwar nicht in dem Sinne, daß diese
die Theologie gebunden hätte, wohl aber in dem Sinne, daß
die Theologie selbst als gebundene Wissenschaft eine ungebundene
Entwicklung der unabhängigen Wissenschaft verhindert
hat. Der Mann, der den Konflikt zwischen Theologie auf unabhängiger
Wissenschaft erkannt, aber doch nicht überwunden
hat, weil er selbst aus der Traditionsgebundenheit doch nicht
herauskam, ist Descartes gewesen. Der erste Philosoph, der
nicht mehr aus dem Konflikt zwischen Theologie und Wissenschaft
seine Probleme empfängt und seine Lösungen gewinnt,
sondern unabhängig von der aristotelisch-scholastischen Tradition
zu selbständigen Problemstellungen vordringt, ist (wieder)
Friedrich Nietzsche.

Nietzsche also war es und ist es, der uns gesagt hat, daß
echte Probleme vom Leben gestellt werden und nicht von der
Tradition. Nun könnte ich dazu sagen, daß die Theologen wenigstens
das schon vor Nietzsche gewußt haben. Der Berliner
Philosoph könnte an den Berliner Theologen Schleiermacher erinnert
werden. Aber das Entscheidende ist gar nicht das, daß
wir in diesem Sinne von Nietzsche nichts Neues lernen können;
das Schwierige ist das, daß gerade Nietzsche es ist, der mit
seinem Subjektivismus uns im Stiche läßt, wenn es gilt, das zu
gewinnen, was uns in den Stand setzt, zu unserem Nächsten das
rechte Verhältnis im Sinne wahrer Volksgemeinschaft zu finden.
Nun ist gewiß richtig, daß Nietzsches Herrenmenschentum nicht
so zu verstehen ist, daß der Herrenmensch den Nächsten rücksichtslos
mit Füßen tritt. Das brauche ich eigentlich gar
nicht zu sagen. Aber sehr richtig ist, wenn unser Autor sagt.
„Philosophie ist heute da, wo das Problem der gemeinsamen
geschichtlichen Existenz erlebt und gedacht wird" (S. 203).
Gemeinsame geschichtliche Existenz aber erlebt man nie ohne
Tradition. Dabei kann es freilich nicht um jede beliebige Tradition
gehen; sehr wohl aber um eine Tradition, wie sie in unserer
„theologischen Existenz" sich auswirkt. Das ist eben
gerade die Eigenart dieser Existenz, daß sie im Prinzip aller
Tradition gegenüber frei ist, aber doch von ihr gelten läßt, was
von ihr sich bewährt hat unseren Ahnen und uns selbst.

Heidelberg Robert J e I k e

Steinberg, Dr. Heinz: Studien zu Schicksal und Ethos bei
F. M. KHnger. Berlin : Ebering 194!. (240 S.) gr. 8° = Germanische
Studien H. 234. RM 9—.

Eine umfassende den heutigen Anforderungen entsprechende
Darstellung, Deutung und geistesgeschicht-
liche Einordnung der Persönlichkeit und des Werkes F.
M. Klingers fehlte bisher. Heinz Steinberg gibt sie in
diesem Buch, einer problemhistorischen Methode sich
bedienend, exakt in den philologischen und biographischen
Einzeluntersuchungen, überlegen und scharf in
der Gesamterfassung, tief schürfend in der Aufdeckung
aller Beziehungen und Zusammenhänge und mit klarem
Blick für das Einzige und Einmalige an Klinger.

Der geistesgeschichtlichen Bewertung von Rationalismus
und Geniezeit durch Steinberg können wir nur zustimmen
. Der Ausdruck „Sturm und Drang" ist unzutreffend
, da er ein Phänomen von höchstens akzidenteller
Bedeutung zum entscheidenden Kennzeichen erhebt,
nämlich das Anrennen gegen die angeblich morsche Passivität
des Rationalismus. Gegen den letzteren Vorwurf
nimmt Steinberg die Aufklärung als ganze in
Schutz und gibt eine ins Schwarze treffende Charakteristik
ihrer Spätzeit:

„Selbst den kleineren Geistern der Spätzeit der deutschen
Aufklärung, etwa dem viel geschmähten Friedrich Nicolai, dessen
Grundzug geradezu eine stets wirklichkeitsnahe, kämpferische Einsatzbereitschaft
ist, kann mau alles andere eher als Passivität vorwerfen.
Bei ihnen machen sich freilich die immanenten Gefahren zumal der
rationalistischen Richtung deutlich und nachhaltig bemerkbar, die
Gefahr der Erstarrung in der überkommenen Terminologie, der Vogel-
Strauß-Politik mit dem inzwischen veränderten Menschen und seiner
intensiveren, vielseitigeren Lebensfülle, die Gefahr der naiv-unproble-
maüst'hen, optimistisch-falschen Harmonisierung ewig menschlicher
Disharmonie um der erstrebten Aussenwirkung willen, die Gefahr
schließlich der Verwässerung positiver Religiosität zu Gunsten einer
allmählich immer utilitaristischer interpretierten Ethik an Stelle
eines echten Streben« nach vollgültiger Synthese von Religion und
Kultur entsprechend dem großen Vorbilde Leibnizens." (S. 10).

