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Ausgabe:

1942

Spalte:

148-149

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Die griechische Literatur zur Zeit der attischen Hegemonie nach dem Eingreifen der Sophistik : 1. Hälfte 1942

Rezensent:

Bultmann, Rudolf

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T heologische Literaturzeitung 1942 Nr. 5/6

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Grund einer umfassenden und gründlichen Kenntnis der Quellen und
im Einzelnen mit wohlhegründetem selbständigen Urleil.

Im Blick auf das Thema kann man freilich fragen, ob der Aufbau
wirklich der Sache angemessen ist. Der Verf. wollte die Entwicklung
nicht an der Hand der sachlichen Probleme bzw. der „verschiedenen
Gebiete der Erkenntnis" zeichnen, sondern hat es vorgezogen
, die Darstellung „nach Personen als den Tragern der neuen
Gedanken und Anschauungen" anzuordnen. Seine Gründe dafür können
schwerlich tiberzeugen. Denn daß zufolge der gewählten Anordnung
viele Wiederholungen n i c h t vermieden werden konnten,
zeigt sich zur Genüge. Und daß bei einer nach sachlichen Fragen
disponierten Ordnung die ,,einheitliche Kraft" der Leistungen der ;
großen Persönlichkeiten nicht recht zur Geltung gekommen wäre,
scheint mar nicht richtig zu sein; ich glaube das Gegenteil. So enthält
nun das Buch viel interessanten biographischen Stoff; es enthält
bedeutsame lkerargeschichtlichc Untersuchungen; und es ist anzuerkennen
, daß all das dem Buche als Kompendium zugute kommt.
Aber darüber tritt der Gang der Problemgeschichte zurück. So wichtig
unter literargeschichtlichem Gesichtspunkt i. B. die Ausführungen
über die zeitliche Ansetzung von rbq deptov, ftAuturv, tojicov (S. 223
bis 225) oder von ,-rep't iepi|C VÖOOV (S. 230—233) sind, oder
etwa die Diskussion der Antiphonfrage (S. 394—400), — für das
Thema tragen sie doch wenig aus. Umgekehrt: wer über sachliche
Probleme wie etwa das Verhältnis von cpüotc und v6|u>S oder qnfrjtg
und iiuiötTu Auskunft sucht, der muß sich das Zusammengehörige
aus den verschiedenen Abschnitten zusammensuchen, wobei ihm frei- !
lieh das vorzügliche Register guten Dienst tut.

Überhaupt aber — und das ist mein Hauptbedenken
— führt der Verf. nicht bis zum eigentlichen Verständnis
der in dem Thema „Vom Mythos zum Logos" angezeig- |
ten Problematik. Sowohl den Mythos wie den Logos i
scheint mir der Verf. in einer nicht erschöpfenden Weise
in den Blick zu fassen. Wenn er auch im Anfang my- i
thisches Vorstellen und logisches Denken als Gegen- j
sätze bezeichnet, so erscheint doch dieser Gegensatz in
seinen Ausführungen als ein nur relativer, insofern für
den Verf. das mythische Vorstellen nur ein primitives
Denken ist, das durchaus über die Kategorie der i
Kausalität verfügend — die gleichen Objekte hat wie das
rationale Denken, nämlich die „Wirklichkeit", die „äußere
und innere Welt" des Menschen. Es ist verständlich, 1
ja selbstverständlich, daß das mythologische Denken im
Laufe der Zeit dem rationalen weichen muß, solange
man nicht bedenkt, daß das eigentliche Problem darin ;
steckt, worin jeweils die „Wirklichkeit" gesehen wird.
Wissenschaftliches Denken ist doch nicht nur ein formales
Verfahren, eine Technik; sondern im konkreten
geschichtlichen Vollzug des wissenschaftlichen Denkens
ist immer schon ein Vorbegriff von dem, was als „wirklich
" zu gelten hat, vorausgesetzt. Nach dem Begriff
von Wirklichkeit oder nach dem Begriff von Sein, der
in der griechischen Wissenschaft seit ihren Anfängen
vorausgesetzt ist, fragt der Verf. nicht. Deshalb hat er |
auch keinen Sinn dafür, daß es sich im Mythos nicht
primär um eine (primitive) Welterklärung handelt, in
der, wie in der Wissenschaft, die Welt objektiviert wird, !
sondern daß in ihm ein dem rationalen Denken entgegengesetztes
Verständnis von Wirklichkeit steckt. Der
Kampf zwischen Mythos und Logos erscheint aber unter
einem ganz anderen Aspekt, wenn er als der Kampf /wischen
zwei Möglichkeiten, das Sein zu verstehen, gesehen
wird. Dann wird man auch schwerlich sagen können
, daß um 400v.Chr. die Grundlinien für die weitere
Entwicklung des griechischen Geisteslebens festgelegt
waren, und daß alles, was noch folgt, nur die Entfaltung
der Keime sei, die das 6. und 5. Jahrh. in den Boden gelegt
hatten (S. 539). Denn so gewiß durch die Entwicklung
des 6. und 5. Jahrhs. die Fragestellung für
die geistige Arbeit des Piaton und des Aristoteles gegeben
und insofern die Richtung der weiteren Entwicklung
vorgezeichnet war, so wenig ist doch diese Arbeit
einfach als eine Entfaltung der Keime zu verstehen.
Wie offenbar schon bei Sokrates, so kommt jedenfalls
bei Piaton die tiefe Problematik der Entwicklung — j
und gerade hinsichtlich des Verhältnisses von Mythos
Und Logos — zum Bewußtsein. Mit Piaton setzt etwas
Neues ein. Piatons geschichtliche Stellung wird also
anders verstanden werden müssen, als es der Verf. in

