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Ausgabe:

1940

Spalte:

102-103

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kittel, Helmuth

Titel/Untertitel:

Religion als Geschichtsmacht 1940

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1940 Nr. 3/4

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unter ihr fremden Gesichtspunkten verstanden werde.
Für diese Männer ist Glaube kein Problem, sondern
Wirklichkeit. Es überwältigt, wie diese tatenreichen
Männer bescheiden in ihrem Werk zurücktreten und in
allem Geschehen und Erreichten die Wege Gottes erkennen
. Das ist ein verloren gegangener deutscher Glaubenszug
. Bei Roon eine stetige Berufung auf Gott, aber
immer sehr ernst gemeint: „Gott gebe, daß . . ., Doch
Hott lebt! . . ., Gott allein kann helfen! . . ., Wie Gott
will . . « In seinem Glauben wird dieser große Mann
wieder Kind. Oft findet sein Gottvertrauen zu biblischem
Ausdruck zurück, besonders wenn er sich aus
grober Enttäuschung erst zurechtfinden muß. Als er
sich zur Entscheidung nach Berlin begibt, nimmt er mit
fast denselben Worten wie Zwingli vor der Schlacht
von Kappel — deutsche Glaubensbegegnung! — Abschied
von seiner Frau: „Aber noch dürfen wir hoffen.
Klage nicht! Geliebte! Der Herr, der die jungen Raben
speist, wird auch Dich und unsere lieben Kinder mit ernähren
. . ." Wie heroisch sein Glaube, als die Söhne
in den Krieg ausrücken: „Als die Söhne auszogen, da
haben wir sie schon weggegeben ganz und gar; kehren
sie einst unverletzt zurück, so sind sie ein neues Geschenk
unseres gnädigen Gottes." Die Abschiedszene,
als der greise Kaiser Wilhelm I. an das Sterbebett seines
getreuen Eckard eilt (in ein Berliner Hotel, drei Treppen
hoch!), gehört zu dem größten Glaubenserlebnis
deutscher Männerfreundschaft. — Ein so starker Glaube
brauchte sich nicht, was wir vielleicht vermissen, inhaltlich
bewußt zu werden; ein so selbstverständlicher
Glaube stand aber auch in Gefahr, in Abhängigkeit zu
geraten. Wir wissen von Bismarck, daß er unter dem
Konventikelwesen um Roon zu leiden hatte! — Darin
liegt auch die Abgrenzung zu heute; es ist fraglich, ob
Glaube und Soldatentum für den wehrhaften Mann von
heute schon damit beantwortet ist. Das religiöse Kriegs-
erlebnis von 1914—18 war abgründiger (cfr. mein Buch:
Deutscher Frontkämpferglaube, 1935, Hirt Verlag)! Dieses
Roonbuch verdient dem Krieger von heute ins Feld
geschickt zu werden, weil es in seiner Darstellung der
eigenen religiösen Entscheidung offen bleibt.

Jena Erwin Lang n er

Sichelschmidt, Hans: Die grenzländische Bedeutung des
Protestantismus im Elsaß. Frankfurt a. M.: Diesterweg 1939. (XIV,
125 S.) gr. 8° = Schrift, d. Wissensch. Instit. d. EIsaß-Lothringer
im Reich a. d. Univ. Frankfurt, N. F. Nr. 22. RM 3.50.

Der Vf. verfolgt das Verhältnis des elsäßischen Protestantismus
(im größern Teile des Landes) in seinem
Verhältnis zu Deutsch und Welsch, nicht durchweg
gleichmäßig, in geschichtlicher Darstellung von der Reformation
an bis zur deutschen Neugewinnung mit Einbeziehung
der politischen und — teilweise ziemlich ausführlich
— auch der kirchlichen Bewegungen. Es liegen
viele Vorarbeiten vor. Der Vf. hat hauptsächlich die
neueste Literatur benützt, aber sie nicht völlig ausgeschöpft
; er hat auch nicht die für seine Aufgabe wichtigen
Schriften alle herangezogen. Nur zwei seien genannt
: die Rede von Anrieh, Deutsche und französische
Kultur im Elsaß, 1916, und das Sammelwerk: Der
Deutsche und das Rheingebiet, 1926. Er hat aber auch,
trotzdem er versichert, das kirchengeschichtliche Material
„aus seiner konfessionellen Verengung" herausgeholt
zu haben, selber sein Thema in zu engem Umkreis
gesehen. Protestantismus ist nicht nur ein „Kirchenwe-
sen" und seine Wirkungen sind nicht nur direkte, auch
stark indirekte, wie z- B. O. Winckelmann für den sozialen
Bereich in seiner Geschichte des Fürsorgewesens
der Stadt Straßburg, 1922, in vorsichtiger Fragestellung
nahelegt. Aber auch tiefer hätte der elsäßische Protestantismus
betrachtet werden sollen. Man muß elsäßische
Eigenart zu erkennen versuchen, um zu verstehen,
wie es nicht zu einem dauernden selbstgefonnten kirchlichen
Bekenntnis gekommen ist und weshalb geistige
Führer von auswärts auch hierbei haben stark bestim-

