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Ausgabe:

1942

Spalte:

244-245

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Egenter, Richard

Titel/Untertitel:

Von der Freiheit der Kinder Gottes 1942

Rezensent:

Langner, Erwin

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243

Theologische Literaturzeitung 1942 Nr. 7/8

sehe Kirche vom unfehlbaren Lehramt. Auch ist wohl
zu fragen, ob das „Fragen nach der Una Sancta" auf
ein Gespräch mit der römischen Kirche eingeschränkt
werden darf. Es könnte darin ein Zugeständnis liegen,
das Folgen hätte. Es könnte uns auch widerfahren, daß
uns die Frage der Una Sancta viel konkreter etwa von
der Orthodoxen Kirche aufgegeben würde. Und weiter:
wenn es nach Weber notwendig ist, in der katholischen
theologia naturalis ein ernstzunehmendes Anliegen zu
suchen, do dürfte innerhalb der evangelischen Theologie
hinsichtlich allzu schneller „Lehrentscheidungen" im umgekehrten
Sinne wohl Vorsicht geboten sein — wie überhaupt
die Frage der Una Sancta sinnvollerweise nicht
nur mit Rom oder den Orthodoxen, sondern sehr praktisch
auch innerhalb des konfessionell und nicht nur
konfessionell zerrissenen „Protestantismus" zu stellen
wäre, zumal, wenn es, wie im vorliegenden Buche, unter
dem (nicht völlig unmißverständlichen) Motto geschieht
: „Wir glauben all an Jesum Christ!" Jedenfalls
wäre es ein großer Gewinn, wenn nicht bloß die „interkonfessionelle
" Aussprache, sondern auch die Auseinandersetzung
innerhalb der evangelischen Theologie allgemein
etwas von der behutsamen Sachlichkeit und „ökumenischen
" Weite bekäme, die dieses Buch auszeichnen.
Vielleicht könnte es dann etwas leichter dazu kommen,
daß der römischen Kirche nicht nur evangelische Theologen
gegenüberstünden, sondern evangelische Kirche.

Güttingen O. Weber

Grisebach, Eberhard: Was ist Wahrheit in Wirklichkeit?

Eine Rede über d. gegeiiwärt. Krise d. Wahrheitsbegriffs u. 10 Thesen
zum europäischen Grundlagenproblem. Vorgetr. am 22. Okt.
1939 anläßl. d. 1. Jahresversammlg. d. Schweizer. Philo«. Vereinigg.
in Bern. Bern: Haupt 1941. (48 S.) gr. 8°. RM 1.20; Fr. 1.80.
„Die Wahrheitskrise ist die Grundlage aller Krisen, über die wir
uns heute beklagen". Sie geht die „besonnenen Bürger aller Staaten
Europas" an. „Es handelt sich um das europäische Problem schlechthin
" (S. 7). Das dogmatisch gepflegte „Sicherheitsgefühl und Herr-
schaftebedürfnis" der europäischen1 Denker ist dahin. — Wie ist
diese Krise entstanden? „Durch den Weltkrieg sind alle
Prinzipien bürgerlichen Denkens und alle absoluten Wahrheitsansprüche
in Europa ins Wanken gekommen." „Es nistete sich ein Zweifel an
aller Systematik und Dogmatik ein" (S. 11 ff.). Die Krise ist verhüllt
und verharmlost worden. Warum? „Man hatte Angst" (S. 14).
Theoretiker, Pädagogen und Ethiker. Die Zeitkrise ist nur das Symptom
einer ewigen, „permanenten Krise" (S. 20). —■ Was bedeutet
diese Krise für uns? Geborgenheit und Sicherheit jeder
Art enthüllen sich als Selbsttäuschung, „die Herrschaft des Geistes
als eitler Anspruch" (S. 17 ff.). Die Wahrheitskrise ist „Weltkrise".
Jede Gemeinschaft und jede Kulturwelt, die sich auf eine „absolute
Wahrheit" gründet, „zerbricht" (S. 25). Die Wahrheits- und Weltkrise
ist zugleich „Religionskrise" und damit auch „Krise des Christentums
" oder des „christlichen Humanismus" (S. 22 ff.). Warum?
Weil in jeder Religion eine „selbstgewählte Verknüpfung menschlichen
Seins und menschlicher Wahrheit mit einem göttlichen Sein vorliegt,
für welches der Mensch sich entschieden hat" (S. 23). Eine Ausnahme
bildet nur der „in den Evangelien verkündigte christliche
Offenbarungsglaube". Er bleibt von der Krise ausgenommen, weil er
„keine eigenmächtige Verknüpfung seiner Gedanken mit dem Absoluten
vornimmt". Das Christenttim unterscheidet sich dadurch von
allen Religionen, daß es „keine selbständige menschliche Entscheidung
für diese oder jene göttliche Wahrheit enthält, sondern Gott allein
als ,heilig' herrschen läßt" (S. 23 ff.). — Was haben wir in
dieser Situation zu tun? „Unaufhörlich gegen die Einschränkung
der Gewissensfreiheit protestieren" (S. 2(J). „Wir haben uns
an den Enthüllungen der Unwahrheiten mutig zu beteiligen und dabei
tapfer bei uns selbst zu beginnen. Alle großen und schönen Lügen
sind aufzuzeigen und, soweit wir daran mitschuldig sind, zu beseitigen
" (S. 30). „Unter den Trümmern der Lügengebäude zeigt sich
nach Bereinigung der neue Boden, die harte Wirklichkeit, in welcher
das Denken neue positive Aufgaben erhält" (S. 30). „Philosophieren
heißt jetzt: mitbauen an unserer zukünftigen Welt, ein Ordnungsgefüge
erarbeiten . . ." (S. 31). — Welche Folgen hat die Anerkennung
dieser Krise für unser zukünftiges Denken
? Das Ende „jeder absoluten spekulativen Philosophie" (S. 33).
Das Ende des „Individualismus". „Zu Ende ist der Universalismus
und Imperialismus, der sich hartnäckig auf eine Objektivität des
Geistes berief. Jeder geistige Imperialismus verliert sein Recht"
(S. 34). Zu Ende ist die „Atomisierung und Differenzierung der bürgerlichen
Philosophie", damit auch alle „Verkrampftheil und Welt-
fremdheit der Einsiedler und Inselbewohner" (S. 34). „Wir müssen

