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Ausgabe:

1941

Spalte:

69-72

Autor/Hrsg.:

Ratschow, Carl Heinz

Titel/Untertitel:

Unmittelbarkeit und Sinndeutung 1941

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Theologische Literaturzeitung 1941 Nr. 3/4

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und läßt sich die Frage „Kirche und Kultur", „Die Kir- doch der einer Unklarheit der entscheidenden Gedanken

che und die Unkirchlichen" aufs Neue schwer machen, j und Begriffe, kraft deren das Buch trotz allem unserer

Zugleich aber ist man im Ganzen und Einzelnen ständig ! Kirche in der gegenwärtigen Lage schwerlich voran-

zum Widerspruche gereizt. Als stärkster Eindruck bleibt helfen kann.

Unmittelbarkeit und Sinndeutung1

Von C H. Ratschow, Göttingen

Die von Glockner und Faust herausgegebenen Auf- i müssen die Richtungen auf das Unmittelbare liegen. An
sätze des Heidelberger Philosophen Rickert sind über- •■ solchem Unmittelbaren erkennt dann Rickert die eigenit-
rasehend dadurch, daß sie nicht eigentlich eine Ausge- [ lieh sinnlich wahrnehmbaren Zustände und die an ihnen
staltung des Systems der Philosophie geben, wie der : nur „verstellbaren" unsinnlichen Bedeutungen. Die AufUntertitel
sagt, soudern viel eher den Grun d legun- i nähme der unsinnlichen Bedeutungen, die solche Untergen
für eine solche Ausgestaltung nachgehen. Die Fra- ! suchung des Unmittelbaren bringt, geschieht nicht durch
gen des Anfangs der Philosophie sind es, die Rickert in ; die Wahrnehmung, soudern durch ein „Erlebnis" (S. 79
diesen Aufsätzen, die fast alle früher im Logos erschie- j u. 81), durch „Intuitionen". Rickert nennt diese Bcdeu-
nen, beschäftigen. — tungen „verstehbar", was sie nicht — jedenfalls nicht
Der erste Aufsatz über „die Welt der Erfahrung" nur — intellektualistisch einengen will, was eben auch
(S. 1—8) bringt in kurzer Fassung die Ergebnisse, denen I so aufzufassen ist, wie main die Ganzheit eines Kunst-
die anderen Aufsätze zustreben, daß nämlich der Be- ! werks versteht. Dies Unsinnliche also Verstehbare wird
reich der Erfahrung nicht im sinnlich oder psychisch Er- j von Rickert das Intelligible genannt. So universal das
fahrbaren aufgeht, "sondern daß daneben das Unsinnliche : Sinnliche ist in seiner ErstreckUng auf alles durch die
an den Gegenständen der Erfahrung aufgefaßt wird: Anschauung Gegebene, so universal ist das Intelligible,

Die Welt der Bedeutungen und Sinngebilde. Der von
Rickert hier aufgezeigte Dualismus von Sinnlichem und
Unsinnlichem wird sodann in der Folge der übrigen
Aufsätze in genau aufbauender Methodik erarbeitet und
geklärt.

In drei großen Kreisen oder Richtungen vollzieht
Rickert diesen Aufbau. Erstes und immer wieder bedachtes
Anliegen ist es dabei: als Arbeitsgebiet der Philosophie
auch wirklich die Totalität der Welt zu erfassen.
Ein System der Philosophie hat einen universalen Charakter
zu tragen. Sie ist nicht Logik, nicht Erkenutnis-

zu dem das Sittliche an einer Handlung ebenso gehört
wie der ästhetische Gehalt eines Kunstwerks, der theoretische
Wert einer wissenschaftlichen Leistung. Das Intelligible
ist es, auf das wir hinweisen, „wenn wir davon
reden, daß der Wind uns lau umschmeichelt, die Quelle
lieblich murmelt" usf. (S. 92). Es gibt schlechterdings keine
Lage, „die völlig frei von Intelligiblem ist". „Nur das in
jeder Hinsicht Bedeutungslose ist rein sinnlich" (S. 93).

Der letzte Aufsatz des Buches: „Die Erkenntnis der
intelligibeln Welt und das Problem der Metaphvsik"
(S. 97—185) geht in zwei Teilen der Erfassung des In-

