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Ausgabe:

1942

Spalte:

285-287

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Petzold, Gertrud von

Titel/Untertitel:

Harriet Martineau und ihre sittlich-religiöse Weltschau 1942

Rezensent:

Gloege, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1942 Nr. 9/10

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frage, und es wäre besser, der Titel brächte dies zum
Ausdruck. Brentano lehnt das ganze „Dogmenwerk"
ab und hält als „einzig fruchtbare Oedanken" fest: den
„eines vollkommen allmächtiggütigen Wesens und seiner
bis ins Kleinste und Feinste reichenden Fürsorge",
die „Nächstenliebe", „die Hoffnung auf ein jenseitiges
Leben", und „daß das Gute sich lohnt, das Böse sich
straft, diesseits und jenseits" (1895, Winter S. 18), verehrt
Jesus, betrachtet das Vaterunser als ein wunderbares
Gebet, ist sich aber im Grunde darüber klar, daß
er nicht ein freies Christentum, sondern eine allgemeine
nicht mehr spezifisch christliche Religiosität und Gottesvorstellung
vertritt. Daß Brentanos „Gottessicht" „neu"
sei oder er um eine neue Gottessicht gerungen habe,
können wir nicht finden, auch nicht nach seinen übrigen
Schriften. Es ist der Rationalismus der deutschen
Aufklärung. Die „Tatsache göttlicher Weltordnung"
kann „vernünftig festgestellt werden" (Winter S. 28,
1901), die „natürlich erkennbare Wahrheit" „trinkt"
man viel „frischer" „aus der freien Natur", „wie Jesus
es selbst mit Vorliebe tat", „als aus den Bächen von
Schrift und Tradition" (ebenda); das „göttliche Sein" ist
schließlich „ein Geschehn, ein Prozeß ohne Ursache und
Wirkung, vielmehr in jedem Moment gleich unmittelbar
notwendig" (1905, S. 43 bei Winter). Eine Ähnlichkeit
zwischen Brentano und Lagarde zu finden — so Winter
am Schluß — ist nur sehr von ferne möglich. Zwar sind
es zwei Theologen, ein katholischer und protestantischer,
die „nicht mehr an eine Zukunft des Christentums"
(besser: des Christentums in der historisch gewordenen
Gestalt) glauben und „um eine neue Gottessicht" „kämpfen
", „die vor allem den Gott in der Welt im Gegensatz
zu dem übernatürlich geoffenbarten Gott des Christentums
sieht". Aber Lagarde ist im Vergleich zu Brentano
viel, viel tiefer und hat deshalb unserer Zeit
mehr zu sagen, nicht aber deshalb, weil er „in dieser
Richtung weiter als Brentano" „geht" (Winter S. 48).
Seestadt Rostock (jetzt: Breslau) Wilhelm Knevels

Petzold, Dr. Gertrud von: Harriet Martineau und ihre sittlichreligiöse
Weltschau. Rochitm-Langendreer: Heinrich Pöppinghaiis
1941. (IV, 49 S.) gr. 8° = Beiträge z. engl. Philologie H. 36.

Die Vfn. gibt in ihrer kleinen Studie ein chronologisch
angeordnetes Referat über den Lebensweg und
die Werke der englischen Schriftstellerin Harriet Martineau
(12.6.1802 bis 27.6.1876), der Schwester ihres
als unitarischen Theologen und Philosophen bekannteren
Bruders James M. Folgende Entwicklungsperioden (von
uns, nicht von der Vfn. so markiert) treten hervor:

1) Die religiös-unitarische Periode. In aufgeklärt
-puritanischer Umgebung heranwachsend, geistig
aufgeschlossen, äußerst sensibel, seit dem 12. Jahre
schwerhörig, gerät das junge Mädchen zunächst unter
den Einfluß der Associationsphilosophie (Hartley, Priest-
ley) und sucht die Lösung der Frage nach der Vereinbarkeit
von Gottesglauben und menschlicher Willensfreiheit
in der Notwendigkeitslehre der schottischen Com-
mon-Sense-Schule (Dugald Stewart). Nach Veröffentlichung
kleinerer erzählender und religiöser Schriften vertritt
sie von 1831 an ein undogmatisches ethisches Christentum
, dessen Lehre „das höhere von Christus eingeführte
sittliche System zu bekräftigen" bezwecke.

