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Ausgabe:

1943 Nr. 1

Spalte:

292-294

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Picardie 1943

Rezensent:

Lerche, Otto

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291

Theologische Literaturzeitung 1943 Nr. 11/12

292

Rupert von Deutz nachweisen ließ. Nur schade, daß V. nicht
mehr die Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung mit R. F. Studeny,
John of Cornwall an Opponent of Nihilianism (Mödling, 1939, vor
allem S. 132—137) wahrgenommen hat. Mir scheint ferner, als ob
der giibertinisch eingestellte Verfasser der Summe des Cod. lat.
109 der Zwettler Stiftsbibliothek bei seiner Darstellung der Frage
einer Gleichheit zwischen dem Menschen Christus und Gott Vater
Gerhohs Standpunkt gekannt hätte.

Störend machen sich sprachliche Neubildungen oder Neuprägungen
des Verfassers bemerkbar. Gerade in Werken, die sich mit
der feinziselierten und terminologisch so vorsichtig abgewogenen Be-
griffswelt der Scholastik beschäftigen, dürfen die Termini niemals,
auch nicht durch eine nicht gebräuchliche Obersetzung, verrückt
werden. So münden Ausdrücke wie Ganzheitlichkeit oder Washeit
auf eine Verdunkelung desjenigen hinaus, was klar und eindeutig
im lateinischen Text gesagt ist. Ein Beispiel dafür haben wir auf
S. 100 bei einem Vergleich zwischen der im Text gebrachten Übersetzung
und dem in Anm. 40 gebotenen Urtext. Man darf eben
nicht vergessen, daß die scholastische Terminologie nicht etwas
Naturgewachsenes, sondern ein Kunstprodukt ist, genau so wie die
Fachausdrücke der Chemie, Medizin oder Botanik. Warum aber
sollte, im Gegensatz zu diesen Wissenschaften, die Theologie dort,
wo sie besonders eindeutig reden sollte, auf ihre mühsam erarbeiteten
Tennini verzichten zugunsten einer vagen Verdeutschung, die
auch dem mit den theologischen Problemen vertrauten Deutschen
nur zu oft erst dann verständlich wird, wenn er — was durchaus
nicht z u oft der Fall ist — erraten kann, welcher lateinische Ausdruck
damit übersetzt sein will? Ganz zu schweigen von den
fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die so für Nichtdeutsche entstehen
, an die sich Werke dieser Art doch auch wenden sollen.

Bamberg Artur Landgraf

Hoff mann, Dr. Fritz: Die erste Kritik desOckhamismus durch
den Oxforder Kanzler Johannes Lutterell (nach der Hs. CCV d.

Bibliothek d. Prager Metropolitankapitels). Breslau : Müller u. Seiffert
1941. (IX, 172 S.) gr'. 8° = Breslauer Studien z. histor. Theologie.
N. F. Bd. IX. RM 8-.

Die aus dem Schülerkreise von Prof. J. Koch in Breslau
hervorgegangene Arbeit Fritz Hoffmanns ist eine sachliche
Einleitung in die von A. Pelzer vor 20 Jahren in Prag gefundene
Handschrift: Johannes Lutterell, Cancellarius Oxonien-
sis, Libellus contra doctrinam Ouilelini Occam, deren Text
von Hoffmann hergerichtet, der Veröffentlichung harrt. Im
Anschluß an Koch führt H. den Nachweis, daß der Exkanzler
von Oxford als der Ankläger und damit die eigentliche treibende
Kraft in dem Prozeß gegen den Neubegründer des
Nominalismus zu betrachten ist. 1323 hat er wahrscheinlich
dem Papst in Avignon seine Anklageschrift überreicht, und
alsbald, spätestens 1324, wurde Ockham nach Avignon geladen
und sein Sentenzenkommentar einer Kommission zur
Begutachtung übergeben; unter Beifügung der Schrift Luttereils
; ein Urteil ist allem Anschein nach nicht gefällt worden.
Der Text der von H. eingehend beschriebenen Handschrift
ist sehr verderbt, und da er in seiner Bereinigung noch nicht
vorliegt, fehlt die Möglichkeit einer Kontrolle der Ausführungen
von H., wenn er mit ihm operiert, aber allem Anschein nach
kann man sich auf seinen Text verlassen. Das Ziel der von
Lutterell 1323/24 abgefaßten Schrift ist eine eingehende wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit Ockhams Lehre in der
Form einer Warnung und Anklage unter Erteilung von Zensuren
zu den einzelnen Artikeln. So übermittelt H. in seinem
Buche wertvolle Erkenntnisse zum Verständnis Ockhams und
des Nominalismus überhaupt, zumal er sich nicht auf Ockham
beschränkt, vielmehr Durandus von S. Porciano, Heinrich
Harclay, Duns Scotus u. a. sowie für die eigene Kritik besonders
Thomas von Aquino heranzieht.

