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Ausgabe:

1942

Spalte:

11-18

Autor/Hrsg.:

Brachmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Luthers deutsche Sendung 1942

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christlicher Menschensendung her: die frühmittelalterliche
Kirche, die vom Glauben der Totenmesse 7 her, die
lutherische Landeskirche, die vom neu erfüllten Sakrament
der Ehe im stellvertretenden Vatersein aus Glauben
um des Kindes willen her lebte", und der später säkulare
' Protestantismus 9 der letzten 200 Jahre, dem der
Werktag zum Sonntag wurde gemäß Matth. 25, 40. Diese
leben heute noch als tragende Fundamente lebendig
europäischer Menschenbildnisse, in denen der Christenmensch
in betendem Sein vor Gott geschichtlich
ward und noch sein kann. Sie haben noch
heute ihr Recht im Kirchenkonzil. Dieses aber hat nicht
die Frage des Vorgestern, sondern die des Heute und
Morgen zu bewältigen angesichts der Erkenntnis, daß
der ohne sein Wissen auf den Christus geworfene und
von ihm gesuchte Mensch vor den Toren der Kirche —
und keine Lehre — die Kirchen eint. Ist dies erkannt,
dann scheint darauf hinzuweisen, daß das lebendiges Leben
rufende Sakrament in den gesamten, seit Luther vergangenen
Jahrhunderten, unter den Kirchentümern verwahrt
ward. Nur in einem Falle kam die ganze Fülle des
Herrenmahles über die Konfessionskirchentümer und
offenbarte seine Vollmacht: Das war, als Zinzendorf die
Erweckung der Herrenhuter Brüdergemeinde vom Abendmahl
her erlebte, als er selbst fern von ihr war. Diese
Herrenhuter waren in Zeitlage, Schicksal und Ausprägung
ein Mikrokosmos zerstrittener Lehrkonfessionalität, der
das Eine fehlte, aus dem Wahrheit und Liebe
die einzige objektive Einheit wahrt und verleiht im Altarsakrament
. Das Bekenntnis weist darauf hin, daß das
gleiche ,neue Gesetz' für den Makrokosmos der Kirchen
offen sein kann. Die Verantwortung für das Men-

7) Siehe hierzu Stählins Vorstoß zur Sache in ,,Die christliche
Bestattung der Toten", Jaliresbriefe, Osterbrief 1941, Kassel.

8) vgl. H. Sauer, ,,Volksgeschichte u-nd Evangelium", in „Die
seelsorgerlich-volksmissionarische Aufgabe der Kirche", Dresden 1941.

9) vgl. die hier ansetzenden Arbeiten Kurt Leeses über das
Wesen des Protestantismus.

schentum im neuen europäischen Großraume am Rande
j der uralten abendländischen Tauftradition macht aus sol-
j eher Freiheit eine Gehorsamspflicht. Nichts ist schwerer
als die geistliche Neubelebung geistlich vorgeformter
und abgeschirmter Menschen. Lutherisch sein heißt be-
! kennen, daß es nur das Abendmahl tun wird. Dann mag
! wieder an eine verantwortliche und mehr als sich selbst
| kirchentümlich suchende, geeint tätige Christenheit zu
j denken sein. Diese wird in der Welt stehen können,
ohne sich zu verlieren. Sie wird ihre Substanz aber nicht
auf Kosten ihres Weltauftrages so lange verabsolutieren,
bis sie des Auftrages ganz unfähig geworden ist.

Das heißt nicht: Aufhebung der geschichtlich Gewordenen
Konfessionskörper. Nur sofern diese bleiben, ohne
| sich zu verwischen, ist Treue im Umbruch bei allein einsichtsvollen
Verzicht auf Starrheit und jenen Absolut-
I heitsanspruch der einzelnen Gruppen, aus dem statt des
konfessionellen Positivismus der christliche Relativismus
genährt wird, der in religiösen Nihilismus um-
[ schlägt. Katholischer Kulturkampf gegen Bismarck, der
die Arbeit der unbeteiligten evangelischen Kirche Preus-
| sens traf und die Praxis der evangelisch-katholischen
j Mischehe, der die Areligion als Ausweg aus der reli-
! giösen Not fruchtete, weisen auf radikal notwendig neue
Bereitschaft des für eine Christenheit repräsentativen
Handelns in einem Europa, das auf lineares Handeln
des Staates angewiesen ist. Die drei historischen Konfessionen
des orthodoxen, katholischen und protestantischen
Raumes fordern in Bälde den Bau eines gemeinsamen
Daches. Die Alternative liegt deutlich genug.
Nicht auf dem Wege kleiner Kirchenstreitigkeiten ähnlich
der in dem Protestantismus kommen wir weiterhin
! noch voran. Nachdem Canterbury durch Fürbittgottesdienste
für Rußland krampfhaft alles tut, um den Kredit
j der Christenheit politisch zu verschleißen, hat die Christenheit
des Kontinents die geschichtliche Aufgabe, die
j größere Zucht der Sache, der Menschen und der Verantwortung
darzutun.

