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Ausgabe:

1941

Spalte:

107-109

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Ethik Wilhelm Diltheys 1941

Rezensent:

Bollnow, Otto Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 1941 Nr. 3/4

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ges' Schriften zum großen Teil dadurch bedingt ist,
daß er psychische Tatbestände ans Licht zieht, die von
•den meisten „Geistesphilosophen" nicht beobachtet oder
nicht beachtet sind, so kann eine Arbeit, die notgedrungen
dieses Beobachtungsmaterial beiseite lassen muß,
schwerlich die Paradoxie einer Philosophie verständlich
machen, die den Geist für den Widersacher der Seele
erklärt. Sie führt nicht allzuweit hinaus über des Philosophen
eigene Schrift „vom Wesen des Bewußtseins",
die vow ihm auch als ein Leitfaden durch seine Gedankenarbeit
gedacht war. Es gelingt der Verfasserin z. B.
nicht, verständlich zu machen, was Klages unter „Bildern"
versteht, die metaphysische Wesen sein und von der Seele
geschaut werden, aber weder Vorstellungen noch Ideen
sein sollen. (S. 26). Ebenso wenig kann es ihr gelingen,
den Widerspruch aufzulösen, der darin liegt, daß der Geist,
bei dessen Tätigkeit es sich um „das Kantische Apriori
des reinen Verstandes" handeln soll, (S. 58), eine unschöpferische
, spaltende und tötende Kraft wäre, während
doch zugegeben werden muß, daß ohne seine Mitwirkung
nichts von Kultur geschaffen wird. Sie kann
doch nicht bestreiten, daß die ganze Klages'sche Philosophie
eine Schöpfung eben dieses verfehmten Geistes
ist. Aber sie hat sich eine andere Aufgabe gestellt, nämlich
„die Verwandtschaft in der Auffassung vom Leben
bei Adolf Hitler umd Ludwig Klages" nachzuweisen,
— allerdings nur „bis zu einem gewissen Punkte" (S.
102). Dabei liegt es indes ihrer Arbeit „völlig fern,
durch irgendwelche Kunstgriffe Kl. in einen Nationalsozialisten
umgießen zu wollen und dadurch das Publikum
zwiefach zu täuschen, einmal über die Lehren des
Nationalsozialismus und zum andern über den Gehalt der
Klages'sehen Philosophie" (S. 117). Allein indem sie dle
Verwandtschaft zwischen beiden hervorhebt, wenn sie z.
B. durchaus richtig darauf hinweist, „wie sehr Klages'
Seelenlehre der nationalsozialistischen Auffassung von
der Bedeutung des Blutes nahesteht" (S. 60), andererseits
jedoch über den totalen Gegensatz seiner Bewertung
der Technik zu der nationalsozialistischen schweigt,
rückt sie Klages näher an Hitler heran, als es sich mit
wissenschaftlicher Objektivität verträgt. Am weitesten
entfernt sie sich von dieser durch ihre Behauptung am
Schluß: „Und so ist Klages — — entgegen seiner eigenen
Überzeugung von sich selber dennoch kein Pessimist
, obwohl ein extremer Geistesfeind; denn er glaubt
an die A'lacht des Lebens, und nur logisch betrachtet ist
für Kl. der Untergang des Lebens am Geiste unabwendbar
". (S. 104) Durch die darin zu Tage tretende Einstellung
setzt sie sich dem Verdacht aus, als ob sie eine
Umdeutung anstatt einer Auslegung von Klages' Philosophie
böte, den ich im Allgemeinen für unberechtigt halten
möchte.

Qöttingen E. Rolffs

Dietrich, Rudolf: Die Ethik Wilhelm Diltheys. Düsseldorf:
L. Schwann 1937. (168 S.) 8° = Abhandlungen aus Ethik und iMoral.
Hrsg. v. Prof. Dr. F. Tillmann. 13. Bd. RM 3.60.

Die Abhandlung geht von der Beobachtung aus,
daß die Ethik in der stark angewachsenen Literatur über
Dilthey bisher merkwürdigerweise unbearbeitet geblieben
sei, und unternimmt es, diese Lücke zu schließen.
Die Darstellung beginnt mit einem kurzen Umriß der
allgemeinen Grundzüge der Diltheyschen Philosophie,
soweit sie für das folgende wichtig werden. Sie entwickelt
sodann in einem ersten (kürzeren) Hauptteil
Diltheys Begriff der Ethik im allgemeinen und verfolgt
in einem zweiten (wesentlich ausführlicheren) Hauptteil
sodann den konkreten Aufbau der Ethik in die
verschiedenen Einzelfragen hinein.

