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Ausgabe:

1940

Spalte:

160-161

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Vilmar, August Friedrich Christian

Titel/Untertitel:

Theologisch-kirchliche Aufsätze 1940

Rezensent:

Althaus, Paul

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 5/6

160

Gericht wegen willentlichen Ungehorsams ausgeübt würde
, aber daß Gott in seiner Gnade den Sünder nicht wegen
Sünden verurteilte, von denen er nichts weiß. Jede
Sünde, ob wissentlich oder unwissentlich begangen, würde
ein Grund zur Verdammnis sein, ,wenn Gott jede Ungerechtigkeit
und Sünde genau aufzeichnen wollte'..."
(S. 68 f. vgl. S. 37: „diese Sünden brauchen nicht das
Zeugnis des Heiligen Geistes von der Kündschaft zerstören
, noch schließen sie die äußerste Verdammnis in
sich ein".). Begreiflicherweise empfindet der Vf. hier
einen Unterschied gegenüber der lutherischen Auffassung
; es fällt ihm auf, daß bei Köberle „der Nachdruck
hauptsächlich auf den zerstörenden Wirkungen der Sünde
ruht" (S. 77). Er ist allerdings geneigt, hier (und
sonst) den Unterschied zwischen Luther und Wesley
mehr in der Setzung des Akzents als in der Auffassung
selbst zu erblicken; er bekräftigt diese Bereitschaft mit
dem wiederholten Zugeständnis, daß dem Methodismus
eine vom Luthertum zu erlernende Vertiefung des Sündenverständnisses
gut täte (S. 83. 84). Indes ist er
vielleicht doch den Tatbeständen näher, wenn er mit
Bezug auf die „radikale Lehre von der Unüberwindlichkeit
der menschlichen Sündhaftigkeit" sagt: „Der Methodist
wird dann eher zu den Katholiken gehören als zu
den Protestanten, wenn das die protestantische Lehre
ist" (S. 83).

Der Unterschied, der sich hier zeigt, erscheint ganz
entsprechend in der Lehre vom Wachstum im Glauben
und von der — nach Wesley möglichen — Vollkommenheit
des Christen, also in der Ethik. So
sieht der Vf. den „Hauptunterschied zwischen beiden"
„doch in der Lehre von der Verborgenheit des neuen
Lebens (Köberle) und in der Lehre von seiner Offen-
bartheit (Wesley)" (S. 72). Genau so bezeichnend ist
Wesley's Lehre vom Gesetz. Er sieht im Gesetz „das
unverhüllte Angesicht Gottes" (S. 60); es ist „zur Heiligung
unentbehrlich" (S. 60). Dagegen stellt er an Luther
aus, „. ■ . wie gotteslästerlich er über gute Werke
und das Gesetz Gottes spricht; er verbindet dauernd das
Gesetz mit der Sünde, dem Tod, der Hölle oder dem
Teufel; und er lehrt, daß Christus uns von allen in gleicher
Weise erlöst. Wohingegen aus der Schrift ebensowenig
bewiesen werden kann, daß Christus uns vom Gesetz
Gottes erlöst, als daß er uns von der Frömmigkeit
oder vom Himmel erlöst" (S. 59 f.). — Eine wertvolle
Veranschaulichung dieser Thesen bietet der Vf. durch gelegentliche
Beispiele aus der Geschichte des Methodismus
, insbesondere der methodistischen Predigt. — Wenn
man im Zusammenhang der vorliegenden Schrift den von
Pope stammenden Satz liest: „Die methodistische Lehre
ist die einzige, die beharrlich und kühn die Zerstörung
der fleischlichen Lust oder der angeborenen Sünde uns-
rer gefallenen Natur behauptet" (S. 91), und außerdem
den heutigen englischen Methodismus ein wenig kennt,
so ist man beeindruckt durch die eigentümliche Mischung
von Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes, und
Optimismus in Bezug auf den Menschen, — der sich
überall in der Theologie bemerkbar macht, wo, wie hier,
der common sense und die Erfahrung eine beharrliche
Rolle spielen (vgl. z.B. S. 47; 51. 35!).

Man wird dem Vf. zustimmen, wenn er zwischen Köberle
und dem Luthertum einerseits, Wesley und dem
Methodismus andrerseits zusammenfassend den „Unterschied
zwischen einer vornehmlich auf der Prädesti-
n a t i o n fundierten Theologie und einer vorwiegend
arminianischen Theologie" (S. 83) konstatiert, j
Aber man wird (eben deshalb!) doch zögern, alle Differenzen
auf eine je verschiedne Betonung einer im Grun-
de übereinstimmenden Auffassung von Rechtfertigung j
und Heiligung zurückzuführen.

