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Ausgabe: | 1943 |
Spalte: | 259 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Mueller, Gustav Emil |
Titel/Untertitel: | Hegel ueber Sittlichkeit und Geschichte 1943 |
Rezensent: | Knittermeyer, Hinrich |
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259
Theologische Literaturzeitung 1943 Nr. 9/10
der Werte ohne absoluten letzten solchen nicht überwunden
hat. Von da aus bekommt das ganze den Charakter
eines Räsonnements „rund um die Ethik", das
vielleicht im einzelnen mannigfach anregt, aber keine
abschließende Klarheit über das Entscheidende schafft.
Das ganze bewegt sich in der Horizontale weit in die
Breite, aber ihm fehlt die Tiefe des Vertikalen. Es ist
getragen von dem nicht sehr tiefgründigen Sowohl-als-
auch und noch dies und jenes der Vergangenheit. So
weiß das scharfe Entweder-oder von heute nur bedingt
etwas mit ihm anzufangen, ja, muß die Grundposition
geradezu ablehnen.
Berlin A. F. Stolzenburg
Müller, Prof. Gustav E.: Hegel über Sittlichkeit und Geschichte.
München: Ernst Reinhardt ig40. (100 S.) 8°. RM 2.50.
Man darf den schon erprobten Bemühungen Müllers um
Verständlichmachung der Hegelschen Philosophie seinen Beifall
geben, auch wenn die ,,Skepsis Im Hintergrund", ohne die
nach des Verfassers Meinung Hegel heute nicht wohl erneuert
werden kann, nur gelegentlich gegenüber einzelnen rechts-
und geschiclitsphilosophischen Thesen sich geltend macht. Das
Büchlein bietet im ganzen eine selbstlose Wiedergabe der
Hegelschen Ethik, in einer Sprache freilich, die fast zu wörtlich
ihrem großen Vorbild folgt, um als Übersetzung den erstrebten
Dienst leisten zu können. Auf alle Fälle aber wird
der Leser sich überzeugt finden, daß die weitverbreitete Meinung
, Hegels System ermangle des Kontrapunktes einer wirklichen
Ethik, gründlich an dem Tatbestand vorbeisieht. Für den
Theologen wird es besonders ratsam sein, nicht nur durch
Schleiermacher sich über den Formalismus des Sollens hinausführen
zu lassen, sondern auch der Entfaltung der ,,konkreten
Sittlichkeit" nachzugehen, wie Hegels Phänomenologie und
Rechtsphilosophie in kühnem und weitgespanntem Aufriß sie
sichtbar machen. Zur Einführung in die dabei in den Blick
tretenden Probleme kann man sich keinen besseren Wegweiser
wünschen, als dies besonnene und wohlgegliederte Büchlein.
Bremen H. Knitter in eyer
PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE
We n ts ch er, Dr. phil.h. c. Else: Relative oder absolute Wahrheit?
Eine Studie. München: Ernst Reinhardt 1941. (79 S.) gr. 8°. RM 2.40.
Die Verfasserin, der wir schon manches kluge Buch verdanken
, hat sich die Aufgabe gestellt, den Relativismus im
philosophischen Denken in seinen verschiedenen Äußerungen
und inneren Begründungen zu erfassen und zu überwinden.
Ein Längsschnitt durch die Geschichte der Philosophie führt
uns von der griechischen Sophistik (Protagoras) über die
Skepsis eines Michel de Montaigne hin zu den englischen
Empiristen und Positivisten des 18. und IQ. Jahrhunderts.
Neben dem grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit einer
allgemeingültigen Wahrheitserfassung finden wir in dieser
Reihe die Überzeugung: alle letzten sittlichen Werte entstammen
entweder der Macht der Gewohnheit, der Nützlichkeitsreflexion
oder einem starken momentanen Lustaffekt. Da der
Mensch als eine eitle, nichtig-vergängliche Größe betrachtet
wird, erscheinen auch seine Wertsetzungen als wandelbar und
fragwürdig. Aus der neueren Philosophiegeschichte werden
Nietzsche und der amerikanische Pragmatismus als Beispiele
genannt. Nietzsche hält falsche Urteile für unentbehrlich, wenn
sie nur lebensfördernd sind. Das biologische Denken triumphiert
über die streng-logische Klarheit. Für W. James ist der
Maßstab für den Wert einer Idee ausschließlich ihre Nützlichkeit
und Brauchbarkeit im Blick auf das praktische Handeln.
Es ist eine ,.Logik des Erfolgs", die nur auf den ,,Barwert der
Wahrheit" reflektiert und diese damit vollkommen relativiert.
Unter den Denkern der Gegenwart hat sich besonders Hans
Leisegang zu der Position des Relativismus bekannt. Leisegang
meint: „Der ärgste Feind der Philosophie ist ihre Geschichte".
Eine Schule behauptet das Gegenteil von der andern. Trotz
alles Forschens läßt sich eine Einigung in den wichtigsten
Fragen nicht erzielen. Die Erklärung für diese widersprüchliche
Situation findet Leisegang in seinem Buch: „Denkformen"
'(Berlin 1928) in der Lehre von den logischen Typen. Menschen
gelangen je nach ihrer geistigen Struktur und Umwelt
zu verschiedenen Erkenntnissen und daher auch zu verschiedenen
Wahrheiten. Es gibt nicht eine Wahrheit, es gibt nur
Typen des Denkens. Relativistisch mußte sich auch der moderne
Historismus auswirken. Wenn das Dasein als ununter-
j brochener Strom des Werdens erkannt ist, dann scheint auch
I die Wahrheit der Entwicklung und Veränderung unterworfen.