Der Verfasser sieht das Entscheidende in der Diltheyschen
Ethik in der Überwindung des Kantischen Formalismus
mit Hilfe des aus der historischen Methode entwickelten
hermeneutischen Prinzips. Dilthey sei sich mit
Kant einig im Ausgang vom Sollen als dem ethischen
Grundphänomen, das die Analyse des moralischen Be-

i wußtseins vorfindet, aber er überwinde die Enge des
| Kantischen Formalismus durch einen doppelten Fort-
I gang: Das eine ist die vollere Bestimmung des sittlichen
Subjekts, wie sie sich mit Hilfe der Ergebmisse der „be-
J schreibenden und zergliedernden Psychologie" ergibt.
I Insbesondere handelt es sich bei Dilthey um „eine viel
ernstere Haltung gegenüber der individuellen Existenz
i des Menschen" (S. 39). Das andre ist die stärkere
j Berücksichtigung der bestimmten Situation, in der sich
i das sittliche Handeln bewegt, so wie sie sich aus der
Zergliederung der geschichtlichen Welt ergibt und wie
i sie dann zu einer Untersuchung des Reichs absoluter
Werte hinüberführt. So handle es sich um Dilthey um
einen „doppelten Durchbrach durch den Kantischen Formalismus
: das Sollen, von einer allseitigen selbstbewußten
Persönlichkeit erfaßt, als Weg zu dem Reichtum
wirklichkeitsnaher Werte" (S. 38).

Die Durchführung dieses Ansatzes zu einem durchgeführten
System der Ethik führt dann allerdings bald
vor die eigentümliche Schwierigkeit, daß Dilthey die
Ethik, die ihm in seinen früheren Jahren stark im Mittelpunkt
seiner Gedanken gestanden hatte, in den späteren
Jahren seiner ausgereiften Philosophie nicht mehr zusammenhängend
behandelt hat. Daher unternimmt es der
Verfasser, durch Zusammennähme der an verschiedenen
I Stellen gefallenen Äußerungen und durch vorsichtige Ergänzung
und Deutung das Bild dieser Ethik zu rekonstruieren
. Aber so behutsam er dabei auch zu Werke
geht, so macht sich doch bald die innere Fragwürdigkeit
dieses Unternehmens geltend. Es fällt auf, daß die
Durchführung der ethischen Einzelfragen sich irumer
wieder nach ein paar allgemeinen Grundzügen von
Dilthey löst, um mit Zuhilfenahme andrer Philosophen
zu Ende geführt zu werden. Immer wieder und grade
an entscheidenden Stellen wird Spranger herangezogen,
um Glieder auszufüllen, die sich bei Dilthey nicht belegen
ließen. Aber so eng auch die philosophische Nähe
zwischen Dilthey und Spranger sein mag: Spraugers
Leistung wird ganz gewiß nicht dadurch geschmälert,
daß man ihn als Quelle für die Diltheysche Ethik ablehnen
muß, zumal er grade bei den strittigen Fragen
(etwa dem Verhältnis zur Wertethik) wesentlich näher
am Neukantianismus steht als Dilthey selbst. Noch
schwieriger aber wird es, wenn sogar die doch sehr
andersartige „Ethik" Nioolai Hartmanns bei wesentlichen
Gedanken herangezogen wird, und zwar auch diese
nicht nur zum Vergleich, sondern um ihr Glieder des
! wirklichen Aufbaus zu entnehmen.

Aber auch die Belege aus Dilthey selbst sind mit
! Zurückhaltung aufzunehmen. Im grundlegenden Teil sind
sie im wesentlichen aus den Untersuchungen zur Struk-
j turps) chologie auf der einen Seite und zum Aufbau
J der geschichtlichen Welt auf der andern Seite eutnom-
[ men, also aus einer ethisch noch im wesentlichen indif-
i ferenten Sphäre, und erhalten ihre ethische Zuspitzung
erst aus den Überlegungen des Verfassers und die schon
j genannten Fortbildungen andrer Denker. In den ethi-
I sehen Einzelfragen dagegen baut sich die Darstellung
fast ganz aus Äußerungen auf, die im Zusammenhang der
j historischen Darstellung bestimmter ethischer Haltungen
' getan sind, vor allem des germanischen Heldenzeitalters
I oder auch der Schleiermacherschen Ethik. Aber so wenig
J die Darstellung Diltheys ohne Zuhilfenahme solcher
I Äußerungen möglich ist, so wenig kann man doch aus
j ihnen allein, ohne Wissen von Diltheys eigner di-
| rekter Stellungnahme größere Zusammenhänge aufbauen,
I wobei zugleich wiederum einschränkend zu beachten ist,
j daß der größte Teil dieser Äußerungen der Dilthey-
i sehen Frühzeit entstammt und darum grade zur Frage
j der Entwicklung der Ethik in seiner reifen Philosophie
'] wenig beiträgt.

So schmilzt bei genauerer Überprüfung der von
Dilthey selbst herrührende Teil dieser Ethik immer
mehr zusammen. Und das ist gewiß kein Zufall, sondern
führt jetzt erst vor die entscheidende Frage nach dem