uns heute an den stillen Raum schweigsamer Arbeit wieder gewöhnen
" (S. 36). Über, wir „geistige Disziplin", leben wir in einer
„wirklichen Gemeinschaft", lassen wir unseren „Individualismus", „so
gibt es keinen Grund, anläßlich der gegenwärtigen Krise des Wahrheitsbegriffs
zu verzweifeln" (S. 40). Das ist „Wahrheit in Wirklichkeit
".

Die Rede Grisebachs variiert, wie aus den vorstehenden
Mitteilungen zu ersehen, das bekannte, ja bis zum
Überdruß beredete Thema: „Der Mensch erkennt sich
heute als schlechthin in Frage gestellt" (S. 16). Durch
Relativismus, Skeptizismus, Nihilismus, Atheismus usw.
Eine besonders eigenartige Note vermag ich an den

j diagnostisch - therapeutischen Ausführungen Grisebachs

j nicht zu erkennen. Befremdlich ist mir auch sein Wahrheitsbegriff
. Er apostrophiert einmal seine philosophischen
Hörer. Jeder von ihnen habe seine „eigene" Überzeugung
, seine „eigene" Denkmethode und Logik, seine

I „eigene" Welt. „Es würde sich weiter ergeben, daß
kaum einer den andern wirklich versteht oder seine Wahr-

I heit billigt. Wir müßten feststellen, daß jeder eine an-

j dere Sprache spricht, eine andere Vernunft vertritt und

j jeder einen anderen Gegenstand für sein Nachdenken
wählte" (S. 21). Man müßte sich wundern, daß Grisebach
diesen „Stimmenwirrwarr" um noch eine weitere
unmaßgebliche Stimme vermehrt, wenn er nicht heimlich
doch einen für alle verbindlichen Wahrheitsbegriff
voraussetzte (der dann also nicht „in Frage gestellt" sein
kann). Wahrheit ist ein logischer Relationsbegriff. Wahr

[ ist ein Urteil, das seinen Gegenstand richtig trifft und
erfaßt. Alsdann „gilt" es. Grisebach will das „in Frage
gestellt sein" des Menschen richtig erfassen. Er will

I darüber „wahre" Urteile abgeben. Wollte er es nicht, er
hätte sich alles weitere ersparen können. Sein Satz:
„Wahrheit ist nur noch der modale Charakter unserer
wirklichen Existenz" (S. 35) ist mir völlig unverständlich
. Unverständlich ist mir auch die Art, in der Grisebach
mit den Begriffen bzw. Sachverhalten: „Religion",
„Christentum" und „christlicher Offenbarungsglaube"

j umspringt. Hier spricht er andern nach. Inhaltlich sagt
er über den „in den Evangelien verkündigten Offenbarungsglauben
" überhaupt nichts aus. Und daß dieser
„keine selbständige menschliche Entscheidung" in Anspruch
nimmt, wäre nicht zu behaupten, sondern zu beweisen
gewesen. Als Zukunftsaufgaben philosophischer
Arbeit, die „man zu Zeiten der Gesichertheit überhaupt
nicht laut zu stellen wagte" (S. 36), formuliert Grisebach
folgende Fragen: „Welches ist der Grund des Mißverstehens
? Welches ist die Ursache des Unfriedens?
Wie kann man am Weltfrieden durch Denken mitarbeiten
? Wie kann man zum gegenseitigen Verständnis in

| der Welt beitragen oder gelangen? Wie muß man seiner

j Menschlichkeit und Sterblichkeit Rechnung tragen? Welches
Schicksal steht uns bevor? Welches ist unsere Zukunft
?" Das mag für den Philosophen stimmen. Der

| Theologe weiß längst um ein gut Teil der dynamischen
Lösung dieser Fragen: „Es ist dir gesagt, Mensch, was

gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts als
Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln vor deinem
Gott" (Micha 6,8). Freilich ist diese Lösung nicht ohne
„selbständige menschliche Entscheidung" zu haben.

Hamburg Kurt Leese

| Egenter, Richard: Von der Freiheit der Kinder Gottes. Frei-

burg Br.: Herder 1041. (IX, 345 S.) 8°. RM 2.60: Hlw. RM 3.80.
Der Verfasser sucht vom katholischen Denken her
den in den Abwehrkämpfen der Reformation verlorengegangenen
Lebensanschluß an den christlichen Freiheitsbegriff
, dessen Lebenswert ihm allein in der christlichen
Botschaft von der herrlichen Freiheit der Kinder
Gottes verbürgt liegt, wieder herzustellen. Eine Lücke
in der traditionellen katholischen Moraltheologie werde
damit geschlossen. Es ist ein theologisches Unternehmen
, das sich als eine wirkliche Glaubenshilfe dem heutigen
Menschen mitten in entscheidungsschweren Zeiten
verantwortlich weiß: erst wo die innere Freiheit des
i Herzens erreicht sei, ordnen sich auch die übrigen Fra-