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Ausgabe:

1943

Spalte:

261-262

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Minnigerode, Irmtrud von

Titel/Untertitel:

Die Christusanschauung des Novalis 1943

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

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Theologische Literaturzeitung 1943 Nr. 9/10

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philosophischen Anthropologie heraus die Befreiung des Menschen
aus dem tierischen Dasein als die wahre Vollendung
der Weltgeschichte erwartet. Vor allem den „Hochreligionen"
ist es nach dem Verfasser zuzuschreiben, daß die Fortschritts-
idce über die Kreislaufidee hinsichtlich der Oesamtdeutung der
Geschichte den Sieg davon getragen hat. Kern der Fortschritts-
geschichte aber ist die Geistesgeschichte; denn „Geist und
Fortschritt bedingen sich gegenseitig aufs innigste" (17). Die
Geschichtswissenschaft der Renaissance säkularisiert den Ent-
wicklungsgedanken und die Kulturnhilosophie der Aufklärung
erkämpft der Geistesgeschichte endgültig ihre Autonomie gegenüber
der politischen Geschichte. Klassik und Romantik,
für die man einen zusammenfassenden Namen brauchte (38),
werden gleichwohl nur in ihren einzelnen Vertretern gewürdigt
: wobei ich heraushebe, daß das „Klopstockische Weltbild"
als eine einzigartige und nie wieder erreichte „Synthese von
Antike, Christentum und Germanentum" gerühmt wird. Die
moderne Kulturplülosophie endlich sichert dem Menschen die
Schlüsselstellung und weitet ihr Blickfeld über die ganze Erde
aus. Auch hier aber beschränkt sich die Darstellung auf
eine fragmentarische Ausdeutung einzelner Denker von Comte
bis Spengler. Den Beschluß macht dann eine allgemeinere
Betrachtung, die wiederum unter unverbindlicher Nennung
vieler Namen die eingangs mitgeteilte Geschichtsprognose begründet
.

Wenn man trotz der zur Schau gestellten Gedankenfülle
weder im Ganzen noch im Einzelnen sich zur Stellungnahme
und Kritik herausgefordert findet, dann liegt es daran, daß der
Verfasser wohl urteilt, aber kaum begründet, und daß er bis
in die äußere Formung lünein sich mit flüchtiger Skizzierung
begnügt.

„Daß — bei Spengler — ein weniger sensationeller Titel auch
weniger mißverständlich, allerdings auch weniger sensationell gewesen
wäre" (11), ist eine Binsenwahrheit. Daß „ein Blick auf . . .
Vico" ,.widerlegen" könne, daß Leibniz der „Schöpfer des Ent-
wicklungsgedankens" sei, dürfte dagegen ein Binsenirrtum sein, weil
Leibniz nicht gut 10 Jahre nach seinem Tode von Vicos Neuer Wissenschaft
Kenntnis nehmen konnte (25). Dal! Turgot „vielleicht
Vicos geniale Visionen gekannt hat" (29), hilft uns ebensowenig
weiter, wie wenn mit Bezug auf Hamann orakelt wird: „Man müßte
wissen, ob er Vico gekannt hat" (42). Zu „bedauern", daß Wieland
„nicht mehr in der Art seiner sog. Vermischten Schriften geschrieben
hat" (42), kommt ebenso post festum wie die Klage, daß
Herders „Ideen" ,,leider nur bis zum Ausgang des Mittelalters"
reichen (45). Während man „den viel überschätzten Rousseau . . .
mit Unrecht" in dieser Skizze „vermissen" würde (37), soll Herder
, „der selbständigste und persönlichste deutsche Geschichtsdenker
nach Seb. Franck ... vor allem durch . . ■ Rousseau beeinflußt"
sein (43). Daß Herder „den Apriorismus Kants . . . überwunden"
habe (44) dürfte nicht weniger abwegig sein als die Behauptung,
daß Kants „Bedeutung ja vielmehr in seiner Naturphilosophie als in
seiner weit überschätzten und sehr anfechtbaren Erkenntnistheorie"
liege (47 f.); von deren „Hauptgedanken" der Verfasser übrigens überzeugt
ist, daß sie „von Locke und Hume stammen" (ebenda). Und
auch das dürfte ein unverantwortliches Apercu sein, wenn von dem
„Gcsamtwerk W. v. Humboldts" gesagt wird, daß es „im Grunde
nicht viel Neues bringt und im ganzen etwa« farblos und zerstreut
ist" (48). Ich glaube, daß diese vermehrbare Liste ausreichend belegt
, warum es unfruchtbar ist, in eine verantwortliche Auseinandersetzung
mit diesem Buche einzutreten.

