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Ausgabe:

1941

Spalte:

160-161

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft 1941

Rezensent:

Siegfried, Theodor

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159

Theologische Literaturzeitung 1941 Nr. 5/6

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diese Zusammenfassung und Handreichung ist dankenswerter
Weise in keinem Falle so geartet, daß ein Prediger
der passiveren Klasse siie einfach auf die Kanzel
bringen könnte, sondern sie ist und bleibt Wegweisung
für den Prediger, welcher selbständig arbeiten will und
kann. Erfreulich auch, daß T. meistens die Verwertung
der ganzen Perikope in der Predigt nahelegt, wenngleich
er stets einzelne Themen herausstellt; nur in
Ausnahmefällen (bei großem Gedankenreichtum der Perikope
) empfiehlt er, mehrere Predigten über die eine
Perikope zu halten. Eine besondere Aufmerksamkeit
widmet T. den neutestamentlichen Begriffen, die er oft
begriffsgeschichtlich, zuweilen auch religionsgeschichtlich
anfaßt. Daß er überall gegen die erweichte Art der Tradition
die echte eschatologische Situation herstellt, wo
sie im Texte vorhanden ist, darf besonders betont werden
.

Ein Beispiel für die exegetisch-wissenschaftliche Entschiedenheit
T.s an schwerster Stelle bietet der 1. Sonntag nach Ostern, wo in
der Epistel (1. Jo. 5,4—10) die Vulgata in V. 6 liest: ,,Daß
Christus die Wahrheit ist" (statt: „Der Geist ist die Wahrheit"),
wo in V. 10 der Vulgatatext vom griechischen Text abweicht, und wo
im V. 7 der Vulgata das berühmte Comma Joanneum steht, für
welches 1897 ein Entscheid der Inquisition erging! T. tritt überall auf
die Seite des griechischen Textes, erst recht beim Comma Joanneum.
Nur läßt er das Comma Joanneum als eine gute, der Tradition entstammende
„Zusammenfassung" des Trinitätsanliegens gelten. — Daß
Hermann Schells „Dogmatik" zitiert wird, verdient Beachtung. —
Ott, 4, 4 versteht T. als einen Hinweis auf die vaterlose Geburt Jesu
und polemisiert darum gegen Bousset (evangelische Exegeten werden
immer wieder zitiert). — Die Xoymi] i'him'a Rm. 12, 1 ist nach T.
das Opfer, „das am meisten der erleuchteten Vernunft entspricht und
darum auch am meisten Gottes wie des Menschen würdig ist". —
Die „anderen Sprachen" (Apg. 2,4) am Pfingstfcst sind nach T.
nicht als Glossolalie zu verstehen. — Allzu kühn urteilt T. zu Gal.
3,22 (S. 604): „Was der Apostel unter Glauben versteht, ist nicht
der Fiduzialglauhe Luthers, sondern der Glaube der katholischen Kirche
" (cf. S. 645). Man wird formulieren dürfen: Luther weiß mit seiner
These besser zu sagen, daß Gott es ist, der den Menschen ändert,
und der durch Gott geänderte Mensch bringt die guten Früchte — der
Katholizismus aber weiß mit seiner These besser den durch Gott geänderten
Menschen und das Früchtebringen zu beschreiben. Gal. 3, 22
aber (und so oft) wird gerade die Tat Gottes, und nicht die Menschentat
, gefeiert. — Im übrigen staunt man, wie nahe sich katholische
und evangelische Erbauung kommen, wenn sie dem N.T. sein
Recht lassen.

Berlin L. Fendt '

Jahn, Lic. Ernst: Tiefenseelsorge. Zur Grundlegung und Praxis.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1940. (36 S.) gr. 8°. RM 1.60.
Die Broschüre behandelt in sehr knapper Darstellung
das Wesen der Seelsorge und ihre Aufgabe gegenüber
dem Unbewußten und dem Unterbewußten. Es wird
zuerst versucht, Seelsorge und Seelenführung abzugrenzen
; der Vf. unterscheidet sie, da er ein starkes Gefühl
für die Ganzheit des Seelenleben hat, nicht im Objekt
der zu überwindenden Not, sodaß der Seelenfühlung
die „allgemeinen" Nöte zufielen und der Seelsorge die
„geistlichen", sondern in der Betrachtungsweise: die
Seelsorge begreift die Not religiös, die Seelenführung
„diesseitig". Denn auch die „Glaubenserfahrungen sind
in das Gesamtgeflecht der Seele mit hineinverwoben",
und „wir dürfen die Glaubenserfahrung nicht als einen
besonderen Erlebniskomplex von der Ganzheit des Seelenlebens
absondern" (S. 9). Eine der Voraussetzungen
der Seelsorge ist Kenntnis des Seelenlebens. Der Verfasser
geht darum einem einzelnen Problem nach, das
ihn in „langjährigen theoretischen wie praktischen Bemühungen
" beschäftigt hat: der Frage, welche Bedeu- |
tung die seelischen Vorgänge die unterhalb des Bewußtseins
liegen, für die seelsorgerliche Arbeit haben. Er unterscheidet
das Unter-Bewußte, als das Nicht-Mehr-Ge-
wußte, als Behältnis das die schattenhaft gewordenen Erinnerungsbilder
des Erlebens umschließt, von dem Un-
Bewußten, als dem „geheimnisvollen Organ, das den Einzelmenschen
mit der Entwicklung der Gesamtmenschheit ■
verbindet". Das Unterbewußtsein hat eine Doppelfunktion
: es nimmt die verblassenden Erlebnisse auf, und hat J