I mend wirken können (ihre persönliche Chaa-akteristiik
ist übrigens längst richtig gestellt) und auch, wie später
i das Französische sich die elsäßische Bourgeoisie gewon-
j nen hat. Man muß aber auch die Mächtigkeit des
elsäßischen Protestantismus in seiner großen Zeit völliger
erkennen, um zu begreifen, wie sich das Deutschtum
so fest in der Folgezeit bewahrt hat. Es ist gerade für
f ihn wichtig, daß schon frühe alle Volksschichten von
ihm erfaßt worden sind: der große Kämpfer Deutsch-
; lands Hutten ist in Verbindung mit dem Buchdruck der
j Vorkämpfer Luthers in Straßburg; die Gewalt der Gedanken
Luthers tritt kaum zwingender zu Tage, als darin,
| daß Murner sich genötigt sieht, dessen größte theologi-
j sehe Reformationsschrift ins Deutsche zu übertragen;
der Dekan des Domkapitels schreibt sein reformatori-
sches „Kreuzbüchlein"; führende Männer der Stadt sind
alsbald für die neue Bewegung gewonnen, und Kath.
Zell bringt die neuen Kirchenlieder dem arbeitenden Volke
. Wie hätte gerade das evangelische Lied in seiner
Wirkung verfolgt werden sollen! Was der H. Vt. hier
sagt, beschränkt sich auf die Tatsache reicher Dichtung.
„Namen wie Matthias (lies: Matthäus) üreitter (Gr.
selbst schreibt sich Gryter), Wolfgang Dachstein, Zim-
prian (1.: Symphorian Pollio) und andere wären hier
zu nennen." Und was für andere! Das Kirchenlied wird
zum Volksliede; Kirchenlieder entstehen noch im 18/19.
Jahrhundert, auch, unlösbar von ihnen, von Anfang die
Schöpfung von Melodien, und künstlerische Gestaltung
der Gesangbücher hält die Lieder auch mit der Anschauung
fest. Großes leistet der Protestantismus als geistige
Macht auf den verschiedenen Lebensgebieten für Gebildete
wie für das Volk. Man braucht nur an Hedios
Übersetzungen lateinischer Werke ins Deutsche zu denken
, an Picus' von ihm wiederholtes Wort, daß der Tiber
sich in den Rhein ergossen habe; an die Gründung von
Bibliotheken, auch für das Volk; für eine entsprechende
Würdigung der Schulen wäre ebenso der Plan Jakob
Sturms einer protestantischen Gesamtuniversität in Straßburg
charakteristisch wie die Wichtigkeit der Lehrbücher
Melanchthons im Schulbetrieb. Und was bedeutet es für
das elsäßische Haus, daß bis weit in die Gegenwart
auch in ganz französisch eingestellten Familien die Sprache
des Gebetes deutsch geblieben war! Ich muß hier abbrechen
, halte aber schon die angeführten Beispiele für
ausreichend, um erkennen zu lassen, daß eine weitgespannte
und tief grabende Forschung für die große
Grenzlandfrage noch viel gewinnen kann.

Teuhner 1938. (II, 82 S.) gr. 8°. RM 2—.

Kittel, Helmuth: Religion als Geschichtsmacht. Leipzig: B. Q.

Teubner 1938. (II, 82 S.) gr. 8°. RM 2—.

Die vorliegende Studie ist eine Art programmatischer
Schrift im besten Sinne des Worts und verdient weiteste
Beachtung; zeigt sie doch unter Heranziehung eines
sorgfältig ausgewählten Materials, daß gerade im Verlauf
der deutschen Geschichte sich die Religion als geschichtliche
Großmacht ersten Ranges erwiesen hat.
Gleich die Frage hinsichtlich der .Christianisierung der
Germanen' veranlaßt den Verfasser nachdrücklich zu
betonen, wie diese Begegnung mit der christlichen Spät-
antike zur Entstehung einer neuen abendländischen Kultur
von großartiger Schöpfungskraft führte. In den
beiden folgenden Abschnitten über ,Kaiser und Papst'
und ,Das Evangelium deutsch von Martin Luther' wird
eine zusammenfassende Schau jener Epochen deutscher
Geistesgeschichte geboten; ist „der Kampf der Deut-
! sehen für die germanisch-kaiserlichen Gewalten gegen
die römisch-päpstlichen" als ein „Kampf zwischen Rom
I und dem Evangelium" anzusehen, so erfolgte in der
: Reformation der „elementare 'Durchbruch völkischer Ur-
j kräfte". „Das Zeitalter der Konfessionen" aber beginnt
i mit der Verfälschung der Lehre Luthers durch Melanch-
thon . • • und endet mit dem Entzug seiner politischen
j Voraussetzungen durch das Dritte Reich. „Als legitime
I Fortführung von Luthers Werk" darf besonders die