Inzwischen war eine Wandlung des Menschen eingetreten
. Es wurde wieder echtes Schicksal erfahren, das

mehr ist als eine dem kausalen Zwang unterliegende
Folge von Geschehnissen, die auf ein Ich wirken, wie
i es die Aufklärung auffaßte; die Individualität wurde
wiedergeboren, die etwas anderes ist als der quantitative
1 Individualismus der Aufklärung; die Augen öffneten
sich für die menschliche Totalität; das geschichtliche Bewußtsein
entzündete sich; der neue Mensch erlebte sich
mit starker Gefühlsintensität und mit einem Auserwählt-
heitsbewußtsein gegenüber dem Durchschnittsmenschen
(„Genie"). Es entstand „ein eigentümlicher Sinn für
| menschliche Größe jenseits von Gut und Böse, aber auch
ein bislang ungeahntes Feinempfinden für die Bedrohung
sowohl wie für die Geborgenheit des Daseins". (S. 18).
i Aktivität ist nicht ein Merkmal der ganzen Periode; es
gibt eine mehr kraftgenialische und eine mehr senti-
! mentale Richtung (für die erste vgl. Götz, für die
zweite Werther). Die einen betrachten den Menschen
mehr als das Produkt der Verhältnisse; die andern meinen
, die Verhältnisse seien letzten Endes der freien
Willensentscheidung des Menschen unterstellt oder für
| sie belanglos.

In den Sturm- und Drang-Dramen Klingers zeigt
; sich, wie St. ausführt, sowohl das Kraftbewußtsein als
auch das ethische Streben. Das Kraftgenie Guelfo in
j „Die Zwillinge" ist radikalste Verkörperung des „großen
! Kerls" der Geniezeit, von Einfluß auf Goethes Egmont,
— doch, wie St. aufschlußreich bemerkt: Klinger suchte
das Dämonische, während Goethe es an der Grenze fand.
In „Neue Arria", besonders aber in „Simsone Grisaldo"
i hat sich Klinger von dem bloßen Anrennen gegen alles
| dem eigenen Gefühl Widerstrebende zu einer ruhigeren,
! verständnisvolleren Haltung gegenüber den Gegeben-
| heiten entwickelt. Klingers Sturm und Drang endet mit
| einem pessimistischen Fragezeichen: „Der verbannte Göt-
j tersohn".

Die Übergangszeit bis 1783 ist von der Unruhe und
verwirrenden Fülle des Erlebens bestimmt. Klinger will
I Weltwirklichkeit um jeden Preis wiedergeben, auch um
j den Preis der ästhetischen Wirkung, und die Obel
! der Welt konnte er nie mehr vergessen, seitdem er sie
j gesehen hatte. Bei der sexuellen Laszivität des Romans
„Orpheus" hört St. (ich nicht!) einen ständig mitschwingenden
Unterton der moralischen Anklage, die
j Desillusionierung der verlogenen Schwärmerei des Rokoko
für die „platonische" Liebe. Dem einzigen grund-
I sätzlichen Ausfall Klingers gegen den christlichen Glauben
, und zwar auch gegen Jesus selbst, im „Goldnen
Hahn" ist nach St. keine besondere Bedeutung beizumessen
.

Nunmehr schildert St. in einem wichtigen Abschnitt
den Weg Klingers über das Kant-Erlebnis zum deutschen

i Idealismus. Nach dem jugendlichen Überschwang und
nach der Nüchternheit der Weltbetrachtung der Kampf
des Trotzdem. Die Tragödie „Konradin" enthält bereits
keine Polemik gegen das Christentum, obwohl
der Stoff sie nahelegen würde. Konradin ist sterbend
Herr seines Schicksals. St.'s Vermutung dürfte zutreffen,
daß Klinger bewußt der „christlich" verbrämten Macht-

i poiitik einen in seinem Sinne christlichen Menschen

I gegenüberstellen wollte, der es auf Grund seiner unmittelbaren
und insofern gleichsam protestantischen religiösen
Gewißheit mit einer Welt von Scheinchriisten aufzunehmen
vermag. Die moralische Idee im „Günstling"
zeigt, daß Klinger ahnt: Wahre Freiheit ist nur möglich
auf dem Grund eines unbedingten Moralismus, der einen
Bruch mit dem natürlichen Menschen voraussetzt. Die
machtvollste Verherrlichung der Idee der sittlichen Freiheit
ist das Schauspiel „Aristodymos", das St. tief deutet
. Eine providentielle Schicksalsauffassung lehnt Klinger
ab. Es scheint ihm unfromm, das Schicksal christlich
als Vorsehung anzusehen (wobei er „christlich"
etwa im Sinne Klopstocks auffassen mag: „Seid so
edel, daß ihr den großen Wert der Trübsale dieses
Lebens ganz verstehen lernt"). Das Schicksal ist und

j bleibt rätselhaft. Aber es ist insofern nicht ein dumpf