theorie nicht Ästhetik, sie ist dies alles — aber noch viel telligibeln weiter nach. Dabei weist Rickert die piaton i
mehr; zumal sie ist in allen diesen Teilgebieten immer | sehe Verteilung des Intelligibeln (Noetischen) und des
dies Eine: Richtung auf die Universalität eines Systems [ Sinnlichen (Aisthetischen) auf eine Vorder- und Hinter-
der „Weltwissenschaft" (S. 17). Dieser Zielpunkt zwingt | Welt ab, da sich ontologische Konsequenzen daraus er-
Rickert bei der Frage nach dem „Anfang der Philoso- i geben müssen, die das Aisthetische verunwirklichen und
pbie" (S. 9—50), der ebenso voraussetzungslos wie ge- ; entwerten. Die danach vollzogene Abwehr der „psycho-
wiß sein muß, zur Suche nach einem „universalen Mini- i logischen Verfälschung des Intelligibeln" führt Rickert
in um". Die Findung desselben zwingt ihn zu recht ( zu der wichtigen Feststellung, daß das Intelligible eingroßen
Abstraktionen, die von der gegebenen Subjekt- mal der Zeit entnommen und zweitens überindividuell
Objekt-Spaltung einerseits nur das „reine Ich" als das allgemein ist. Dies Intelligible, das „Gesicht" und
„Ich Moment", das nicht mehr objektivierbar das „All- ; „Sprache" der wahrgenommenen Welt jenseits der sinngemeine
" jedes Ich darstellt, andererseits vom gegebe- , liehen Wahrnehmung ist, ist der „Sinn" der sinnlichen
nen Gegenstand nur das universale Moment des „Nicht- Welt, am Einzelding das inhaltlich bestimmte Sinnelelch
" als des objektmöglichen „rein anschaulich gegebe- ; ment, am geformten Ganzen das formbestimmte Sinn-
nen Inhaltes" übrigläßt. Dies beides macht die Ich-Welt ■ gebilde, woran Rickert nur nebenbei den Grundsatz, daß
des Anfanges aus.° Sie ist in jeder denkbaren Richtung ; das Ganze unableitbar mehr ist als die Summe der Teile,
fähig, mit Inhalten erfüllt zu werden, und gerade ihre demonstriert. Jedes Gegebene so nach seinem Intelli-
Leerheit als die Verfaßtheit des „universalen Minimums" ; gibeln befragen, heißt es nach seinem Siiinzusammenhang
gibt die Gewähr, daß sie sich geeignet erweist als An- befragen und zwar jede Ganzheit nach ihrem Sinnge-
fang eines Weges, der zum „universalen Maximum" bilde als Form. Die Form aber, „die aus den zuständ-
füihren soll. ■ liehen Siimelementen gegenständliche Sinngebilde macht,
Der folgende Aufsatz: „Die Methode der Philoso- i muß . . . dem Charakter des Wertes tragen d. h. eine
phie und das Unmittelbare" (S. 51—96) nimmt zu je- Wertform sein" (S. 168). Ein theoretisches Sinngebilde
nen philosophischen Richtungen Stellung, die zu Ungun- ist entweder wahr oder falsch. Ein ästhetisches Sinngesten
einer logisch begrifflichen Methodik alles der Schau bilde ist entweder schön oder häßlich. Die oben hervor-
oder der Unmittelbarkeit des Erlebens zusprechen, gehobene Richtung der Philosophie Rickerts auf Uni-
Rickert weist die Möglichkeit ab, daß Philosophie als versalität, läßt ihn von hier aus den Weg auf ein Sy-
reiner Intuitioiiismus bestehen könne, da es „unmittel- | stem aller Wertformen' nehmen, das im letzten Punkt
bare und zugleich übertragbare Erkenntnis des Un- ! auf die Erkenntnis des Sinngebildes oder der Wertform
mittelbaren" nicht gäbe (S. 57). Die Wissenschaft kann ausgeht, die den grundlegenden Dualismus der Welt
es nur mit zuständliehen d. i. identisch feststellbaren des Sinnlichen und Unsinnlichen überspannt. —
Dingen zu tun haben. Zugleich geht Rickert selbst in Das in diesen Aufsätzen in kurzen Strichen darge-
der Richtung auf das Unmittelbare zu, das er als den legte Werk Rickerts ist ausgezeichnet vor allem durch
„Zustand" dem „Gegenstand" gegenüberstellt, weil der seine unbestechlich saubere Begriffsbildung, die im tek-
üegenstand bereits inhaltliche Färbung des vermittelten tonischen Aufbau des Ganzen Schritt für Schritt ohne
Erlebens trage. In solcher vorgegenständlichen Sphäre Sprünge zu sichern weiß. Nach zwei Seiten hin ist aber noch
i) Rickert, Heinrich h Unmittelbarkeit und Sinndeutung. d;er besondere Wert dieser philosophischen Grundlegung
Aufsätze zur Ausgestaltung des Systems der Philosophie. Tübingen: J.C. j ™r ' heo logisch es Denken hervorzuheben. Erstens:
B.jwohr 1939. (xvin, 185 s.) gr. 8°-= Heidelb. Ahhandi. z. Philosophie Rickertsches Denken unternimmt keine metaphysischen
ii. ihrer Geschichte. 28. RM8-. Grenzüberschreitungen, und kann so dem Denken jeder