2) Die sozialpolitisch-utilitaristische Periode
. Beeindruckt von den wirtschaftlichen Mißständen
und den sozialen Unruhen ihres Zeitalters wendet
sie sich dem nationalökonomischen und philosophischen
Utilitarismus zu (Adam Smith, Bentham, Mill, Ricardo),
dessen „Evangelium der Hoffnung" („größtes Glück der
größten Zahl") sie in 35 kleinen, volkstümlich gehaltenen
Werken verkündet. Die Hauptgegenstände dieser
vom Glauben an die eingeborene Vernünftigkeit und
Güte der menschlichen Natur getragenen und stark lehrhaft
geprägten Publizistik sind: ökonomische Begriffe
(Wesen des Reichtums, Kapitalbildung, Wert der Arbeit,
Nutzen der Maschine, Interessengemeinschaft von Arbeitern
und Kapitalisten, Sklavenarbeit), agrarische Proble-
: me (Förderung des Großbetriebswesens), Bevölkerungs-
I politik (Geburtenbeschränkung als Lösung der Lohnfra-
I ge!), Bank- und Finanzfragen, Reform der Armen- und
der Steuergesetzgebung, Kritik an der anglikanischen
Staatskirche, Zeitungswesen als Volksbildungsmittel.
„Was denn ist die Moral all meiner Geschichten? Antwort
: daß wir unsere Art und Weise ändern müssen
und hoffnungsvoll werden... Wenn wir sehen, was für
einen Fortschritt die Rasse schon gemacht hat in dem
gegenwärtigen Kindheitsstadium der Menschheit, so
I scheint es absolute Unfrömmigkeit, am ständigen Fortschreiten
den Menschen zu zweifeln und die Mittel dazu
in Frage zu stellen... Gibt es nicht wenigstens ein anderes
Stadium, in dem die Menschheit weise organisiert
sein wird, sodaß alle vernünftig, tugendhaft und glücklich
werden können?" (13). Eine zweijährige Reise
j durch die Vereinigten Staaten Amerikas (1834/36) gibt
i ihrem sozialpolitischem Kampf neue Nahrung. In dem
I dreibändigen Werk „Society in America" (1837) versucht
sie vom Boden der Unabhängigkeitserklärung aus eine
immanente Bestreitung der politischen Rechtlosigkeit der
Frau und des Systems der Sklaverei. In scharfer Kritik
an fast allen Denominationen stellt sie speziell der theo-
[ logischen Wissenschaft „die Aufgabe, die ursprüngliche
Einfachheit des Christentums wiederzugewinnen". Die
Kraft der Religion sei als die Kraft des Guten, „the
beauty of Holiness", „auch am Werke in der amerikanischen
Demokratie, die, wenn sie zwar noch weit zurückbliebe
hinter den hohen Grundsätzen ihrer Verfassung,
dennoch tief im Christentum verankert sei und deshalb
zu den schönsten Hoffnungen berechtige" (23). Einen
dichterischen Ausdruck findet ihr Kampf für die Befreiung
der schwarzen Rasse in dem Roman „Deerbrook"
(1839), der Schilderung Toussaint L'Ouverture's, des Negerhelden
von Hayti. Ein völliger körperlicher Zusammenbruch
der Schriftstellerin auf einer Erholungsreise in
Venedig bringt die sozialpolitische Schaffensperiode jäh
zum Abschluß. Es folgt 3) die philosophisch-
positivistische Periode. Fünf Jahre fast ununterbrochen
ans Krankenlager gefesselt, lebt, leidet und
arbeitet sie weiter mit Kopf und Hand. „In diesen fünf
! Jahren erlebte sie eine Klärung und Erneuerung ihres
j physischen und geistigen Seins" (26). Die Frage nach
dem Sinn des Leidens findet in einer Reihe von Erzählungen
Gestalt. „Die unauslöschliche Vitalität des Geistes
wird ihr grade inmitten körperlichen Verfalls zur
festen Gewißheit" (29). Diese Übergangszeit, in welche
die Entfremdung mit den nächsten Angehörigen fällt,
endet mit einer wunderbaren Heilung durch den Mes-
merismus. Durch ihren späteren hochgeschätzten Freund
Henry G. Atkinson gewinnt sie die völlige Gesundheit
I und die alte Tatkraft wieder. Die neuen Erkenntnisse
j über Magnetismus, Somnambulismus usw. führen sie zur
I Absage an die alte Schulmedizin und zum philosophischen
Determinismus. Eine längere Reise in den Orient
j bestärkt sie in ihrer relativistischen Beurteilung der Reli-
i gion und in ihrer heftigen Kritik am Christentum. „Für
I den mit der ,Kirche der Verkündigung' verbundenen
I Aberglauben empfindet sie nichts als Verachtung, und sie
führt die Tatsache, daß das Christentum im Laufe von
achtzehn Jahrhunderten so wenig beigetragen habe zur
Veredelung der Völker, auf den Umstand zurück, daß
i man es mit so viel mythologischer Fabel inkrustiert und
mit Lehrmeinungen durchsetzt habe, welche infolge der
Unwissenheit und des furchtsamen Aberglaubens späte-
[ rer Geschlechter als wesentliche Dogmen bewahrt wurden
." Dennoch sieht sie die frohe Botschaft des „Christentums
" in dem „Glauben an eine göttliche Vorsehung,
an eine menschliche Verbundenheit ohne Unterschied der
Rasse, an Frieden und Wohlwollen unter den Völkern"
(34f.).. Seit der Herausgabe ihres dreibändigen Reisetagebuches
„Eastern Life, Past and Present" (1848)
schreitet die Entfremdung gegenüber dem offiziellen
Christentum in Richtung auf einen areligiösen Ethizismus