In dem Sinn hat Dilthey einmal erklärt: „Die Ausbildung
des geschichtlichen Bewußtseins zerstört gründlicher noch als
der Uberblick über den Streit der Systeme den Glauben an
die Allgemeingültigkeit irgend einer Philosophie". Die letzten
j Konsequenzen in dieser Richtung hat Oswald Spengler ge-
I zogen. Für ihn gibt es Wahrheit immer nur in Bezug auf ein
bestimmtes Kulturzentrum und Menschentum. Jedes Seelen-
tum hat seinen eigenen, ihm absolut dünkenden Wahrheitsgehalt
.
Die Überwindung des Relativismus wird in der vorliegenden
Arbeit in einer dreifachen Richtung versucht. Das erste Argument
, das seit Alters gegen Skeptizismus und Agnostizismus
ins Feld geführt wird und das auch hier wiederkehrt, lautet
folgendermaßen: wenn alles relativ ist, dann muß auch die
Überzeugung von der Relativität der Wahrheit unter dem glei-
i chen Vorbehalt gesehen werden, dann darf der Relativismus
sich selbst nicht als absolute Wahrheit setzen. Damit aber
wird die ganze Theorie ad absurdum geführt. So überzeugend
diese Argumentation auch ist, man kann dadurch vielleicht
skeptisch werden gegenüber seiner eigenen Skepsis, aber es
ist auf diese Weise noch nie ein Mensch aus der Drehkrankheit
des Denkens zum Ergreifen der absoluten Wahrheit geführt
worden. Es wird darum eine zweite Erwägung hinzugefügt
. Mag uns der Wandel menschlicher Meinungen und Werte
noch so sehr beruhigen, es gibt doch gewisse absolut gültige
Wahrheiten, die kein vernünftig denkender Mensch antasten
kann. Als solche unerschütterlich feststehende Wahrheiten werden
genannt die Grundbedingungen des logischen Denkens.
Dazu gehören der Identitätssatz, der Satz des Widerspruchs,
das Kausalgesetz, die grammatikalischen Gesetze und gewisse
naturwissenschaftliche Tatsachen. Das Gegenteil dieser Denknotwendigkeiten
Ist undenkbar. Wir stehen also hier auf festem
Grund, der für jedermann zu jeder Zeit gleich verbindlich
bleibt. Der Anhänger des Relativismus wird gegen die Gültigkeit
dieser logischen Denkgesetze gewiß nichts einwenden.
Er wird sich bei der Beweisführung seiner eigenen Gedankengänge
dieser Denkgesetze selbstverständlich bedienen. Da es
sich dabei aber nur um rein formale Denkgesetze handelt,
kann mit ihrer Hilfe eine absolute Wertwahrheit niemals begründet
werden. Gerade die Gewinnung solcher letzter Wertwahrheiten
aber wäre das eigentlich Entscheidende für das Gemeinschaftsleben
eines Volkes und für die Lebensgestaltung
eines jeden einzelnen Menschen.
Die Verfasserin hält es darum selbst für notwendig, noch
einen dritten Weg zur Überwindung des relativistischen Denkens
aufzuzeigen. Sie bekennt sich mit deutlicher Sympathie
zu den Gedankengängen der Wertphilosophie von Lotze, Scheler
und Nikolai Hartmann. Es gibt letzte, unwandelbare Werte,
den Wert der Güte und der Selbstlosigkeit, der die egoistischen
Interessen überwindet, und den Wert der Ehrfurcht vor dem
Göttlichen. Aus dem Postulat heraus, daß das Leben einen
Sinn haben muß, wird Gott zuletzt als der ewige Grund der
Wahrheit ergriffen. „Dieser Glaube, mag man Ihn philosophisch
oder religiös ausdeuten, ist der Fels, an dem jeder
Relativismus zerschellt" (S. 65). Es bleibt dabei nur die
Frage völlig ungelöst, wie man einem relavistischen Skeptiker
diese postulierte Oottesgewißheit evident machen soll. Nach
christlicher Überzeugung wird die Pilatusfrage: Was ist Wahrheit
? allein dadurch gelöst, daß uns die Wahrheit als Per-
! son begegnet. Es ist der Verfasserin bei ihrem Gang durch
j die Geschichte der Philosophie aufgefallen, daß die Philosophie
so lange keine Skepsis kennt, als sie als christliche Philosophie
im Abendland in Erscheinung tritt. Diese Beobachtung sollte zu
! denken geben. Die Arbeit, die schon allein durch ihren reichen
I Stoffgehalt wertvoll ist, versucht mit den Waffen der Logik,
j der Ethik und der religiösen Sehnsucht die Krankheit des Re-
j lativismus zu überwinden. Auch wer das eigentliche Heilmittel
: gegen diese Not zuletzt nur in Joh. 14,6 finden kann, wird
doch dankbar aus dieser Studie lernen können.
Tühingen Adolf K ö b e r 1 e
Schaller, Heinrich: Die europäische Kulturphilosophie. München
: Ernst Reinhardt 1940. (130 S.) gr. 8° = Kulturgesch. Europas
Bd. VI. RM 5.80.
Die Betrachtungen Schallers zur europäischen Kulturphilo-
I sophie bieten gleich seinen früheren Studien zur Oeisfcsge-
schichte des Abendlands eine Fülle anregender Einfülle und Vergleiche
. Sie stiften Beziehungen, die eine ausgebreitete Belesenheit
verraten, und denen nachzusinnen ohne Zweifel Gewinn
bringt. Es ist wirklich eine europäische Gesinnung, die
hier sich bezeugt und die aus den Voraussetzungen einer