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Ausgabe:

1941

Spalte:

8-10

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kienle, Richard von

Titel/Untertitel:

Germanische Gemeinschaftsformen 1941

Rezensent:

Baetke, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1941 Nr. 1/2

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des religiösen Seins erblickt. Das religiöse Sein ist
ein Seinsfeld eigener Art in der realen Welt. Man kann
es sogar genauer lokalisieren. Es bildet eine Stufe in
der Schicht des geistigen Seins. Der angemessene Zugang
zu ihm ist daher nur durch eine spezielle Kate-
gorialanalyse gewährleistet. Wie diese Arbeit zu verlaufen
hat, möchte ich hier programmatisch, wenn auch
aus begreiflichen Gründen ganz rhapsodisch, an folgenden
Punkten zeigen: 1) Die religionsphilosophischen
und systematisch-theologischen Errungenschaften der Vergangenheit
sind zu durchmustern auf ihre Modalitätskategorien
hin. Der Begriff der religiösen Wirklichkeit
ist dabei vor allem zu durchleuchten.

2) Die Vorurteile zu Gunsten des religiösen Seins
sind ans Licht zu heben. Hier kommen in erster Linie
die kategoriale Grenzüberschreitung im Sinne der Verallgemeinerung
religiöser Kategorien (Pantheismus), der
religiös-kategoriale Teleologismus (schlechthinnige Abhängigkeit
von „Gott"), der aufs engste mit einem reli-
giös-kategorialen Normativismus (das religiöse Sein ist
das Wertvollste auf der Welt) zusammenhängt und endlich
der religiös-kategoriale Dualismus (Gott und Welt
sind auseinandergerissen: „Gott ist im Himmel und ich
bin auf der Erde"). Offenbar lassen sich noch weitere
abbauwürdige Vorurteile beim Eindringen in die Religion
sg es ch i c 1 it e antreffen.

3) Nachdem diese Vorarbeit geleistet ist, kann man
sich daran machen, das religiöse Sein zu erfassen. Offensichtlich
ist Religion nie etwas für sich allein Dastehendes
. Sie setzt immer bereits Gemeinschaft, Recht, Sitte,
Wissenschaft, Kunst voraus. Offenbar ist das religiöse
Sein das bis jetzt für uns „höchste" Sein (im ontologi-
schen, nicht im axiologischen Sinne), das wir kennen.
Daher ist es aber auch das schwächste, das demnach
von stärkerem Sein unter ihm getragen wird (Kategoria-
les Grundgesetz oder das Gesetz der Stärke!), wobei für
die Eigenbestimmtheit des religiösen Seins gegenüber
den tragenden Stufen niederen Seins Raum bleibt (Gesetz
der Freiheit). Das aber bedeutet, daß im religiösen
Sein gemeinschaftbildende, rechtliche, sittliche und ästhetische
Kategorien „wiederkehren", ohne doch das Novtun
in ihm auszumachen. Religion ist daher „auch" völkisch,
„auch" rechtlich, „auch" sittlich, „auch" künstlerisch.
Sie ist alles dies und doch mehr, nicht die Summe der
Teile, sondern Totalität sui generis. Aber ihr Novuin
kann nicht ohne die spezielle kategoriale Analyse von
Gemeinschaft, Recht, Sitte, Kunst erfaßt werden. In der
religionswissenschaftlichen Forschung der Zukunft wird
daher — soviel ist jetzt schon abzusehen — die philosophisch
eindringende Systematik mit der streng histo-
risch-geriehteten Religions- und Glaubensgeschichte um
der Sache willen ein sehr enges Bündnis eingehen müssen
. Denn „es ist nemlich in der menschlichen Seele
ein nothwendiges Interesse für alles, was auf Religion
Bezug hat" (J. G. Fichte, S.W., hgg. von J. H. Fichte,
V 163).

4) Die große Frage der Kategorialanalyse des religiösen
Seins wird diejenige nach dem kategorialen No-
vum in der religiösen Seinsstufe sein. Es geht darum,
die Grundkategorie oder die Grundkategorien des Religiösen
zu finden. Als die Grundkategorie des religiösen
Seins erschließt sich uns die Offenbarung. Offenbarung
ist immer Offenbarung von etwas, d. h. Offenbarung
von Seiendem an Bewußtsein. Dies Etwas ist das Sich-
offenbarende. Sein Sein ist das Offenbarungssein. Es ist
nicht Offenbarsein, sondern das sich offenbarende Sein
oder das Offenbarungssein. Als solches Offenbarungssein
ist es Tun, Handlung, Geschehen. Tun, Handlung
und Geschehen sind auf Bewußtsein gerichtet. In ihm
kommen sie zur Auswirkung, sie enden gleichsam in
ihm. Im Bewußtsein ist das Sichoffenbarende oder das
offenbarungsvolle Sein Offenbarsein geworden. Aus Tun,
Handlung und Geschehen ist Tat, Werk und Geschehnis
geworden. Das Bewußtsein erfaßt die Offenbarung von
Ansichseiendem als Offenbarsein. In ihm verwandelt sich

