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Ausgabe:

1941

Spalte:

136-138

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Haase, Felix

Titel/Untertitel:

Volksglaube und Brauchtum der Ostslaven 1941

Rezensent:

Adamovičs, Ludvigs

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Theologische Literatlirzeitung 1941 Nr. 5/6

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kommenden Handlungsinipulse erreicht werden. Auf dem aus dieser
Zwangsläufigkeit resultierenden Schicksalsbegriff bauen sich die eddischen
Heldenlieder auf. Dieses Schicksal ist also nichts als ein Motor
der Dichtung, und die Figuren, in denen es sich verkörpert (wie Odin
und die Nomen) nichts als Hilfsfiguren, die dem tragischen Charakter
der Dichtung dienen sollen. Die Entwicklung geht nun in der eddischen
Dichtung weiter dahin, daß sich das Oleichgewicht zwischen
Schicksal und heldischer Bewährung immer mehr zugunsten des
Schicksals verschiebt, das sich zu einem „weltimmanenten Urgesetz"
verselbständigt. Diese Verselbständigung liest R. aus den späteren
Oötterliedern, vor allem Völuspa und Baldrsdr. ab. In den Heldenliedern
prägt sich das Überwuchern des Schicksalsglaubens darin aus,
daß die ehrenvolle Bewährung des Helden in der Schicksalssituation
nicht mehr gewährleistet ist, sondern die Bestimmung zur
Meintat über ihn verhängt wird. Um seine Makellosigkeit zu sichern,
wird das Schicksal oder seine Verkörperungen (Odin, die Norncn, die
nur in diesem Sinne „böse" sind), für die nicht einwandfreien Handlungen
des Helden verantwortlich gemacht.

R. meint, daß die Entwicklung zu weltschmerzlicher Resignation
sich unabhängig vom Christentum vollziehen mußte, und er äußert
in diesem Zusammenhang die Vermutung, daß „die Besinnlichkeit der
isländischen Bauernstube der Entwicklung eines weltschmerzlichen Gefühls
eher entgegenkam als der hartgemute Sinn, der auf den Planken
des Wikingerschiffcs zu Hause war".

Solche und ähnliche gelegentlich hingeworfene Bemerkungen, in
denen sich Ansätze zu geschichtlicher Betrachtung bemerkbar machen,
bleiben vereinzelt und sind zu wenig unterbaut, als daß sie überzeugend
wirken könnten. Immerhin gibt der Verf. in seinen Analysen
gelegentlich überraschende Hinweise, die es verdienen, daß man ihnen
nachgeht.

Mit geschickter Fragestellung, die allerdings den Texten manchmal
etwas zu viel abpressen will, sucht Vf. die moralischen Betrachtungen
der Heldenlieder für die Untersuchung der germanischen
Sittlichkeit und Menschlichkeit auszuwerten. Manche Gedichte, wie
die Hamdismal, erfahren dabei teilweise eine neue Beleuchtung.
Beachtenswert sind die Hinweise R.'s auf Züge von Selbstüberwindung
, Vergebung, Reue und Schuldbewußtsein. R. verzichtet auch hier
auf eine geistesgeschichtliche Beurteilung, man wird aber kaum
darum herumkommen, für diese Belege christliche Einflüsse anzunehmen
. Allerdings schießt es wohl übers Ziel hinaus, wenn R. von
einem „Wurmgefühl" spricht, dem die Schilderung der Menschen
in der Völuspa Ausdruck gebe. Oberhaupt vermag die Interpretation
dieses Gedientes am wenigsten zu befriedigen; es ist kein Wunder,
daß R.'s Methode hier versagen muß. Dagegen führt er die von v. d.
Leyen begonnenen und von anderen (Maria Führer) fortgeführten
Untersuchungen über den Einfluß frühliterarischer Unterhaltungsdichtung
, insbesondere des Märchens, auf die Eddalieder mit gutem Glück
fort, wobei er noch ächärfer zwischen Sagen- und Märchengut zu
scheiden sucht. Ausgehend von bestimmten Affekten, die die allgemeine
Literaturwissenschaft als Ansatzpunkte volkstümlicher Erzählphantasie
erkannt hat, zeigt er vor allem, daß in den burlesken
Göttermythen diie Wunschaffekte der Kraftmeierei (Thorsmythen)
und des Liebesgenusses (Odinsmythen) Gestalt gefunden haben. Aus
anfänglich geringen und wenig bedeutenden Beimischungen von Märchenzügen
und Situationskomik wachsen sich Märchen und Burlesken
schließlich zu selbständigen Kunstformen aus, wie sie uns in den Har-
bardsl., der Lokasenna, den Odinsabenteuern der Havamal sowie in
Hymis- und Thrymskv. entgegentreten. Märchen und Burleske
bedeuten eine Schwundstufe der Sage: die Phantasie modelt den künstlerischen
Plan ins Volkstümliche um.

