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Ausgabe:

1941

Spalte:

207-209

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Nohl, Herman

Titel/Untertitel:

Die sittlichen Grunderfahrungen 1941

Rezensent:

Wünsch, Georg

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Theologische Literaturzeitung 1941 Nr. 7/8

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den Pastoraten Wolde (auf Ösel) und Rauge (Livland)
beansprucht noch ziemlich viel Raum; dagegen sind der
Pfarrerarbeit in Reval, die den bedeutendsten Teil der
Lebensarbeit bildet, einschließlich der bolschewistischen
Revolution nur knapp 100 S. gewidmet. Dies Mißverhältnis
ist durch äußere Umstände zu erklären; der
interessierte Leser wird nicht den 1. Teil zu lang, sondern
den zweiten viel zu kurz finden. Der Wert des
Ganzen liegt, so gewiß manche Stücke der Jugendzeit
(Gymnasium Gütersloh, Studentenleben im Wingolf) Beachtung
fordern, doch vor allem in den eingehenden Erzählungen
aus dem baltischen Land, hier wiederum in
der Schilderung des kirchlichen, theologischen, religiösen
Lebens jener Jahrzehnte. Dabei ist auf den schweren
Abschluß der Lebensarbeit in dem bolschewistischen
Umsturz gar nicht einmal besonderer Nachdruck gelegt.
Wir erhalten ein, zwar vom persönlichen Erleben aus
gesehenes, aber doch die allgemeinen Gesichtspunkte
keineswegs außer Acht lassendes Gesamtbild deutschbaltischen
kirchlichen Lebens. Das Vorwort hat ganz
Recht; gerade jetzt gewinnen diese Lebenserinnerungen
besonderen Wert „als Dokument aus einer nunmehr
abgeschlossenen Geschichte deutscher Treue und deutschen
Schaffens auch außerhalb des Vaterlandes". Daß
überall die Persönlichkeit des Verfassers, als eines lutherischen
Pastors in ihrer sehr markanten Prägung
heraustritt, nimmt dem Geschichtsbild nichts von seiner
Bedeutung; dieser Typus des baltischen Pfarrers hat geschichtliche
Gültigkeit erhalten, auch mit seinen Besonderheiten
, auch mit seiner pastoral-theologischen Eigenart
, auch mit seiner ganz in einer früheren Zeit wurzelnden
theologischen Bestimmtheit. Das Buch ist in
Papier wie Druck gut ausgestattet; es liest sich glatt;
es ist bei aller Ausführlichkeit der ersten Teile doch
nicht wortreich, nur einläßlich-anschaulich. Daß ihm weder
ein Inhaltsverzeichnis noch ein Namenregister beigegeben
sind, empfindet man schmerzlich; wie sehr
durch solche Beigaben die Benutzung eines derartigen
Buchs erleichtert wird, ist leider immer noch nicht allgemein
erkannt. Wir freuen uns, daß die Herausgabe
in einem umfangreichen, aber handlichen Band möglich
geworden ist.

Sibyllcnort M. Schian

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Nohl, Hermann: Die sittlichen Grunderfahrungen. Eine Einführung
in die Ethik. Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke 1939. (200 S.)
gr. 8°. RM 8.50.

Das Buch will eine „Einführung" geben, enthält aber
tatsächlich den gesamten Umfang einer Ethik, allerdings
in knapper Form. Das Gesamtgebiet des Sittlichen wird
als systematische Einheit mit Einschluß seiner Grenze
in seinen wichtigsten Problemen dargestellt. Die Kürze
ist in mancher Hinsicht ein praktischer Vorzug, aber unausbleiblich
, an der Sache gemessen, zugleich ein Nachteil
. Denn manches Problem kann so nur skizzenhaft gestreift
werden, sodaß ein Weiterfragen keine Antwort
findet. Wenn es freilich den Leser anregt, seine Wißbegierde
auf anderen Wegen weiter zu befriedigen, so
wandelt sich die Kürze auch in dieser Hinsicht zum
Vorteil.

Schon die Einleitung ist ausgezeichnet dadurch, daß
sie alle heute wesentlichen Seiten des Problems einer
Wissenschaft vom Sittlichen zur Geltung bringt und so
die ethische Arbeit ins Leben hineinstellt. Sie rechtfertigt
die einzuschlagende Methode, die weder beim psychologischen
Befund stehen bleiben, noch aus apriorischen
Vermögen schöpfen soll, sondern darin besteht,
die Struktur des sittlichen Bewußtseins aufzudecken. Die
Besinnung auf die „sittlichen Grunderfahrumgen" und
ihre Klärung ist der Weg zur Erkenntnis des sittlichen
Phänomens. Das ist phänomenologische Methode, bei
der dann auch die psychologischen und apriorischen

! Quellen wieder zu ihrem Recht kommen, wie der Verf.
sich ebenso an dem von Plato vorgegebenen „Schich-

I tenaufbau der Seele" wie an Kamt vornehmlich orientiert
, darüber hinaus aber auch andere geschichtliche
Erkenntnisse des Sittlichen da und dort zur Geltung

j bringt. Das Werk zeigt überhaupt eine umfassende
Kenntnis von dem, was schon über die Sache gesaigt
worden ist.

