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Ausgabe:

1942

Spalte:

162-163

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Bechthum, Martin

Titel/Untertitel:

Beweggründe und Bedeutung des Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters 1942

Rezensent:

Schneider, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1942 Nr. 5/6

162

ist. Die vorliegende Arbeit über die Mantelschrift, die
Tertullian verfaßt hat, als er nach dem Beispiel von
Philosophen, Dichtern und Rhetoren statt der römischen
Toga das griechische Pallium angelegt hatte, wurde vom
Genter Latinisten P. van de Woestijne angeregt.

üerlos Werk präsentiert sich als soliden, mit philologischer
Akribie gearbeiteten Beitrag, der wohl geeignet
ist, in das Verständnis der kürzesten, jedoch anerkanntermaßen
schwierigsten Schrift Tertullians einzuführen.
Tertullian, der Schöpfer der altchristlichen Literatursprache
, gilt bekanntlich als derjenige lateinische Autor, der
den Übersetzer und Erklärer ohnehin vor die verwickelt-
sten Fragen stellt. Seit dem Erscheinen der Textausgabe
des großen Humanisten Cl. Salmasius (1622), der ein
ungewöhnlich umfangreicher Kommentar beigegeben wurde
, hat sich niemand mehr mit der gleichen Liebe und
Gründlichkeit mit der kurzen eben so interessanten wie
meikwürdigen Flugschrift des heißblütigen Afrikaners
beschäftigt.

Das 1. Heft bringt die Prolegomena (S. 1 —53) und
bietet einen neuen kritischen Text, dem eine niederländische
Übersetzung beigegeben ist (S. 55—103). Wir erhalten
in übersichtlicher Disposition alle wünschenswerten
Auskünfte über die handschriftliche Überlieferung
und die bisherigen Ausgaben und Übersetzungen; dazu
kommt eine knappe Orientierung über den Inhalt und
Zweck der Schrift, und wir werden ebensogut über die
Quellen wie die Abfassungszeit des Libells unterrichtet.
Instruktive Wortlisten veranschaulichen die sprachliche
und stilistische Sonderstellung des Werkchens. Der Verf.
hat die zahlreichen Vorarbeiten vollständig und gewissenhaft
benützt. So erhalten wir zugleich auch einen guten
Überblick über den Ablauf und den heutigen Stand der
Forschung. Auch wenn G. erklärlicherweise die seit Generationen
diskutierten Fragen nicht in ausführlichen
eigenen Untersuchungen erneut zu klären versucht, ist
die gebotene Übersicht, die oftmals gutes kritisches Urteil
verrät, dankenswert.

Die vor kurzem von J. Marra, Torino 1932, und
nochmals 1937 (diesmal mit Kommentar) veranstaltete
Textausgabe bedeutete einen anerkennenswerten Fortschritt
über die Edition hinaus, die Oehler 1851 (I 911
bis 956) besorgt hatte. Gerlos textkritische Bemühungen
haben uns wieder einen Schritt vorwärts gebracht. Bereits
durch die Forschungen von Aem. Kroymann wurde die
Frage der handschriftlichen Überlieferung dahin geklärt,
daß unter den 13 Codd., die sämtlich dem 15. Jahrhundert
angehören, zwei Zweige zu unterscheiden sind, die
einander ergänzen und korrigieren. Der eine dieser
Zweige ist nur durch eine einzige Handschrift vertreten
(Cod. Florent. Magliab. VI 9). G. hat diese Hs. seiner
Ausgabe zugrunde gelegt und in seinen Apparat neben
Emendationen früherer Editoren die Varianten von 3 Mss
(Florent. Cod. Magliab. VI 10, Leidensis B. P. L. 2, Vin-
dobon. 4194) geboten. Eine gewissenhafte Überprüfung
der Hss. ergab, daß J. Marra zumal bei der erstmaligen
Heranziehung des wichtigen Cod. Magliab. VI 9 sehr
oberflächlich und nachlässig zu Werke gegangen ist. Solange
nicht der im CSEL noch ausstehende Tertullian-
band vorliegt, der wohl noch einen vollständigeren kritischen
Apparat bringen wird, besitzen wir in der vorliegenden
Ausgabe die beste kritische Textform. Gerlo
datiert mit der Mehrzahl der Forscher die Abfassung
der Schrift in die Jahre 208/211. Entscheidend ist für
ihn die im Kap. 2,7 (Deel 1 70; vgl. Deel II 66) zu
lesende Bemerkung von der „praesentis imperii triplex
virtus", die er, wie üblich, auf die gleichzeitige Herrschaft
des Septimius Severus und seiner Söhne Caracalla
und Geta deutet (S. 37—45). Man wird ihm hier folgen
dürfen, auch wenn man sich bewußt bleibt, daß die Argumente
, welche für diesen Zeitansatz ins Feld geführt
werden, nicht absolut durchschlagend sind. Zum Beweise
hierfür mache ich auf die Ausführungen von J. Klein,
Tertullian Christliches Bewußtsein und sittliche Forderungen
. Ein Beitrag zur Geschichte der Moral und ihrer

Systembildung, Düsseldorf 1940, 252 -268 aufmerksam,
der in selbständiger Untersuchung mit zum Teil neuen
Gesichtspunkten für die besonders von H. Kellner ver-
fochtene Datierung: 193 erneut eintritt.