die Dynamik der Offenbarung in die Statik des Offenbarseins
. Das Bewußtsein „verständigt" Tun in Tat,
i Handlung in Werk, Geschehen in Geschehnis. Das ist
! der Sinn von „Verstand", so gefaßt z. B. von J. G. Fichte
(S.W., hgg. von J. H. Fichte, I 233). In das Bewußtsein
dringt das sich offenbarende Sein und kommt in ihm
i zum Stehen. Das Bewußtsein „erlebt" Offenbarung von
! Ansichseiendem und „erfaßt" sie als „Offenbarsein".
! Dies Verständigen von Offenbarung in Offenbarsein
j (vom Tun in Tat) ist das Phänomen von offenbarseien-
I der Offenbarung eines Ansiehseienden, das sich offen-
j bart. Offenbarung ist im Bewußtsein als Offenbarsein
I ein realer Akt (d. h. Actum = das Gebändelte oder die
| Tat, das Werk, das Geschehnis), d. h. er ist zeitlich-
j ephemer im Sinne von hier und jetzt und individuell im
! Sinne von nur so und nicht anders. Die bewußtseims-
mäßigen Aspekte an der Kategorie der Offenbarung
sind die kategorialen Momente des Erlebens und des Dabeiseins
- Offenbarung kann nur ich selber in der Kontinuität
meiner persönlich-bewußten Lebensspanne erleben
. Niemand kann sie mir abnehmen, sie für mich
j erleben. An Offenbarung glauben ist daher das Gegen-
teil von „Offenbarung erleben" und d. h. das Gegenteil
: von Offenbarung selber. Denn im Glauben an Offenba-
i rung wird nur Offenbarsein erfaßt, nicht aber mehr
j Offenbarung. Nur im Erleben ist Offenbarung „erleb-
j bar". Daß sie dann als Offenbarsein gefaßt wird, ändert
j nichts an dem Geschehen von Offenbarung im Erleben
! des Menschen selber. Diese Überlegung ist von gruiul-
! stürzender Wirkung. Sie besagt nämlich nichts Gerin-
| geres als dies, daß Offenbarung immer die jemeinige
| ist. Ob sich Ansichseiendes anderswo geoffenbart hat,
kann ich nur glauben, ich glaube aber dann nicht an
| Offenbarung, sondern bloß an das Offenbar sein von
j Offenbarung. Das besagt, auf das Christusfaiktum ange-
! wandt, dies: Ob in Jesus sich Ansichseiendes als das sich
j Offenbarende (der Glaube sagt populär „Gott") ge-
| offenbart hat, ist mir gänzlich verborgen. Ich kann
historisch nur Offenbarsein, genauer: nur Behauptungen
j von Offenbarsein herausheben. Offenbarsein ist die
| Folge, Offenbarung wäre der Grund. Aber der Schluß
von der Folge auf den Grund ist ein Sprung. Er kann
i ins Ziel treffen, aber dieses auch verfehlen.2

2) Eine umfassende Darstellung dieser Zusammenhänge verbietet
der Raummangel. Ich hoffe, sie in absehbarer Zeit als Phänomenologie
der Offenbarung im Rahmen einer Ontologie des religiösen
Seins vorlegen zu können.

RELIGIONS WISSENSCHAFT

Ki etile, Richard von: Germanische Gemeinschaftsformen. Stuttgart
: W. Kohlhammer 1939. (IX, 325 S.) gr. 8° = Deutsches Ahnenerbe
, hrsg. v. d. Forsch.- u. Lehrgem. „Das Ahnenerbe", Reihe B: Fach-
wiss. Untersuch., Abt.: Arbeiten z. Germanenkunde Bd. 4. RM 7.50.

Diese im Rahmen der fachwissenschaftlichen Untersuchungen
des „Deutschen Ahnenerbes" in der Abteilung
„Germanenkunde" herausgekommene Arbeit geht
in der Auffassung der germanischen Gemeinschaftsformen
vielfach eigene Wege. Es ist zunächst Aufgabe der
rechtshistorischen Kritik, sich mit ihr auseinanderzusetzen
. Aber die Untersuchung greift über das rcclits-
und verfassungsgeschichtliche Gebiet hinaus. Der Verf.
bezeichnet es selbst als sein besonderes Anliegen, die
starke religiöse Gebundenheit der germanischen Gemeinschaftsformen
herauszustellen; und insofern verdient
das Buch auch von der Religionswissens'jhaft
stärkste Beachtung. Die Untersuchung bewegt sich,
wie es im Vorwort heißt, „auf der schmalen Scheide,
welche zwischen dem rechtlichen und dem religiösen
Bezirk innerhalb des germanischen Raumes besteht".
Von dieser Scheide übersieht der Verf. beide Gebiete mit
klarem und konstruktivem Blick, der ihm gestattet,
die politisch-rechtlichen Formen bestimmten religiösen