Der Gedankengang ist folgender: Zunächst werden
die inhaltlichen Prinzipien der Sittlichkeit dargestellt
in der Stufenfolge der „Schichten" von der Lust
I über die Aktivität des Willens und das Seelisch-Schöpferische
zu den Prinzipien der geistigen Schicht: Wahr-
I haftigkeit, Treue und Gerechtigkeit. Jede dieser Schichten
hat ihre Grenze und weist über sich hinaus zur
I nächsthöheren. Der sittliche Inhalt seinerseits führt zur
Frage nach seiner Verwirklichung oder vielmehr zur Fra-
j ge danach, warum das Gute so oft nicht geschieht. Das
| gibt die Veranlassung, die Lehre Kants vom „guten
I Willen", vom Sollen, von Gesetz und Freiheit darzustellen
. Der gute Wille aber vermag eine wichtige und
unaufhebliche Not des sittlichen Lebens nicht aufzuhe-
I ben: den Konflikt der Pflichten. Sehr einsichtig
wird die Grenze der formalen Ethik dargestellt, die
I ihrerseits die Inhalte der vorher gezeichneten Schichten
voraussetzt und nur durch sie sinnvoll wird. So aber
wird der Konflikt, der im Inhaltlichen liegt, unauflöslich,
außerdem noch dadurch verschärft, daß das Sittliche immer
als individuelle Gestalt, als Persönlichkeit,
als Weltanschauung, als organische Wertordnung auftritt
, die sich notwendig andern Gestalten entgegensetzt.
Für besonders verdienstvoll halte ich es, daß, im Gegensatz
zu andern Darstellungen, auch der Gestaltwandel
des Sittlichen im Verlauf der Geschichte beachtet
wird. Im Anschluß daran wird auf den sittlichen Geist
der Gemeinschaften verwiesen, also eine Sozial-
| ethik dargestellt (der dürftigste Teil des Buches). Schließ-
j lieh hat alle Ethik ihre Grenze im Versagen und in dem
I Mangel einer absoluten Richtlinie in den Kämpfen des
sittlichen Lebens. Wie auch schon an andern Stellen,
so wird besonders hier auf die Bedeutung der Religion
verwiesen, die zuletzt den Einzelnen den Kämpfen
entnimmt und ihm bei redlichem Bemühen die Erlösung
jenseits der Welt dieser Kämpfe verheißt. Dabei wird
nicht versäumt, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit
des Sittlichen gegenüber der Religion festzustellen. In
sehr problematischer Weise wird die Transzendenz als
„nur ein Symbol für die in Sehnsucht ergriffene Realität
des höheren (doch wohl sittlichen) Lebens" bezeichnet
. Problematisch deshalb, weil so offenbar der Sinn
des Religiösen vom Sittlichen abhängig gemacht wird —
wie bei Kant.

Diese Darstellung bekundet einen ausgezeichneten
systematischen Geist und enthält eine Fülle von richtigen
Beobachtungen im Gegensatz zu vielen andern Versuchen
, das Sittliche systematisch zu erfassen. Freilich
gibt sie Ursache zu einer Reihe von kritischen Bemerkungen
, die im Rahmen einer kurzen Rezension nur angedeutet
werden können. Zunächst: Was ist das Wesen des
] Sittlichen? Darauf gibt das Buch keine klare Antwort.
Vieles von dem Beschriebenen ist an sich noch nicht sittlich
, z. B. die „Lust", das Wirken, das Werk, selbst die
I Liebe. Es kann sittlich werden. Was aber ist hiefür die
i Bedingung? Immer, daß es als Gebot eines unbedingten
Willens verstanden wird. Was aber ist das Unbedingte?
Und hier scheiden sich die Geister: in den „Weltanschauungen
". Die heutige sittliche Not ist eine Not der
Weltanschauung, das Nichtwissen um das, was das Unbedingte
inhaltlich ist. Im Fehlen der Wesensbestimmung
des Sittlichen sehe ich das Fehlen der weltanschaulichen
Problematik bedingt, die in eine lebensnahe Ethik
beute notwendig hineingehört. — So sehr mich der
Hinweis auf die Bedingtheit der sittlichen Gestalt im Individuellen
und Geschichtlichen freut, so muß dieser
Hinweis doch weiterführen zu der Frage: Gibt es nicht