auch die Kraft, sie wieder zu erwecken. Von hier aus
ergeben sich bestimmte Aufgaben der Seelsorge: die Regung
des Unterbewußten kann übermächtig werden, sodaß
sie überwunden werden muß; das Unterbewußte
kann aber auch Inhalte haben, die zur Stärkung des
Ich erweckt werden müssen; heute zumal „leben wir
weithin vom unterbewußten Christentum", nicht mehr
von der eignen Glaubensentscheidung, sondern vom Väterglauben
. Neben der negativen auch die positive Seite
dieser Tatsachen richtig zu erkennen ist für die Seelsorge
äußerst bedeutsam. Das Unbewußte ist die tiefste
Schicht; in ihr liegen die Verbindungen mit der Gesamt-
j menschheit; von hier aus bricht in einzelnen Menschen
| die urmenschliche Triebhaftigkeit durch, hier wirken
auch die dunklen Mächte, die von außerhalb kommend
vom Menschen Besitz ergreifen (Besessenheit). Die Aufgabe
der Seelsorge besteht hier in einer ganz bestimmten
religiösen Willensbildung. Positiv ist das Unbewußte
das Organ, in dem die uralten Bild- und Vorstellungskreise
fortleben und bisweilen bis ins Bewußtsein fortwirken
. Mit der Frage, ob etwa das Unbewußte auch
„Organ der Offenbarung" werden könnte, schließt das
Heftchen.

Die Schrift ist auf der Suche nach einer „Seelsorgc, die Menschenkenntnis
und Verkündigung in sich verbindet" (S. 12). Dabei liegt der
Wert der Schrift weniger in den Ergebnissen der Erörterungen; es
bleiben mancherlei Fragen offen. So wird nicht verständlich, warum
das Unbewußte ein „Noch-Nicht-Gcwußtes" sein soll; das meiste aus
diesem Seelenbereich tritt nie in Bewußtseinshelle, hat auch nicht die
Tendenz dazu, sondern wirkt in der Tiefe. Auch zu einzelnen regt sich
Widerspruch: die gewählten Veranschaulichungen für das Un- und Unterbewußte
(S. 14) sind weder als Bilder noch als Symbole oder
Gleichnisse zu bezeichnen, sondern nur als Vergleiche, weil ihnen der
organische Zusammenhang mit dem Bezogenen fehlt. Sehr anfechtbar
ist die — offenbar gemeinte — Beschränkung der Wirkungen des
Heiligen Geistes auf das Bewußtsein (S. 24), wie andererseits der
Versuch, Seelsorge und Scelenführuiij; in der Weise des Verfassers zu
unterscheiden; solche Versuche der Scheidung mißglücken immer,
wenn dann „kirchlich" und „christlich" nicht auf die Dynamis, sondern
auf die Organisation bezogen wird. Ferner werden Elemente der
verschiedensten psychologischen Grundsysteme, individualistische, kollektivistische
, ganzheitliche, rassische als Mittel der Darstellung benutzt
, ohne daß der Verfasser seinen eignen Weg immer klar erkennbar
markierte. So liegt die Bedeutung der Schrift weniger in den
formulierten Ergebnissen.

Dennoch verdient die Schrift eine deutliche Hervorhebung
, wegen ihrer Betrachtungsweise. Vorurteilslos
sind eine große Fülle von guten Beobachtungen sauber
beschrieben und mit wohltuender Scheu vor vorschneller
Systematisierung aufgereiht; das ist in der gegenwärtigen
Krisis der theologischen Methodik immer ein Gewinn
. Dabei läßt das sichere Gefühl des Verfassers für
alles christlich Echte und Konkrete ihn zahlreiche Sätze
aussprechen, die dem praktisch Tätigen wie dem grundsätzlich
Arbeitenden wertvollste Hinweise und Anregungen
für das schwierige Gebiet des Un- und Unterbewußten
zu geben vermögen, das sonst von christlicher
Seite selten so nüchtern angefaßt und so ernst genommen
ist.

Göttingen Walter Birnbaum

Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. Fünfzig Jahre

Evangelisch-Sozialer Kongreß 1890—1940. Unter Mitarbeit von M.

Rade, I. Voelter, W. Goetz, H. Schlemmer hrsg. von Johannes Herz.

Leipzig: J. C. Hinrichs Verlag. Leopold Klotz Verlag 1940. (151 S.)

8°. RM 4—.

Der hier gebotene Gesamtüberblick über die Geschichte
und die Arbeit des evangelisch-sozialen Kongresses
ist in vieler Hinsicht dankenswert. Von berufenster
Feder sind die verschiedenen Abschnitte seines Werdens
geschildert. Der Kongreß erscheint hier als ein Pionier-
trupp, der zugleich immer neue drängende Fragen aufgreift
und sie auf seinen großen Tagungen mitten in
die Zentren des deutschen Wirtschaftslebens hineinträgt.
Besonders der meisterhafte Autsatz von W. Goetz gibt
eine glänzende Darstellung dieses Vordringens des Kongresses
und der geistigen Arbeit, von der es getragen