Ich sehe in Rüdigers Arbeit trotz der Einseitigkeit
seines Standpunktes einen wertvollen, auch methodisch
wichtigen Beitrag zur Eddakritik. Sie bestätigt und erhärtet
durch ihre Ergebnisse den Grundsatz, daß alle
weltanschaulich-religiöse Interpretation der Eddalieder
davon auszugehen hat, daß weder die Helden- noch die
mythischen Gedichte religiöse Urkunden, sondern Dichtwerke
sind, und die daraus zu ziehende Folgerung,
daß sowohl der Schicksalsbegriff und seine Verkörperungen
(auch Träume und Weissagungen) wie die komische
Behandlung der Göttergestalten zunächst als
künstlerische Mittel verstanden und' bewertet werden
müssen und erst von dieser Grundlage aus untersucht
werden kann, wieweit sich in ihnen religiöse Entwicklungen
und weltanschauliche Zeitströmungen wiederspie-
geln. Daß der Vf. diese letztere Untersuchung nicht
ernsthaft in Angriff genommen hat, muß man bedauern;
doch hat er mit seinem Buch eine wichtige Vorarbeit dazu
geleistet.

Leipzig Walter Baetke

Haase, Felix: Volksglaube und Brauchtum der Ostslaven. Breslau
: Verlag Gerhard Märtin 1939. (IX, 428 S.) gr. 8° = Wort und Brauch
H. 26. RM 21-; geb. RM 23-.

Der bekannte Verfasser von „Die religiöse Psyche des
russischen Volkes" (1920) beabsichtigt hier, den Dop-

j pelglauben der Ostslaven oder Großrussen darzustellen,
wie er sich nach der Christianisierung des Volkes im
Mittelalter gebildet hat, in Form „alter Volksanschauungen
bis in die neueste Zeit fortlebt" (S. 6) und in
Glaubensvoirstellungen und im Volksbrauch der Jahrhunderte
zum Vorschein gekommen ist. Altslavisches Heidentum
hat sich darin mit verschiedenen Elementen des
griechisch-byzantinischen Christentums vermengt, und der
Verfasser ist bestrebt, die altslavische Religion aus die-

j sem Gemenge herauszuarbeiten und ihre Beeinflussung
durch das östliche Christentum zu erforschen. Dabei
wendet er seine Aufmerksamkeit auch dem „Gemeingut
der Groß-, Klein- und Weißrussen" (S. 6), d. h. der Ostslaven
insgesamt, zu und will zugleich auch „einen Beitrag
zur Frage nach dem Allgemeingut der indogermanischen
Weltanschauung, dem arischen Erbgut" (S. VII)
liefern. Seinen Standpunkt bezeichnet er als den „allgemein
religionsgescnichtlichen und volkskundlichen"
(S. VII).