Bemerkenswert ist noch das an den Abschnitt über
die „Vollkommenen" angeschlossene Kapitel über die
Gemeinschaft. Das Wachsen in der Heiligung erfolgt
nämlich nicht innerhalb der Grenzen des Individuums
. Diese Erkenntnis liegt der Urform der Methodistenkirche
, der „Klasse", zugrund. Eine Klasse ist
nach Wesley „eine Gemeinschaft von Leuten, die die
] Gestalt der Frömmigkeit haben, aber noch ihre Kraft
j suchen; die sich vereinigt haben, um gemeinsam zu be-
i ten, um das Wort der Ermahnung zu empfangen und
sich gegenseitig in der Liebe zu überwachen, so daß sie
i sich untereinander helfen können, ihr eigenes Heil zu
schaffen" (S. 54). Hier findet der Vf. den seiner Auf-
j fassung nach im Luthertum verloren gegangenen Dienst-
Gedanken auf der Grundlage des allgemeinen Pri-ester-
tums verwirklicht. Dabei ist sehr zu beachten, daß Wesley
in der Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschai;C:i
zwar eine ausgezeichnete Möglichkeit sah, die Predigt
durch praktische Anwendung zu ergänzen, nicht aber
eine Bedingung für die Zugehörigkeit zur (wahren)
Kirche (vgl. S. 55. 56f.). Schade, daß der Vf. an dieser
Stelle der Frage nicht nachgeht, ob Wesley's Kirchenbe-
griff mehr von seiner Zugehörigkeit zur anglikanischen
Kirche bestimmt war oder von seiner Theologie. ! )as
wäre desto aufschlußreicher gewesen, als Vf. im heutigen
Luthertum eine Hinwendung zu der — vom Methodismus
in ihrem Wert schon immer erkannten — religiösen
Gemeinschaft feststellt, die er als Rückkehr zu dem
Luther der „Deutschen Messe" anspricht und zugleich
als hoffnungsvolles Anzeichen der Annäherung und Verständigung
zwischen Luthertum und Methodismus begrüßt
(S. 92 ff.).

Das Buch ist nicht zuletzt deshalb lesenswert, weil es
aus einer nicht-deutschen, bzw. nicht-lutherischen kirchlichen
Situation heraus einen Beitrag liefern will zu einem
grundlegend wichtigen theologischen Thema. (Brunuers
Schrift über die üruppenbewegung und P. Althaus'
„Communio Sanctorum" werden wiederholt herangezogen
). Man erhält freilich im wesentlichen Anschauungsmaterial
, vor allem eine Reihe charakteristischer Zitate
(manche Belege aus dem Gesangbuch stammen übrigens
von Charles Wesley, auch wo das nicht besonders angemerkt
ist; ferner hätte der englische Wortlaut der Zitate
wenigstens unter dem Strich beigedruckt werden
dürfen). Der systematische Ertrag ist nicht groß, —
was teilweise mit dem Stoff zusammenhängt: Wesley
war Prediger, nicht Theolog. Überdies erscheinen dem
Vf. manche (theologische und kirchliche) Linien in dem
behandelten Problem der Heiligung einfacher als uns.
Aber als ein Beitrag zum ökumenischen Werk der Kirche
ist das (in flüssiges Deutsch übertragene) Buch mit seiner
sympathischen Offenheit für ein klärendes Gespräch
warm zu begrüßen.
Tübingen A. Stumpff

Vi 1 mar, August Friedrich Christian: Theologisch-Kirchliche Aufsätze
. Zum 70. Todestag Vilmars am 30. Juli 1938 hrsg. von Karl
Ramge. München: Paul Müller [o. J.J. (195 S.) gr. 8°.

RM 4.80; geb. RM 5.80.

Vilmar hat in den 60 er Jahren eine große Reihe von
Artikeln für das „Staats- und Gesellschaftslexikon" von
Hermann Wagener, Berlin 1859—1866 verfaßt: theologische
, germanistische, literaturgeschichtliche, hessisch-
spezialgeschichtliche und volkskundliche. Die germanistischen
und literaturgeschichtlichen Artikel sind schon
1869 (2. Aufl. 1886) gesammelt neu herausgegeben worden
, ebenso die Artikel über Luther, Melanchthon und
Zwingli (dieser letztere war von dem Lexikon nicht aufgenommen
worden). Der vorliegende Band bietet nun
die übrigen theologischen Artikel aus dem Lexikon, dazu
zwei kleine Beiträge zur Volkskunde und Kirchcnge-
schichte Hessens. Neben biographischen Artikeln (Ter-
tullian, Neander, Nitzsch) stenen dogmatische (Heiliger
Geist, Heilsordnung, Heilig), dogmengeschichtliche und
konfessionskundliche (z. B- Evangelische Konfession,
Augsburgische Konfession, Abendmahlsstreit), kirchenrechtliche
(z. B. Hierarchie, Synodal- und Presbytn ial-
verfassung), praktisch-theologische (Kirchenlied), reli-
gionskundliche (Mystik, Theosophie, Aberglaube, Abgötterei
).