Bremen H- Knitter in eyer

Minnigerode, Dr. Irmtrud von: Die Christusanschauung des
Novalis. Berlin: Junker U. Dünnhaupt 1941. (129 S.) gr. 8° =
Neue dt. Forschungen. Abt. Religions- u. Kirchengesch. Bd. 8—
Bd. 284 d. Gesamtreihe. RM 5-80-

Es handelt sich bei dieser Arbeit um einen wertvollen
Beitrag zu dem sehr schwierigen Religionsverständnis der
deutschen Romantik, zumal Novalis, wie Eichendorff mit Recht
sagt, , die ganze innere Geschichte der modernen Romantik,
ihre Wahrheit und ihren Irrtum . . . darstellt oder andeutet."
Verf. versucht im Anschluß an Obenauer bei Novalis ein
esoterisches, spiritualistisches Christentum herauszuarbeiten. Sie
versteht den Dichter als einen großen mystischen Christen
(S. 3). Darüber hinaus vermag die Arbeit durch ihre positive
Würdigung des romantischen Christentumsverständnisses nicht
nur den religiösen Reichtum bei Novalis selber, sondern überhaupt
in der deutschen Mystik und Theosophie herauszustellen.

Die entscheidende Wende im religiösen Denken des Novalis
erfolgt nach einem bestimmten Erlebnis am Grabe seiner Braut.
In dieser Erfahrung erschließt sich ihm mit der Gewißheit
der Auferstehung ein neues Wirklichkeitsverständnis. Trachtete
er zuerst in seinem Schmerz darnach, der Welt zu entsagen
und der Geliebten nachzusterben, so wendet er sich unter
dem Eindruck, daß der Tod die Liebe nicht zu trennen vermag,
wieder den irdischen Pflichten und Anforderungen zu. Nach
: einer sehr eingehenden Untersuchung des gesamten hinterlas-
senen Werkes des Dichters, besonders der geistlichen Lieder
; kommt Verf. zu dem Ergebnis, daß es sich bei Novalis um eine
dreifache Christusauffassung handelt: „Im theogonischen „Prozeß
", In der einheitlichen Götterentwicklung, wie sie die „Hymnen
" beschreiben, ist die Christgeburt eine Wiederkehr der
; alten Naturgötter im individuellen Menschen, die Wandlung
I der „magischen" Gottheit in die „moralische" Gottheit. Im
anthropogonisclien Prozeß, der mit der Götterentwicklung pa-
: rallel gehend gedacht wird als Entwicklung des menschlichen
. Bewußtseins, ist Christus das Prinzip der Gottebenbildliclikeit,
i das das Selbstbewußtsein des Menschen vollendet. Im kosmogo-
. nischen Prozeß ist Christus als der/.oyo;. der „Mittler der Mit-
I telwelt das Pantheismus" das naturerlösende Prinzip, das
ans dem Menschen heraus wirkend diesen zum „Messias der
Natur" macht." (S. 125) Verf. weist auf die innere Obereinstimmung
dieser Gedanken mit der Mystik hin, in der auch
i die Hilfsbedürftigkeit Gottes und die enge Verwiesenheit des
j Geistigen auf das Leibliche gelehrt werden. In diesem Zu-
j sammenhang müßte allerdings die Erlösung durch das Mora-
j iische stärker in Verbindung mit Hemsterhiüs gesehen werden,
I den Novalis sehr eingehend studiert hat.