Der Hauptteil des Buches, in welchem der Verfasser einfach ein
Kapitel an das andere reiht, läßt sich in größere Abschnitte zusammenfassen
. Der erste Abschnitt (S. 9—124) behandelt die altslavische
Götterwelt.' „die Götter des alten Rußlands und ihr Fortleben in der
christlichen Welt" (S. 122). Neben den sogenannten „Vladiimirschen
Göttern", die in einer Ende des 11. Jahrhunderts verfaßten Chronik
(nacal, nyj svod) als Götzenbilder des Palasthofes von Vladimir dem
Heiligen in Kiev genannt werden, nämlich: Perun, Chors, Daz'bog,
Stribog, Semar'gl und Mokos' — werden noch in anderen geschichtlichen
Quellen angegebene Götter: Svarog (Svarozic), Volos, Kupalo,
Jarilo, Koljada, Ovsen', Lado u. a. behandelt. Der Verfasser warnt
davor, auf reHgionsgeschichtlichem Gebiet durch bloße sprachwissenschaftliche
Mittel Erklärungen geben zu wollen (S. 45). Er beweist,
daß alte Götternamen vergessen und durch neue ersetzt werden können
, und legt sehr viel Wert auf die Analyse der schwer austilgbaren
Bräuche, welche für die Existenz der entsprechenden Kulte zeugen können
(z. B. S. 144). Aus dem Vladimirschen Pantheon bleibt nur
Perun eigentlich als ein altslaviscber Gott zurück, welcher „tatsächlich
eine Hauptgottheit der Slaven gewesen sein muß", obgleich sein
Wesen unbekannt bleibt (S. 57 f., 60 ff.). Weiter nennt Haase ihn
doch einen Gewittergott (S. 123), wenn auch früher davon die Rede
war, daß die Züge des Gewittergortes in ihm „erst in späterer Zeit
unter der Einwirkung des preußisch-litauischen Perkuiias und des
polnischen piorun entstanden seien" (S. 61). Auch die Mokos' ist
im Glauben und religiösen Brauchtum der Russen verehrt worden,
kann aber nicht als ursprüngliche slavische Göttin angesehen werden
(S. 42 f. u. 46). Hinter den Namen Svarog, Svarozic und Daz'bog
erblickt der Verfasser einen alten russischen Feuer- und Sonnengott.
In seiner Zusammenfassung des ersten Abschnitts (S. 122—124) behauptet
er, daß sich in diesen Namen die Wesensbedeutung dieser
Götter am besten wiederspicgele, obgleich er früher (S. 44) Daz'bog
für unerklärlich hinstellte. In Svarog erblickt er nicht aliein den
Gott des Feuers und der Schmiede, sondern auch der Ehe (S. 12
bis 14 u. 123). Den Feuergott betrachtet Haase mit A. Brückner als
den „Eckstein der slavischen Mythologie" (S. 14) und verfolgt die
Verehrung des Feuers bis in die Nomaden- und Jägerzeit der Ostslaven
zurück (S. 26). In Volos erkennt der Verfasser einen alten
Viehgott, vielleicht aber mit einem später beigelegten Namen (S. 72
bis 75 u. 123). „Kupalo, Jarilo, Koljada, Ovsen' und Lado sind
spätere Namen für alte Naturgötter" (S. 123 f.). Hauptsächlich denkt
I der Verfasser bei dieser Behauptung an einen alten Sonnenkult, daneben
aber auch an Fruchtbarkcits- und Wachstumskulte (107 f. u.
123 f.).

Man sieht aus dieser Wiedergabe, daß der Verfasser nicht zur
vollkommenen Eindeutigkeit gekommen ist und das spröde Material
für die slavische Mythologie, das schon öfters behandelt worden ist,
auch noch weiterer Forschung bedarf. Di« umsichtsvolle Darstellung
von F. Haase wird aber dem zukünftigen Forscher gute Hilfsdienste
leisten.

Im Anschluß an alle diese Oöttergestalten behandelt der Verfasser
noch ihre christlichen Nachfolger, d. h. diejenigen Heiligen,
auf welche das Patronat des betreffenden Gebiets übertragen worden
ist. So hat der heilige Elias (II ja) gewisse Züge eines alten Getreide-
umd Gewittergottes geerbt (S. 61—72). Der heilige Blasios (Vlas)
isl Beschützer des Viehes (S. 72 ff.), auf den Drachentöter Georg
(Jegorij, Jurij) sind Eigenschaften eines alten Sonnen- und Getreide-