den wirklich recht dürftigen Sätzen S. 540 formuliert.
Man stelle daneben die Ausführungen Gerh. Krügers
in dem Buche „Einsicht und Leidenschaft. Das
Wesen des platonischen Denkens" (Frankf. 1939), in
dem die Problematik von Mythos und Logos in ausgezeichneter
Weise dargelegt ist. Es ist klar, daß unter der
rationalistischen Betrachtungsweise des Verf. auch das
Verständnis der Religion leidet. (Zum Verständnis der
„Götterburleske" S. 27ff. 457, vgl. z.B. Paul Friedlän-
ders Aufsatz „Lachende Götter", Antike X, 1932, S.
209 ff.).

So scheidet man von diesem Buche mit zwiespältigem
Gefühl: dankbar für die Fülle des Dargebotenen, und
doch enttäuscht, daß das Ringen von Mythos und Logos
nicht in seiner Tiefe erfaßt ist.

Marburg a. d. Laim Rudolf Bult m B n n

S c h m i d, Wilhelm, und Otto Stählin : Geschichte der griechischen

Literatur. I.Teil: Die klassische Periode der griechischen Literatur
v. W. Schmid. III. Band: Die griechische Literatur zur Zeit der
attischen Hegemonie nach dem Eingreifen der Sophistik, I. Hälfte.
München: C. H. Beck 1040. (XV, 898 S.) gr. S° - Handbuch
der Altertumswissenschaft. Begr. v. Iwan v. AAüller, hrsg. v. Walter
Otto. VII. Abt., I. Tl., 3. Bd. RM 30—; geb. RM 40—.

Der 3. Band der griechischen Literaturgeschichte,
deren erste beide Bände ich hier 1932 Sp. 291 und
1936 Sp. 303 f. angezeigt habe, liegt nunmehr vor. Er
umfaßt die griechische Literatur zur Zeit der attischen
Hegemonie nach dem Eingreifen der Sophistik, freilich
nur deren erste Hälfte. Eine Einleitung handelt über
die politischen und kulturellen Verhältnisse der peri-
kleischen Zeit und ihre schon vor dem Einfluß der Sophistik
sich regenden auflösenden Tendenzen. Es folgen
: I. Die Sophistik. Die Anfänge der Redekunst.
Politische Parteischriftcn; II. Sokrates; III. Die Tragödie
unter dem Einfluß von Sophistik und Rhetorik. Von
der Literatur dieser Epoche stehen also noch aus: die
alte Komödie, der jungattische Dithyrambes, Thukydides,
Demokritos und die hippokratischen Schriften, deren
Darstellung der 4. Band bringen soll. Daß sie im vorliegenden
Bande keinen Platz mehr fanden, liegt vor
allem an der ausführlichen Darstellung des Euripides,
des Dichters, „der seiner kulturellen Wirkung nach nur
mit Homer verglichen werden kann". Ihm sind von den
854 Textseiten des Buches 533 Seiten gewidmet, —
also eine Monographie, die als eine nahezu erschöpfende
gelten kann.

Der vorliegende Band ist wieder eine Leistung, die
höchster Bewunderung wert ist. Ist das Buch als Nachschlagewerk
unentbehrlich und enthält es als solches
einen staunenswerten Reichtum von gelehrtem Wissen,
so bietet es doch zugleich eine geistesgeschichtliche Darstellung
, die man mit größtem Interesse und reichem
Gewinn liest. Die innere Beteiligung, die dem Stoff gilt,
der griechischen Literatur jener für die ganze abendländische
Entwicklung so bedeutsamen Epoche, weiß der
Verf. durch seine Darstellung, der nicht selten Ausblicke
auf die abendländische Geschichte und auf die
Gegenwart eingeflochten sind, lebendig zu machen.

Die Charakteristik der Sophistik, in der von der älteren
Sophistik (Vertreter vor allem Protagoras und Prodikos
) die jüngere Generation der Sophisten und Rheto-
ren (Vertreter vor allem Kritias) scharf unterschieden
wird, ist orientiert an ihrer Bedeutung für den Staat
und seine sittlichen und religiösen Grundlagen. Ein zusammenfassender
Abschnitt liber Entwicklung und Auswirkung
der Sophistik wägt gerecht das Verhältnis ihrer
zersetzenden und ihrer befruchtenden Wirkung ab und
stellt mit Recht fest: „Die Fragestellungen und Kämpfe
jener Zeit haben an Aktualität nicht das mindeste verloren
" (S. 216). Man kann vielleicht fragen, ob das
Motiv des „Fremden" in der Sophistik nicht etwa zu
stark betont ist, zumal die Darstellung des Verf. ja zeigt,
daß gewisse Motive der Entwicklung in der attischen
Geschichte selber liegen. Indessen soll die Kritik hier
zurückgestellt werden.