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Ausgabe:

1940

Spalte:

170-172

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fichtner, Horst

Titel/Untertitel:

Hauptfragen der Praktischen Theologie 1940

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 5/6

170

mäßige Berührung zwischen den Kirchen der Balkanländer
(und der Vertretung des ökumenischen Patriarchen)
hergestellt und aus solcher Verbindung ist dann der Kongreß
zu Athen entstanden.

Die wesentlichsten Aufgaben des Kongresses waren
— wenn man die mancherlei Themen auf große Gesichtspunkte
zurückführt — die Selbstbesinnung der orthodoxen
Theologie und ihre Auseinandersetzung mit
anderen Ideen. Dem ersten Zweck dienen die Vorträge
über die Grundprinzipien der Orthodoxie: der Athener
Bratsiotis nennt in diesem Zusammenhang die Inkarnations
- und die Theosis-Lehre und betont dabei den escha-
tologischen und den mystischen Zug seiner Kirche. Sergius
Bulgakoff bringt daneben die russische Stimme zu
Gehör, wenn er die Kirche als den ewigen Grund des
Seins und der Weltschöpfung (im Anschluß an Eph und
Hermas, aber auch an II. Kor. 5,1 und Röm. 8,18!)
darstellt und ihr Wesen als organische Vieleinheit verbunden
in Liebe schildert. Dieses Prinzip des „So-
bornost", des Zusammenwirkens aller Elemente der Kirche
, auch der Laien, wird später von Kartaschoff (dem
Kultusminister Kerenskis) auch bei der Frage der freien
Forschung in der Theologie geltend gemacht, wenn er
bei Streitfällen eine Prüfung durch „das allgemeine Gewissen
der ganzen Kirche" für wesentlich hält. Die Fra-
.ge der Bibelkritik erfährt überhaupt eine sehr vorsichtige
Behandlung durch die Athener Professoren des Alten
und Neuen Testaments (Vellas und Antoniadis). Die
Probleme der „speziellen" Einleitung in das Neue Testament
werden von dem damaligen Hegumen, jetzigen
Archimandrit Cassian (Besobrasoff) geklärt durch eine
Analyse der Prinzipien (Consensus Ecclesiae, äußere
Zeugnisse, daraus entstehend die historische Arbeitshypothese
, die an der Interpretation nachzuprüfen ist). Bei
allem Hervortreten der orthodoxen Schätzung der Tradition
wird doch an diesen Beiträgen die große Nähe zu
der abendländischen Forschung ersichtlich, durch die sich
die Arbeit dieser Theologen auszeichnet; das gilt von der
Frage der „pneumatischen" Exegese wie von der dialektischen
Theologie. Und ist in diesem Fall das Abendland
der gebende Teil, so hört Nikolas von Arseniew aus
neueren Zeugnissen der westlichen Theologie Stimmen
heraus, die dem Orthodoxen vertraut klingen. Er denkt
an die patristischen Einflüsse bei Brunner und Aulen,
an den „athanasianisch-johanneischen Geist" der Ber-
neuchener, an die Inkarnationstheologie der Anglikaner
Wie an die Diskussionen über das Wesen der Kirche.
Die Einflüsse herüber und hinüber werden auch in der
Geschichte verfolgt (vom Erzbischot Chrysostomos von
Athen und den Professoren Dyobouniotis und Flo-
rovsky). Wichtig scheint mir dabei eine Ausführung des
Hussen Florovsky. Er weist jede Amalgamierung der
orthodoxen Tradition mit zeitgenössischer Philosophie
von damals oder heute ab, aber er findet in den Vätern
einen neuen christlichen Hellenismus. Der Kult, die Bilder
, die Lehre der orthodoxen Kirche sei hellenistisch,
und dieser Hellenismus sei nicht eine zeitgenössische
Amalgamierung, sondern ein wesentliches Element. Er
kann darum die Parole ausgeben: „let us be more Greek,
to be truly catholic, to be truly Orthodox".

Unter die Auseinandersetzungen mit der Außenwelt
sind auch die großen Referate zu rechnen, die zu den
Themen Kirche und Kultur, Kirche und Staat, Kirche und
soziale Frage gehalten wurden. Hier sind vor allem die
beiden Vorträge des Kongreß-Präsidenten Alivisatos zum
zweiten und dritten Problem zu nennen, beide biblisch
Und kirchenhistorisch begründet, in der systematischen
Haltung wohl abgewogen, dem Staat gegenüber Loyalität
betonend; auch im Fall der Feindseligkeit eines Staate
* gegen die Kirche bleibt dieser die Pflicht des Gebetes
wie der Erziehung der Bürger zum Gehorsam und
?ur Arbeit für Mitmenschen und soziales Ganzes; nur
Wo jene Feindseligkeit „bis zur Verneinung der christlichen
Prinzipien" geht, sind „Gebet, Geduld una endlich
Martyrium" die^ einzigen Mittel der Kirche- Die orthodoxen
Versuche zur Lösung des Problems „Kirche

