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Ausgabe:

1942

Spalte:

27-30

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Peters, Curt

Titel/Untertitel:

Das Diatessaron Tatians 1942

Rezensent:

Schneemelcher, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1942 Nr. 1/2

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wolle der Verf. die ersten drei Gruppen bedingungslos
verdammen, so ist das doch keineswegs der Fall. Er
sieht in ihnen wertvolle Ansätze, die zu benutzen lohnt;
und er selbst gibt sich innerhalb einer Untersuchung, die
sich streng auf die Frage nach dem natürlichen Geschichtswert
der Evangelien beschränkt, keineswegs als
reinen Traditionalisten. Seligpreisungen, Vaterunser und
Abendmahlsworte sind in der Überlieferung umgeformt
worden, auch die Geschichten beweisen eine große Freiheit
der Berichterstattung: es sei eben nicht das geschichtliche
, sondern das religiöse Interesse zunächst
maßgebend gewesen. Zum Schluß wird dann unter der
Überschrift „der übernatürliche Geschichtswert der Evangelien
" dem „Credo ut intelligam" sein Recht; dabei
wird von Luther wie von Kant bewußt abgerückt. Ich
hätte zu vielen Bemerkungen des Verf. kritische Gegenbemerkungen
zu machen (Lieblingsjünger = Zebedaide,
Acta um 63 geschrieben); ich könnte aber auch vielem
zustimmen (nicht „noli me tangere", sondern „halte mich
nicht fest"); im Ganzen habe ich den Eindruck, daß das
Büchlein bei seinen Lesern seine Absicht erfüllen wird.
Heidelberg Martin D i b e 1 i u s

Peters, Curt: Das Diatessaron Tatians. Seine Überlieferung: und
sein Nachwirken im Morgen- und Abendland sowie der heutige
Stand seiner Erforschung. Rom: Pont. InstKutum Orientalium Slu-
diorum 1939. (235 S.) gr. 8° = Orientalia Christiana Analecta
123. L. 50—.

Es gehört zu den bedauerlichsten Verlusten von
wichtigen Denkmälern und Urkunden für die Geschichte
der alten Kirche, daß wir von dem Diatessaron Tatians,
dieser merkwürdigen Schöpfung des 2. Jahrhunderts, nur
wenige und teilweise schwer aufzuweisende Spuren und
Reste haben. Ist doch diese Evangelienharmonie sicher
von großem Einfluß in weiten Teilen der Kirche bis ins
5. Jahrhundert und darüber hinaus gewesen. Römer,
Germanen und Araber haben zum Teil aus ihr das Evangelium
kennengelernt, ehe das Vierevangelienbuch das
Werk des „Ketzers" Tatian ablöste. Das Original wird
uns wohl für immer verloren bleiben. Aufgabe der Forschung
ist es nun, diesem verlorenen Original durch Prüfung
aller Überlieferungszweige möglichst nahe zu kommen
. Diese Aufgabe ist aber äußerst schwierig, da es
sich ja meistens um indirekte Überlieferung handelt, d. h.
aus späteren Zeugen muß altes Gut herausgelöst werden
und mit anderen Zeugen verglichen werden, um dann
eine Wahrscheinlichkeit für tatianische Herkunft zu erzielen
. Es ist aber auch eine gefährliche Aufgabe. Denn
allzuleicht gerät man bei dieser Arbeit in Hypothesen
und verläßt den Boden der Überlieferungstatsachen seinen
Hypothesen zuliebe.

Das hier zur Besprechung vorliegende Buch will nun
ein Führer durch die weitverzweigte Überlieferung sein
und den Punkt zeigen „an dem heute die Diatessaron-
Forschung steht". Es soll so „eine schnelle Orientierung
im Gesamtumkreis des Arbeitsgebietes ermöglichen und
die Übersicht über es erleichtern". So will es ein „wegweisender
Führer und beratender Helfer" für alle sein,
die auf diesem Gebiet mitarbeiten wollen. Der Verf. ist
sich darüber klar, daß es verfrüht wäre, heute schon ein
abschließendes Wort oder gar den Versuch einer Rekonstruktion
des verlorengegangenen syrischen Originals zu
veröffentlichen.

Der Verf. gibt in „organischem Zusammenhang" nacheinander
eine Ubersicht über die verschiedenen Materialien, die der Forschung
zur Verfügung stehen: Die arabische Übersetzung des Diat. (S. 19 bis
29). Die altsyrischen Evangelienversionen und das Problem der
Pesitta (29—48). Die arabischen Evangelienübersetzungen und die
Bedeutung der liturgischen Textüberlieferung (48—63). Die Herkunft
und geschichtliche Entwickhing des armenischen Evangelientextcs:
Das Problem einer armenischen Praevulgata und eines armenischen
Diatessaron (63—83). Das Problem der georgischen Evangelien-
version (83—88). Nachhall des Diat. in türkischen Lektionstexten
(88—90). Die harmonistischen Perikopen der syrischen Kirche (90
bis 94). Die armenische Ubersetzung des Kommentars Aphrems zum

' Diat. (94—98). Die Evangelicnzitate in der armenischen Übersetzung
] der „Erklärung der Briefe Pauli" und der „Erklärung des Evangeliums
" (98—105). Das griechische Diat. und das Problem des Beza-
Textes (105—121). Die syro-palästinensische Evangelienversion (121
bis 125). Die Evangelienzitate der manichäischen Literatur (125 bis
132). Die lateinischen Harmonietexte und ihre altlateinische Grundlage
| (132—139). Das mittelnicdcrländische Diat. (139—147). Die alt-
| lateinischen Evangelientexte, ihre Abhängigkeit vom altlateinischen
| Diat. und die Bedeutung der liturgischen Überlieferung (147—165).