Luthers deutsche Sendung

Ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit E. Seebergs Lutherbuch.1
Von W. Brachmann, Halle (Saale)

Schon früher, besonders aber in den letzten Jahren j näher zu erörternden Gründen heute beträchtliche Einsind
auf die Frage nach Luthers deutscher Sendung büße an Wirksamkeit und Durchschlagskraft erlitten. So
grundverschiedene Antworten gegeben worden. Theologi- I kommt es, daß sich immer wieder die beiden anderen ge-
scherseits drang demgegenüber in wachsendem Maße j nannten Auffassungen zu Worte melden, die jedoch an
jene Auffassung durch, die die wissenschaftliche Legiti- I der Schwierigkeit leiden, daß die auf Luthers germani-
mität der aufgeworfenen Frage überhaupt bestritt, um ! sehe Erbsubstanz zurückgehende Auffassung mit den
statt dessen das Problem der kirchlich-theologischen j Beweisen ihre liebe Not hat, während die These, die
Sendung Luthers in den Vordergrund zu rücken. Luther gleichsam zum erfolgreichsten europäischen und
Luthers Reformation ist die schlechthin deutsche reli- ! insbesondere deutschen Bahnbrecher des semitischen
giöse Revolution, die nur auf Grund der germanischen Orients machen will, die Antwort auf die Frage schul-
Erbsubstanz des Reformators möglich war, sagen die j dig bleiben muß, wie denn eine derartig tiefgreifende
einen. Luther hat das zweifelhafte Verdienst, dem semi- ! und umfassende Überfremdung in einem so eigenschö-
tischen Orient erneut eine geschichtsmächtige Chance in ! pferischen Volke wie dem deutschen zu erklären ist.
Europa gegeben zu haben, meinen andere, die dazu nei- I Zu diesen Stimmen ist neuerdings die Erich Seegen
, in Luthers Kirchenrevolution ein deutsches Verhäng- | bergs gekommen. Weil sie ein ebenso starkes wie un-
nis zu sehen. Schließlich sind vor allem die zu nennen, ! reines Echo ausgelöst hat und noch auslösen wird, das
die, ohne etwas von Luthers christlicher und theologi- | übrigens zugleich Rückschlüsse auf die protestantischscher
Substanz aufzugeben, unter starker Betonung die- | theologische Situation der Gegenwart gestattet, verlohnt
ser Substanz als der Mitte, um die bei Luther im Grunde es sich, sie anzuhören. Dabei kann dann vielleicht auch
alles kreist, doch zugleich seiner deutschen Sendung das ! eine spezifisch religionswissenschaftliche, nicht theologi-
Wort reden. In diesem Falle pflegt dann die deutsche sehe Betrachtungsweise, wie sie hier angestrebt wird,
Geschichte überhaupt unter dem Gesichtspunkt des Han- manches neue Moment zu einem Gespräch beibringen,

delns des Gottes der Christenheit mit dem deutschen
Volke gesehen und gedeutet zu werden. In Anbetracht
der deutschen kirchlich-theologischen Tradition vermochte
sich diese Auffassung bisher am leichtesten zu behaupten
. Nun hat aber diese Tradition aus hier nicht

1) Seeberg, Erich: Grundzllge der Theologie Luthers.

Stuttgart: W. Kohlhammer 1940. (VIII, 240 S.) gr8°. RM6.—.

in das, soviel uns bekannt ist, bisher E. Hirsch, R. Hermann
und W. Koehler mit E. Seeberg eingetreten sind.

Zu der Frage nach Luthers deutscher Sendung hat Seeberg
, gestützt auf zerstreute einschlägige Ausführungen in
seinem Buche über „Luthers Theologie in ihren Grundzügen
", in dessen Schlußkapitel zusammenfassend Stellung
genommen, das die Überschrift trägt: „Die weltgeschichtli-