! und Staat" werden von Zankow (Sofia) in lehrreicher
Weise kritisiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient
auch das Referat von Zyzykine (Warschau) über die
Orthodoxe Kirche und das Völkerrecht mit seiner schar-
fen Kritik am Völkerbund, dessen religiöser Nihilismus

i — hier im Gegensatz zur Heiligen Allianz betrachtet —
keine solide Garantie des Friedens zustande bringe..
Dies ist nur eine Auswahl aus allem Gebotenen;

1 manche Spezialabhandlungen (wie das Referat von Ghe-
orghiu, Czernowitz, über die Kalenderreform) können
hier nicht näher behandelt werden. Auch von der Kritik,

: die der evangelische Theologe an vielen Aufstellungen zu
üben hätte, sollte hier nicht die Rede sein. Das Gesagte

| wird genügen, die große Leistung des Kongresses ins
Licht zu stellen. Der deutsche Theologe hat vor allem
aus den Selbstdarstellungen der Orthodoxie zu lernen.
Aber er wird auch die Verschiedenheit der nationalen

j Stimmen, die sich hier zum Chor verbinden, mit In-

I teresse heraushören. Man mag z. B. bezweifeln, ob alle
orthodoxen Theologen die — uns „evangelisch" anspre-

| chende — Formulierung des Rumänen Popescu sich zu

I eigen machen: „L'ascese et la mystique sont de belles
fleurs chretiennes, mais on ne saurait reduire le chri-

I stianisme ä elles seules. Les pecheurs et les malades
que l'Eglise veut guerir et sauver se trouvent dans le

[ monde." Alle Redner aber wollen repräsentative ortho-

j doxe Theologie vortragen; selbst Vater Bulgakoff, der
unter den 39 Delegierten wohl am meisten eigene Wege
gelit, hat seine Sophiologie nur in einer Fußnote zur
Geltung gebracht, den repräsentativen Charakter seiner
Ausführungen aber ausdrücklich betont. Außer jenen

; 39 waren auch „Observateurs" zugelassen, von Deutschland
Hans Koch und der Archäologe Hermann Thiersch.

| Die Kongreßsprachen — ein großes Problem für die
Orthodoxie, der die eine Kirchensprache fehlt—, waren
deutsch, französisch, englisch; bei den feierlichen Er-

] öffnungs- und Tischreden kamen noch griechisch und

I russisch hinzu. Alles dies erfährt man aus dem stattlichen
Bande; auch er, gewiß nicht ohne Mühe zustande-

J gebracht, ist eine Leistung, nicht unwürdig der großen
und erstmaligen Gelegenheit, deren Gedächtnis er festhält
.

Heidelberg Martin D i b e 1 i u s

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Fichtner, Domprediger Dr. Horst: Die Hauptfragen der Praktischen
Theologie. Wege zur Verwirklichung der biblischen Botschaft
in der Gemeinde der Gegenwart. Schwerin (Mcckl.): Fr. Bahn
[1939]. (176 S.) 8». RM 3.60; geb. RM 4.60.

Man lernt in diesem Buch einen kundigen und eifrigen
Praktiker kennen, der seine Meinung zu den Haupt-

| abteilungen der kirchlichen Praxis auf Grund eigener

| Erfahrung und eigenen Nachdenkens (wie auch zahlrei-

I eher Lesefrüchte) im Stile eines Sammelbuches oder auch
Lexikons sagt. (Mit anderen Meinungen setzt er sich
kaum oder sehr obenhin auseinander.) Der Titel des

j Buches gibt daher nicht die wirkliche Arbeit Fichtners
wieder, vielmehr müßte dieser Titel, dem Inhalt des
Buches entsprechend, lauten: „Meine Gedanken und Vorschläge
zur kirchlichen Praxis." Aber „Hauptfragen der
Praktischen Theologie" darf das Buch auf keinen Fall

I heißen; denn „Praktische Theologie" ist theologische
Theorie der kirchlichen Praxis (nicht einfach
persönliche Stellungnahme, und wäre es auch die eines
Theologen!), und die „Hauptfragen" dieser Pr. Th,

t liegen (trotz Schleiermacher) nicht im Technischen, sondern
im Wissenschaftlich-Grundsätzlichen (sie gehen um
das Thema: Hat die ganze kirchliche Praxis oder jeder
Teil derselben wirklich vor Gott ein Existenzrecht _

( und, im bejahenden Fall, wie muß dann diese Praxis
im einzelnen wie im ganzen beschaffen sein?). Solche
„Hauptfragen" der Pr.Th. berührt aber F. kaum, er