Die Vetus-Latina-Zeugen und die syrische Grundlage der abendländi-
i sdien Tatianüberlieferung (165—175). Die arabische Evangelienüber-
I Setzung des Velasquez (175—177). Die deutschen Harmoiiietexte
und die ältesten deutschen Fassungen der getrennten Evangelien
(177—189). Die mittelenglische Harmonie (189—191). Der Kommentar
des Zacharias Chrysopolitanus (191 —193). Zwei altitalieuische
Harmonietexte (193—195).

Diese kurze Übersicht über den Inhalt des Buches
zeigt schon, daß der Verf. keine Mühe gescheut hat, alle
; irgendwie in Betracht kommenden Zeugen zu untersu-
| chen. Bei jedem Stück der Überlieferung gibt er genau
den Bestand (Handschriften und Editionen) an und un-
| tersucht dann die Stellung zum Diat. Dabei ist nun der
Verf. den oben angedeuteten Gefahren nicht ganz entgangen
. Um möglichst viele Zeugen heranziehen zu können
, muß er mit sehr vielen (zu vielen!) Wahrscheinlichkeiten
rechnen. So ist z. B. der Nachhall des Tatiantextes
in einem türkischen Lektionstext (S. 88 ff.) mehr als
fraglich.

Ganz besonders scheinen mir die Kapitel, die sich
mit der altlateinischen Diatessaron- und Evangelien-
Überlieferung und dem Zusammenhang zwischen beiden
befassen, zur Diskussion und auch zum Widerspruch
anzuregen. Hier handelt es sich ja um die wichtigsten
i Fragen der Diat.-Forschung, von denen der ganze Kreis
j von Problemen der westlichen Überlieferung und des
i Einflusses dieser Tatian-Überlieferung auf den westlichen
I Vierevangelientext abhängt. Vor allem wird aber auch
j an diesen Kapiteln die Haltung des Verf. gegenüber
der geschichtlichen Entwicklung des NT-Textes sehr
deutlich, eine Haltung, die man mit einem kurzen Schlagwort
als doktrinär bezeichnen möchte. Der Verf. nimmt
I für die ganze altlateinische Überlieferung einen starken
Einfluß Tatians an. Dabei rechnet er zu dieser Überlieferung
auch die Kirchenväter. Das ist in beschränktem
Maß sicher richtig. Aber wo wir keine Vetus-Latina-Hss.
i haben, können wir nicht Väter-Zitate als die altlat.
Überlieferung hinstellen. Auch ist es nicht angängig, gegen
die Hs.-Überlieferung Väterzitate so zu bezeichnen
(S. 156 u. ö.). Trotz der gegenteiligen Meinung des Verf.
! bleibt anzunehmen, daß die Zitate der Väter oft einfach
aus dem Kopf gegeben sind. Diese Tatsache, die zu beweisen
hier nicht der Ort ist, entwertet die Zitate der
Väter für die zur Diskussion stehenden Probleme ganz
beträchtlich. Anders ist es natürlich, wenn handschriftliche
Überlieferung und Väterzitat zusammengehen. Was
nun den Einfluß Tatians auf die Vetus Latina betrifft, so
ist die Feststellung des Verf. sicher falsch. Das Problem
der Entstehung des Textes der altlateinischen Bibel ist
noch nicht gelöst. Es ist auch wohl erst die ganze Aus-
j gäbe der Jülicherschen Itala abzuwarten, ehe man an die
I endgültige Klärung gehen kann. Aber soviel scheint mir
schon jetzt klar aus der handschriftlichen Überlieferung
| hervorzugehen: Die Übersetzung ist nie und nimmer in
einem Stück entstanden. Wir haben es dagegen in unseren
Handschriften mit Zusammenstellungen von Übersetzungen
einzelner Perikopen zu tun. Diese Übersetzungen
sind aus dem gottesdienstlichen Bedarf heraus entstanden
. Für diesen Bedarf wurden einzelne Stücke des
NT, als man sie in ihrer griechischen Form nicht mehr
verstand (Ende des 2. Jhdts.), ins Lateinische übersetzt.
Die nächste Stufe der Entwicklung war dann, daß man
diese Perikopen zum ganzen NT zusammenstellte. Deutlich
aber sieht man den einzelnen Stücken in jeder einzelnen
Hs. noch die verschiedene Herkunft an. Aufgabe
der künftigen Vetus-Latina-Forschung wird es sein, diesen
Sachverhalt, der hier nur in rohen Umrissen aufge-