Besonders bedeutsam ist bei der Christusauffassung des
j Novalis das Neuverstehen des Mittlergedankens sowohl für das
| Natur- wie auch für das Religionsverständnis. Daß es sich
bei'der Grabesvision um ein Christuserlebnis handelt, das in
' seiner vermittelnden Bedeutung sehr verschiedenen Svmbolaus-
I druck annehmen kann, ist in seiner grundsätzlichen Bedeutung
zu wenig berücksichtigt worden. Das Auferstehungserlebnis
, eröffnet dem Dichter in gleicher Weise die Gemeinschaft mit
I der Geliebten, mit Gott und mit Christus. Für sein Reli-

■ gionsverständnis ist aber neben diesem persönlichen Erlebnis
im spezifisch religiösen Sinne noch die Begegnung mit Schiller
als formendes Prinzip idealistischer Grundgesinnung
herauszuheben. In dieser philosophischen Linie verdiente auch
die religiöse Denkleistung des Novalis stärker herangezogen
zu werden, wie sie sich besonders in den Fragmenten bekundet
. Er spricht nicht nur davon, daß Christus der Schlüs-

I sei der Welt ist (S. 54), sondern bezeichnet auch die intel-
lektuale Anschauung als den Schlüssel des Lebens (2.350,
186). Flinter solchen philosophischen Erkenntnissen verbirgt
sich ein synthetisches Denken, das auf die Grundbeziehungen
von Denken und Leben, von Glauben und Denken tfhd von
Denken und Lieben in sehr charakteristischer Weise aufgebaut
ist, und das seinerseits ohne den christlichen Mittlergedanken
unmöglich ist. Das Denken des Novalis ist ebenso wie seine
gläubige Lebensgestaltung nach seinen schmerzlichen Erfahrungen
und mitten in seiner eigenen Erkrankung getragen von
der Gewißheit, daß die Grundunterschiede zwischen Gott und

| Welt, zwischen Tod und Leben, zwischen Sünde und Begnadung
von der Versöhntheit Gottes aus spannungsvoll zusam-
mengeschaut werden dürfen. Nach dieser philosophischen Seite
hin dürfte das tief umgreifende Bild vom Christusverständnis
des Novalis noch nachgezeichnet werden.

Jena Heinz Erich E i s e n h u t h

J a h n, Dr. Gerta: Das Problem des geistigen Menschen bei Ernst
Moritz Arndt. Dresden: M. DittertftCo. 1941. (101 S.) 8°. RM 2.50.

Di« neue vertiefte Beschäftigung mit der Gestalt
und dem Werke E. M. Arndts in den letzten Jahren
ließ immer deutlicher die Sonderstellung hervortreten.,
! die Arndt im Denken seiner Zeit einnimmt. Zur Klärung
| seines Verhältnisses zu den geistigen Strömungen um
die Wende des 18. und 19". Jahrhunderts und des
; Problems des geistigen Menschen überhaupt, wie es sich
bei Arndt darstellt, untersucht die vorliegende Arbeit
: die große Teile seiner zeitkritischen Schriften einneh-
i mende Auseinandersetzung mit den geistig gebildeten
Menschen seiner Zeit, und sie versucht, in engster Anlehnung
an den Text, ein Oesamtbild des geistigen Men-
! sehen zu zeichnen, wie es in historischer Betrachtung,
Zeitkritik und als Ideal zukünftigen Menschentums bei
Arndt entgegentritt. Die Untersuchung beschränkt sich
bewußt auf die in dem Zeitraum von 1802 bis 1813
entstandenen Schriften; sie folgt im besonderen der

■ 1803 erschienenen Schrift „Germanien und Europa"
und den seit 1806 erschienenen vier Teilen des „Geist
der Zeit".