Die Einzelheiten der verschiedenen loci können hier nicht
angegeben werden. Mit vollem Rechte ist die Erkenntnistheorie
an die Spitze gestellt, ihre grundlegende Bedeutung durchzieht
die ganze Dogmatik. Es handelt sich um die Beschränkung
der menschlichen Erkenntnis auf das rein Begriffliche
, losgelöst von den wirklichen Dingen. Unsere Erkenntnis
hat es nur mit Begriffen zu tun, die in keiner Weise aus
der extramentalen Welt gewonnen werden, sondern rein mentale
Gebilde sind. In ihre Welt gehören auch die Universalia,
während es in der realen Außenwelt nur Einzeldinge gibt.
Ein prineipium individuationis gibt es daher nicht mehr, man
kann nur sagen, daß die Individuen sich durch sich selbst
unterscheiden. Wissenschaft ist nicht das Erkennen und Feststellen
wirklicher Zusammenhänge in der Welt der realen
Dinge, sondern eine Verknüpfung rein gedanklicher Gebilde
innerhalb unseres Verstandes. Absoluter Skeptiker ist Ockham
damit nicht, aber „diese Gefahren lagen in seinem System"
(S. 47), wenn es etwa heißt: solae propositiones sciuntur.

,,Die Sache bleibt hinter dem Zeichen verborgen, das wie eine
Wand zwischen ihr und der Erkenntnis steht" (S. 48). In
der sogen. Prädikamentenlehre werden Qualität, Quantität, die
Akzidenzien in den Verstand verlegt als Betrachtungsweisen
bei nicht real von ihnen unterschiedener Substanz (quantitas
est res in anima, eine Perspektive), Relation aber wird zur
Konnotation, d. h. Mitbezeichnung eines Dinges durch ein
' anderes, Blindheit etwa ist das Auge (die bleibende Substanz),
; insofern es nicht sehen kann. Begreiflicherweise ist diese An-
i schauung tödlich für die Transsubstantiationslehre. Durch die
Gotteslehre (Unmöglichkeit einer wirklichen Erkenntnis Got-
; tes, die göttlichen Attribute nichts als Begriffe, nicht die gött-
! liehe Wesenheit selbst), Trinitätslehre (relatio in Deo non
realiter distinguitur), Erlösungslehre (dic-nur-Angemessenheit
der unio hypostatica), Gnadenlehre (willkürliche Anordnung
Gottes, Auflösung der Sünde in ein quid nominis, sie ist keine
t Sache, die Gerechtigkeit eines Werkes liegt nur in der aeeeptatio
von seiten Gottes), Sakramentenlehre (die Sakramente sind
' keine Instrumentalursachen der Gnade) und Eschatologie (An-
, zweiflung der Übernatürlichkeit der Auferstehung) hindurch
; wird eine einheitliche Grundanschauung Ockhams zur Darstellung
gebracht.