Der umfangreiche Kommentar, welcher uns im 2. Teil
des Werkes geboten wird, macht den Hauptwert der Publikation
aus. Fortlaufend werden die einzelnen Worte

und Gedanken Tertullians in sprachlich-stilistischer und
historisch-sachlicher Hinsicht ausführlich und zuverlässig
erklärt. Hier ist das reiche Material, das in den letzten
Jahrzehnten besonders auf sprachlich-stilistischem Gebiet
erarbeitet wurde, vollständig ausgewertet und, durch

j manche neue Beobachtungen ergänzt und übersichtlich ge-

j ordnet, dem Forscher zur bequemen Benützung bereitgestellt
. Aus dem nicht herangezogenen Werk von A. Beck,
Römisches Recht bei Tertullian und Cyprian 1930, hätte
G. noch weitere nützliche Anregungen empfangen können
. Ausgezeichnet gearbeitete Indices sind dem Werk

; beigegeben. Wir können dem Verf. der Erstlingsschrift
für seine saubere und fleißige Arbeit dankbar sein.
Hoffentlich wird diesem Werk, trotz der Ungunst der
Zeiten, wenigstens in unseren großen Bibliotheken ein
Plätzchen gewährt werden.

Breslau Berthold A 1 t a ii e r

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELA I.TER

Bechthum, Dr. phil. Martin: Beweggründe und Bedeutung des
Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters.

Jena: Gustav Fischer 1941. (199 S.) gr. 8° Beiträge z. mittel-
alterl. neueren u. allgem. Gesch., hrsg. v. Friedrich Schneider,
Bd. 14. RM 7.50.

Der Verfasser hat ein Thema behandelt, das weithin
als ein wertvoller und gelehrter Beitrag zur geistigen
Geschichte des Mittelalters anzuerkennen ist. Es ist ein
sehr weitgespanntes Gebiet, das von der christlich-asketischen
Peregrinatio, dem germanischen Wandertrieb und
dem antiken Mimus ausgeht. Über das Vagantentum des
frühen Mittelalters ist keine zusammenhängende Darstellung
vorhanden, sodaß B. mit Augustins Klagen über
mönchische Landstreicher beginnt und dann über Konzilsbeschlüsse
, Caesarius von Arles und andere Quellen
zu dem Ergebnis kommt, daß Italien das Eldorado der
fahrenden Kleriker blieb, wobei besonders Gottschalk
von Sachsen gewürdigt wird und in neuem Lichte erscheint
. Das Vagantentum wird dann in einzelnen Abschnitten
vom 10. bis zum 13. Jahrhundert verfolgt mit
wertvollen Erkenntnissen aus den literarischen Quellen

1 und eingehender Würdigung des Vaganten-Goliardenpro-

I blems, mit einer Fülle von Belegen über die Herkunft

j des Namens goliardi oder goliardenses und der Feststellung
, daß Goliarden Angehörige einer sozial und
moralisch tief stehenden Gruppe von lateinisch gebildeten
Fahrenden sind. Als wichtigsten Grund für das besondere
Aufblühen des Vagantentums im Hochmittelalter
erkennt B. das Aufkommen und die Organisation der
mittelalterlichen Universitäten und bietet dafür zahlreiche

1 Unterlagen. Die Vaganten waren (neben Elementen von
geringem Wert) oft studierte Kleriker von hoher Bildung

! und vielfach bedeutender poetischer Begabung, wobei
sich B. der Charakteristik von Hennig Brinkmann mit
einiger Einschränkung anschließt. Vor allem kommt es
B. darauf an den Begriff „Vagantendichtung" endgültig
zu klären, der am besten auf Trink-, Bettel-, Spiel- und
Liebeslieder sowie auf gewisse Satiren und Parodien zu
beschränken ist. Als die hervorragendsten unter den
Vaganten werden nächst Abaelard immer wieder Magister
Hugo von Orleans, Walter von Chatillon, Walter
Map, Heinrich von Avranches und der deutsche Archi-
poeta erwähnt.

Den gelehrten Anmerkungen fügt sich ein Schriften-

[ Verzeichnis bei, das die in- und ausländische Forschung
berücksichtigt und als eine wahre Fundgrube anzuspre-

I chen ist. Den Schluß bildet ein Verzeichnis der wichtig-