Normiert der katholische Verfasser sein Urteil an Thomas

j von Aquino, so legen sich dem Nichtkatholiken andere Gedan-

i kengänge nahe. Man spürt etwa die Prolegomena des Kritizismus
von Kant, spürt vor allen Dingen Voraussetzungen der

j Gedankenwelt Luthers, in der Frage des deus absconditus oder
in der von Holl herausgearbeiteten Vorstellung, daß Gott von

! Ewigkeit her alles sieht, was er selbst zukünftig einmal schaffen
will, wie der Künstler im Marmorblock das vollendete Kunst-

j werk sieht (z. S. 82) u. a. Wiederum wird Zwingli lebendig
in dem skotistischen Gedanken: eine geschöpfliche Ursache kann

j keine göttliche Wirkung haben. Jedenfalls kann man Alles
in Allem bei Ockham nicht von einem „Überwuchern des
Artistentums" sprechen, wie es in einem speziellen Falle Ehrle
tun konnte (S. 102). — S. 131 Mitte ist leider an wichtiger

i Stelle der Text in Unordnung.

Heidelberg W. Köhler

' Papsturkunden in Frankreich. Neue Folge, Band 4 : Picardie (hrsg.
und bearbeitet) von Jobannes Ramackers. Göttingen : Vandenhoeck &
Ruprecht 1942. (535 S.) gr. 8° = Abh. d. Akad. d. Wiss. zu Göttingen.
Piniol.-hist. Kl. Folge 3, H. 27. . RM 34—.

Über die drei ersten Bände der in Frankreich als Vorar-
| beit zu einer Gallia Pontificia gesammelten älteren Papsturkun-
I den haben wir in dieser Zeitschrift berichtet (Bd. 1: Champagne
und Lothringen, bearb. von Herrn. Mein er t — Theol. Lit. Ztg.
1933 Nr. 19, Bd. 2: Normandie bearb. von Johannes Ramackers
— 1939 Nr. 2 und Bd. 3: Artois, bearb. von demselben
— 1941 Nr. 1/2). Der Bearbeiter nimmt in seiner Einleitung
an, daß er mit dem vorliegenden Bande nicht am
Ziele seines Bemühens, wohl aber an dem durch den Krieg
gesetzten Ende seiner Möglichkeiten angelangt sei. Schon bei
der Vorlage des letzten, den Artois behandelnden Bandes,
durfte man füglich fragen: was ist nun noch erhalten?
I Welche Archivaufnahme besteht noch 'zu Recht? Diese Frage
I erhebt sich heute gegenüber der Picardie in verstärktem Umfange
. Was von den eigentlichen kriegerischen Ereignissen zwischen
Frankreich und Deutschland verschont geblieben war,
das steht unter der täglich erneut aufsteigenden Gefahr der
britischen Fliegerangriffe auf das besetzte Frankreich. Was von
den im Lande verstreuten Archivalien nicht rechtzeitig in Sicherheit
gebracht war, das wird kaum noch vorhanden und oft
nicht mehr nachweisbar sein. Aber völlig abgesehen von der
Fragwürdigkeit aller Archivinventarisation heute setzt der totale
Krieg mit seinen unerbittlichen Forderungen der gelehrten
Sammelarbeit ein Ende. —

Auch in diesem Bande berichtet der Bearbeiter zunächst
in vertraut gewordener Zuverlässigkeit und Umsicht über die
ausgeschöpften Archive und Bibliotheken und über die beachtlicheren
und reichhaltigeren Quellengruppen, an deren Spitze
die bändereiche Collection de Picardie in der Bibliotheque Nationale
zu Paris steht (S. 39—53). Besonders wichtig sind
■ naturgemäß diejenigen archivalischen Sammelstätten, die nach
französischer Verwaltungspraxis die öffentlich erfaßbaren Archivalien
der ganzen Landschaft in sich vereinigt haben, die Departementsarchive
Somme in Amiens und Aisne in Laon. Unter
den Empfängern der Papsturkunden sind beachtlich an Zahl
und Bedeutung geistliche Anstalten in Abbeville sur Somme,
Bistum, Kapitel und Institute in Amiens, Prämonstratenser
und Augustiner, besonders die von Arrouaise, weiter Citeaux
und die Zisterzienser, z. B. Le Gard und Foigny, sodann Cluny,
Corbie und andere Benediktinerklöster, ebenso das Bistum Laon